14
Je länger wir auf dem Rockefeller Centre blieben, desto kühler wurde es. Eine leichte Gänsehaut hatte sich schon auf meine Arme gelegt, trotz Jeansjacke, doch ich wollte noch nicht gehen. Neugierig beobachtete ich Jack, der sich vom Geländer abstieß und mit nachdenklichem Blick ein paar Schritte zurücktrat.
„Das Licht ist grad gut, lass uns mal ein Foto machen."
Vorsichtig drehte ich mich in seine Richtung um, fühlte mich gar nicht wohl dabei, dem Abgrund den Rücken zuzuwenden, doch hatte gerade keine andere Wahl. Hinter meinem Rücken waren meine zitternden Hände noch immer ins Geländer der Plattform gekrallt.
„Bleib genauso stehen.", forderte Jack, hob die Kamera an und ging leicht in die Hocke, um die richtige Perspektive zu erwischen. Ich, noch immer total verkrampft am Geländer klammernd, schaute ihn unsicher an und schüttelte nur den Kopf.
„Ich glaub, ich ruiniere nur die Aussicht.", meinte ich und wollte gerade einen Schritt zur Seite machen, als Jack rasch die Hand hob.
„Stütz dich nach hinten mit den Armen auf dem Geländer ab und lächel einfach."
Zweifelnd schaute ich den Mann vor mir an und wollte gerade protestieren, als er plötzlich die Kamera senkte, mich mit sanftem Blick anschaute und sagte: „Bitte, Liv."
Mit einem Mal war das Zittern in meinen Händen und Beinen verschwunden und ich sah Jack überrascht an. Es hatte nicht lange angehalten, aber für einen kurzen Moment war sein Blick beruhigend und sanft gewesen. Fast schon liebevoll. Und er hatte Bitte gesagt. Und mich Liv genannt. Gerade wollte ich ihn damit aufziehen, als plötzlich ein starker Wind von hinten kam und mir die Haare über die Schultern und auch ein wenig ins Gesicht pustete.
„Du siehst aus wie Medusa.", war Jacks einziger Kommentar und ich musste grinsen, als ich mir eine Strähne aus dem Gesicht strich. Blitzschnell hatte Jack die Kamera wieder gehoben und schoss mit einem lauten Klick das Foto.
„Zeig her.", forderte ich sofort und machte einen Schritt auf ihn zu, als Jack die Kamera senkte und sich wieder aufrichtete. Sein Blick war konzentriert, als er auf das Display schaute und erst dachte ich, er hätte mich nicht gehört, da er gedankenverloren das Foto zu betrachten schien. Ungeduldig reckte ich mich ein wenig, um auch einen Blick erhaschen zu können, hatte Angst, er würde es mir nicht zeigen wollen, doch dann drehte Jack die Kamera in meine Richtung und wir beide steckten über dem Display die Köpfe zusammen. Mir stand der Mund offen, als ich sah, was Jack und ich da gerade erschaffen hatten. Auf dem Foto sah man mich, wie ich locker mit einer Hand auf dem Geländer abgestützt auf der Plattform stand. Lachend strich ich mir eine der Haarsträhnen aus dem Gesicht, während der Rest meiner Haare wild um meinen Kopf wirbelte. Hinter mir leuchtete die Sonne zwischen zwei Wolkenkratzern durch und tauchte die Gebäude der Stadt in ein orange, gelbes Lichtermeer. Man sah mir die Angst gar nicht an, so perfekt hatte Jack den kurzen Augenblick nach seinem kleinen Witz eingefangen.
„Wow.", hauchte ich beeindruckt und hob den Kopf, um Jack ansehen zu können. Sein Blick war noch immer auf das Foto gerichtet, als ich ihn mit einem leichten Lächeln musterte. Auf seinen sonst so harten Gesichtszügen war mit etwas Mühe ein zufriedener Ausdruck zu erkennen.
„Perfekt.", sagte er schließlich so leise, dass ich es beinahe nicht gehört hätte. Aber eben nur beinahe. Plötzlich war es so hoch über der Stadt gar nicht mehr so kalt. Rasch räusperte Jack sich, bevor er schließlich die Kamera ausschaltete und sie mir kurzerhand um den Hals hing.
„Können wir jetzt gehen?", fragte er mich dann genervt und das Lächeln auf meinen Lippen gefror, als ich seinen üblich genervten und uninteressierten Blick sah. Wir hatten einen Moment gehabt. Einen kurzen Moment, in dem sich unsere Stimmung dem Sonnenuntergang angepasst hatte. Ganz kurz war es zwischen uns warm und hell gewesen. Doch jetzt war die Kühle zurückgekehrt.
„Meinetwegen." Enttäuscht zuckte ich mit den Schultern und machte mich auf in Richtung Fahrstuhl, eine Hand behutsam an die Kamera um meinen Hals gelegt, damit ich sie nicht aus Versehen irgendwo gegenhaute. Ich wünschte, Jack wäre nicht immer so kalt. Ich wünschte, es gäbe öfters solche Momente, wie eben mit dem Foto, zwischen uns. Vielleicht würde ich dann nicht mehr das Gefühl haben, dass wir einander nur auf den Sack gingen. Vielleicht würden wir sogar Freunde werden.
