13
Vor ein paar Tagen noch dachte ich, dass Melli von all denen, die ich hier in New York bisher kennengelernt hatte, am leichtesten zu durchschauen war. Tja, so schnell konnte man sich irren. Sie hatte eine verbotene Beziehung mit einem Professor und das machte sie nun offiziell undurchschaubar. Welche Vorteile erhoffte sie sich wohl dabei? Und welche Vorteile zog Mr. Abrahams aus der ganzen Sache? Gedankenverloren starrte ich die dunkle Flüssigkeit in meiner Tasse an, während ich das laute Geplapper der übrigen Gäste und Studenten ausblendete. Ich seufzte leise, als ich aus dem Fenster des kleinen Cafés sah. Kurz nachdem ich hergekommen war hatte es angefangen zu regnen und jetzt lieferten sich unzählige Tropfen hitzige Rennen am beschlagenen Glas. Melli fragte sich wahrscheinlich wohl ich war, doch ehrlich gesagt kümmerte mich das gerade herzlich wenig. Sie hatte mich auch versetzt, um mit meinem Professor anzubandeln. Zuerst hatte ich überlegt, sie auf das was ich gesehen hatte anzusprechen, doch diesen Gedanken hatte ich nach nur wenigen Sekunden wieder verworfen. Wir kannten uns noch nicht sehr lange und ich glaubte nicht, dass sie mir so etwas bereits nach so kurzer Zeit anvertrauen würde. Was sollte ich jetzt also mit meinem neuen Wissen anfangen?
Das leise Klingeln der kleinen Glocke über der Eingangstür lenkte meinen Blick von der nassen Fensterscheibe auf die Person, die soeben das Café betreten hatte und überrascht wurden meine Augen groß.
„Luke?"
Mindestens genauso überrascht wie ich drehte sich der Blonde in meine Richtung und ich schenkte ihm ein kleines Lächeln.
„Hey! Du auch hier?" Die Hände in den Hosentaschen vergraben und mit einem schiefen Lächeln auf den Lippen blieb er vor meinem Tisch stehen. Auffordernd klopfte ich auf die Sitzfläche des Stuhles neben mir und nach scheinbar kurzem Überlegen setzte Luke sich.
„Wie geht es dir?", erkundigte ich mich freundlich und nahm dann einen Schluck von meinem schwarzen Kaffee. Langsam nickte der junge Mann neben mir, als würde er nebenbei im Kopf die neusten Ereignisse abwiegen.
„Naja, muss ja. Und dir?"
Ich ahmte sein langsames Nicken nach und lächelte dann leicht.
„Kann mich nicht beklagen."
Dann war es eine Weile still und ich betrachtete erneut die Flüssigkeit in meiner Tasse. Luke beobachtete mich, sein Kopf war leicht schräg gelegt und es schien, als würde er versuchen, in meinen Kopf einzudringen, so intensiv und schwer war sein Blick auf mir.
„Wie geht's deinem Freund? Jack, richtig?", brach er dann die Stille und mir entwich ein ironisches Schnauben, bevor ich meinen Kopf hob und ihn kopfschüttelnd anschaute.
„Er ist nicht mein Freund. Er hat dir nur Mist erzählt. Es scheint ihm irgendwie Spaß zu machen, mir das Leben zur Hölle zu machen.", erklärte ich seufzend und Lukes Augen wurden ein kleines Stückchen größer. Vielleicht bildete ich mir sogar ein, dass sie erfreut aufblitzten, doch das konnte auch nur Wunschdenken gewesen sein.
„Heißt das, du-", doch weiter kam Luke nicht, da ging erneut die Tür des Cafés auf und ich konnte beobachten, wie Melli ihren Blick suchend durch den Raum wandern ließ. Dann entdeckte sie mich, warf fragend beide Arme in die Höhe und rief mir dann über die kurze Entfernung verstimmt zu: „Da bist du ja! Die anderen warten bereits auf uns!"
Und als ich sie da so stehen sah, mies gelaunt und mit genervtem Blick, da wusste ich plötzlich, was ich zu tun hatte. Melli Parker, danke, dass du mich heute versetzt hast.
*
„Ich zähle jetzt bis drei und wenn du dann nicht endlich deine verdammte Fresse hältst, werde ich deine Lippen zusammen tackern!"
Erschrocken hob ich den Kopf und drehte mich in Kathys Richtung, die Jack aus wutentbrannten, braunen Augen niederstarrte. Melli und ich hatten das Grande Seven erst vor ungefähr zwei Sekunden betreten, doch ich hegte insgeheim schon jetzt den Wunsch, wieder nach Hause zu gehen. Heute schien jeder schlechte Laune zu haben und ich hatte keine Lust mich anzustecken.
„Was hat er diesmal getan?", fragte Melli ihre beste Freundin mit vor der Brust verschränkten Armen, als wir vor den beiden Streithähnen zum Stehen kamen. Funkelnd feuerten sie mit ihren Blicken Blitze auf den jeweils anderen ab und wenn die beiden nicht so aussehen würden, wie sie nun einmal aussahen, hätte man fast meinen können, sie hätten was füreinander übrig. Was sich neckte liebte sich ja bekanntlich. Doch ich brauchte nicht lange um festzustellen, dass das was sich zwischen den beiden Freunden hier abspielte nicht einfach nur harmlose Neckereien waren.