*
Am anderen Ende der Leitung war es eine Weile still und nachdenklich spielte ich mit dem Haargummi in meiner Hand, während ich darauf wartete, dass Lilly etwas sagte. Ich hörte sie leise atmen und musste bei dem Gedanken daran, wie weit entfernt sie war, mühsam schlucken.
„Also für mich hört sich das gar nicht so an, als würdest du ihn hassen.", sagte sie schließlich und ich schob verwirrt die Augenbrauen zusammen.
„Nicht? Wonach hört es sich denn deiner Meinung nach an?"
„Du magst ihn."
Erschrocken zuckte ich zusammen, als das Haargummi von meinen Fingern schoss und mit einem dumpfen Geräusch gegen den Kleiderschrank knallte.
„Bitte was?", lachte ich ungläubig und hätte mich dabei beinahe an meiner Spucke verschluckt.
„Liv." Der Ton meiner besten Freundin war plötzlich ziemlich ernst. Ich richtete mich aus meiner zusammengesunkenen Position auf und griff nach dem Kissen hinter mir, um es auf meinen Schoß zu legen.
„Überleg doch mal. Du wünschst dir, dass ihr besser miteinander klarkommt. Dass er immer so sanft mit dir umgeht wie da oben auf dem Rockefeller Centre. Die Berührung seiner Hand hat dir die Höhenangst genommen, meine Fresse!", argumentierte sie und stieß am Ende ein kleines Lachen aus.
Mit trotzigem Blick umarmte ich mit meinem freien Arm das Kissen und starrte das Fleetwood Mac Poster über Mellis Bett an.
„Ich hatte immer noch Angst. Es war nur nicht mehr ganz so schlimm. Und natürlich will ich, dass wir uns verstehen. Er ist der Bruder meiner Mitbewohnerin und mit den wenigen Leuten, die ich hier kenne, befreundet. Ich kann ihm nicht aus dem Weg gehen und hab keine Lust, dass er mir immer wieder die Abende mit den anderen versaut.", antwortete ich seufzend und zupfte am Stoff des roten Kissens herum.
„Du leugnest es nicht einmal."
Abrupt hörten meine Finger auf, am Kissen herum zu zupfen und mein Kiefer spannte sich an. Ich mochte Jack nicht! Von der ersten Sekunde an war er unglaublich kalt und ziemlich unhöflich zu mir gewesen, wieso sollte ich ihn also mögen? Gut, mit ihm Motorrad zu fahren war gar nicht mehr so schlimm, wie früher und auf dem Rockefeller Centre hatte er mir mit meiner Höhenangst geholfen. Außerdem schoss er tolle Fotos. Aber das war's auch schon. Es war einfach nicht genug, um zu sagen, dass ich ihn mochte.
„Weil mir das zu dumm ist.", antwortete ich Lilly trotzig und lehnte mich mit dem Rücken an die Wand hinter mir an. Die Matratze unter mir federte leicht, als ich meine Beine an mich zog und mit einem Arm umschlang.
„Naja, ist eh besser, wenn du ihn nicht magst."
Verwirrt runzelte ich nach dieser Aussage die Stirn und wollte gerade fragen, was meine beste Freundin jetzt schon wieder meinte, als sie nach einem kurzen Seufzen hinzufügte: „So wie du ihn für deine blöde Kolumne benutzen willst sollte der Kerl besser ein Herz aus Stein haben."
Der Wecker auf meinem Nachttisch tickte leise vor sich hin. Gegen die Fensterscheiben prasselten in einem stetigen Rhythmus schwere Regentropfen und im Zimmer nebenan wurde laut Sia gehört. Seufzend ließ ich den Kugelschreiber in meiner Hand über das Papier meines Textbuches wandern. Ich konnte mich nicht konzentrieren. Seit dem Gespräch mit Lilly konnte ich nur noch an eines denken: Du magst ihn.
Noch immer verstand ich nicht, wie sie das denken konnte, wo es doch kaum angenehme Momente zwischen mir und Jack gegeben hatte. Einen. Einen angenehmen Moment hatte es gegeben und der hatte beeindruckende fünf Minuten angehalten. Wenn überhaupt. Genervt schnaubte ich und schubste mit einem frustrierten Schrei das Buch von meinem Bett. Den Kugelschreiber pfefferte ich direkt hinterher. Ich konnte mich einfach nicht auf diesen Mist konzentrieren!
„Ach du scheiße, was ist denn mit dir los?"
Mein frustrierter Blick traf auf Melli, die verwundert im Türrahmen stehengeblieben war.
„Schlechter Tag.", antwortete ich schlicht und rieb mir mit den Händen durchs Gesicht. Mit einem verständlichen Nicken schloss Melli die Tür. Seufzend ließ ich mich gegen das Kopfende meines Bettes fallen und schlang die Arme um meine Beine, um mich ein wenig zu beruhigen.
„Wie war es eigentlich gestern mit Jack?", erkundigte Melli sich dann, als sie sich mir gegenüber aufs andere Ende des Bettes fallen ließ und die Beine im Schneidersitz verkreutzte. Schon wieder seufzte ich und stieß ein trockenes „Wunderbar." aus. Melli hob leicht belustigt eine Augenbraue.
„So schlimm?"
Ich stützte mein Kinn auf meinen Knien auf und überlegte kurz.
„Nein, eigentlich nicht. Es war gut.", gab ich schließlich mit einem Schulterzucken zu und Melli hob überrascht den Kopf. Du magst ihn. Ärgerlich räusperte ich mich, um so die Stimme meiner besten Freundin aus meinem Kopf zu vertreiben.
„Wie sind denn so seine Fotos? Zeigt er sie dir überhaupt?", fragte sie dann nach und nun war ich es, die überrascht aufschaute.
„Er zeigt sie dir nicht?"
Melli schüttelte nur den Kopf.
„Er zeigt mir nur sehr selten seine Fotos. Besonders seitdem er versucht hat, auf die Jacksonville University zu kommen. Er wurde nicht genommen."
Geschockt richtete ich mich auf.
„Deswegen war er vor ein paar Wochen in Jacksonville?", fragte ich hastig nach und Melli nickte langsam.
„Woher weißt du das? Hat er dir davon erzählt?" Langsam schüttelte ich den Kopf, als ich mich an meinen Flug nach New York erinnerte. Komisch, ich hatte Jack nie gefragt, warum er in dem Flugzeug war und was er in Jacksonville gemacht hatte. Irgendwie hatte es mich nie wirklich interessiert.
„Wir waren auf dem selben Flug nach New York. Wir saßen nebeneinander.", erzählte ich meiner Mitbewohnerin und konnte sehen, wie sich ihr Mund geschockt in ein großes O formte.
„Oh verdammt, was für eine Art Schicksal ist das denn?", lachte sie ungläubig und schüttelte den Kopf. Auch ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Schon verrückt wie das Leben spielte.
Es wurde Abend und Melli und ich diskutierten gerade darüber, ob wir Essen bestellen sollten, oder doch tatsächlich unser Zimmer verlassen würden, um irgendwo essen zu gehen, als Mellis Handy klingelte und meine Mitbewohnerin mit einem knappen: „Beeil dich, ich hab Hunger." ans Telefon ging. Grinsend schüttelte ich den Kopf und tippte die SMS an meine Eltern zu Ende, bevor ich mein Handy neben mich auf meinen Nachttisch legte.
„Ist das dein Ernst?"
Verwundert sah ich die Lilahaarige an, die mittlerweile senkrecht im Bett saß und mit panischem Gesichtsausdruck die Luft vor sich niederstarrte. Langsam wanderte ihr Blick in meine Richtung und ich zuckte erschrocken zusammen, als ich die blanke Angst in ihren Augen sah. Noch nie hatte ich Melli so gesehen. Irgendetwas musste passiert sein. Fragend sah ich sie an und formte mit den Lippen ein stummes „Was ist los?" in ihre Richtung, doch Melli sah nicht so aus, als wäre sie im Stande, mir dies zu erläutern.
„Wir sind sofort da!"
Ich konnte gar nicht so schnell gucken, da war sie vom Bett gesprungen und in die dreckigen Doc Martens geschlüpft, bevor sie unsere Jacken von den Schreibtischstühlen schnappte und mir meine schwungvoll ins Gesicht warf.
„Was ist denn los?", fragte ich nervös, während ich aufstand und mir meine Jacke anzog.
„Ryan hatte einen Motorradunfall! Wir müssen die anderen im Krankenhaus treffen!", erklärte sie mir hastig, als sie ein paar wahllose Gegenstände in ihre Tasche warf und mir dann meine Schuhe rüberkickte.
„Jetzt!", schrie sie mit schriller Stimme und ich, es besser wissend als sie jetzt warten zu lassen, band mir nicht einmal meine Schnürsenkel, bevor ich ihr aus dem Zimmer folgte. Rasch schloss ich die Tür hinter uns ab und folgte dann Melli, die bereits den Korridor runterjagte. Sie hatte panische Angst und das konnte ich gut verstehen. Auch in meinem Bauch hatte sich ein unruhiges, mulmiges Gefühl ausgebreitet, als ich gehört hatte, was passiert war.
„Melli, warte!", rief ich dem Mädchen hinterher. Doch sie wartete nicht. Erst als wir auf dem Bürgersteig ankamen blieb sie stehen, um ein Taxi ran zu winken. Rasch band ich mir die Schuhe zu und schloss kurzerhand den Reisverschluss von Mellis Handtasche, aus der ihr Zeug schon herausquellte.
Als wir im Taxi saßen konnte ich beobachten, wie ihr Bein unruhig auf und ab hüpfte, während sie gedankenverloren an den Nägeln kaute und aus dem Fenster starrte. Ihre Anspannung war beinahe fühlbar.
„Alles wird gut.", flüsterte ich, als ich einen Arm um sie legte und sie sanft an mich zog. Ich spürte sie gegen meine Schulter nicken und leise flüsterte sie mit gebrochener Stimme: „Ich weiß."
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