„Er hat behauptet, Catwoman wäre cooler als Wonderwoman!"
Und während Melli laut nach Luft schnappte und anschließend in Kathys Beleidigungen an ihren Bruder einstieg, drehte ich mich nur den Kopf schüttelnd um und setzte mich zu Luna auf die dunkelgrüne Ledercouch. Sie schenkte mir ein strahlendes Lächeln und ich war froh, wenigstens auf einen fröhlichen Menschen zu treffen.
„Liv. Wie geht's dir?", erkundigte sie sich ehrlich und schlug die Beine übereinander. Ich erwiderte ihr Lächeln und antwortete mit einem schlichten: „Gut. Und dir?"
Leicht legte sie den Kopf schief, als würde sie meine Antwort in Frage stellen.
„Naja, Pluto befindet sich momentan in meinem Sternzeichen, weswegen ich gerade eine geistliche Neugeburt durchlebe und das kann ziemlich anstrengend sein, aber ich werde schon damit fertig."
Mit den Achseln zuckend nahm sie ihre Tasse vom Tisch und trank einen Schluck ihres Tees, schien gar nicht zu bemerken, dass ich sie mit offenem Mund anstarrte. Ich hatte keine Ahnung, was sie da gerade gesagt hatte, wieso sie es getan hatte und was es bedeutete, aber sie war die einzige, die heute gute Laune hatte und die wollte ich ihr nicht nehmen, indem ich ihr sagte, dass sie 'nen Knall hatte.
„Wo sind Ryan und Ole?", fragte ich das Mädchen mit den kurz geschorenen Haaren, nachdem ich einen flüchtigen Blick zum Sessel geworfen hatte, in welchem die beiden normalerweise kaum die Finger voneinander lassen konnten.
„Ryan hat ein Vorstellungsgespräch und Ole repariert sein Motorrad. Irgendetwas mit den Bremsen.", erklärte sie mir, machte eine kleine Pause und biss sich dann auf die Lippe. Sie machte eine kurze Pause, dann flackerten ihre Augen kurz in meine Richtung und in verschwörerischem, bedauerndem Ton fügte sie schließlich hinzu: „Ich habe heute Morgen für beide die Karten gelegt und leider muss ich sagen, dass es nicht sehr gut aussieht."
Und jetzt war es offiziell, Luna war verrückt.
„Oh.", war alles, was ich darauf antworten konnte – ehrlich, ich konnte einfach nichts anderes erwidern – und schaute verzweifelt hinter mich, wo Melli, Kathy und Jack eben noch ihre hitzige Diskussion geführt hatten. Glücklicher Weise machten sie sich gerade auf den Weg zu mir und der Astrologiehexe, was bedeutete, dass ich ihr heute noch nicht sagen musste, dass sie mir Angst machte. Mit verschränkten Armen ließ Kathy sich neben mich auf das abgewetzte Leder der Couch fallen, während Jack sich in den Liebessessel fläzte und seine Schwester sich mit düsterem Blick auf der Armlehne niederließ. Die Mädels sahen aus, als hätte man ihnen ihre Lieblingspuppen gestohlen, während Jack mit gelangweiltem und unbeteiligten Blick an der Haut an seinen Fingernägeln herumzupfte. Die Stimmung war im Keller und ich konnte meinen eigenen Worten nicht glauben, als ich seufzend aufstand und keine Widerrede duldend in die Runde warf: „Ich hol uns allen jetzt erstmal 'ne Runde Schnaps." Irgendeinen Sinn musste es doch haben, dass wir hier dank Jack an Alkohol kamen. Und wenn nur Alkohol die Freunde aufmuntern konnte, dann war das ausnahmsweise mal Grund genug, ein wenig gegen das Gesetz zu verstoßen.
*
„Von all den wunderschönen und sehenswerten Orten in dieser Stadt bringst du mich ausgerechnet zum meist besuchten Touristenziel in ganz New York?"
„Was hast du gegen das Rockefeller Centre?"
Kopfschüttelnd gab ich Jack seinen Motorradhelm zurück und fuhr mir durch die wirren Haare. Mein Blick wanderte an der Fassade des riesigen Gebäudes hoch und ich konnte nicht verhindern, dass ich beim Gedanken an die unmenschliche Höhe, die ich gleich besteigen würde, schlucken musste.
„Ich hab Höhenangst.", gab ich zu und kaute nervös auf meiner Unterlippe. Ich wünschte, ich hätte nie zugestimmt, mit Jack die Stadt zu erkunden. Dieser Kerl hatte die Superpower all meine schlimmsten Ängste offen zu legen und gegen mich zu verwenden.
„Vor was hast du eigentlich keine Angst, Florida?" Mit der teuren Kamera in der Hand schob Jack sich auf dem gefüllten Bürgersteig an mir vorbei und wartete nicht einmal ab, ob ich ihm ins Gebäude folgte.
„Vor dir!", grummelte ich verstimmt, als ich ihn eingeholt hatte und ignorierte Jacks spöttisches Lachen. Sollte er sich doch über mich lustig machen, ich verbrachte eh nicht so viel Zeit mit ihm, um mich anzufreunden, sondern um sein Wesen und seine dunkelsten Geheimnisse zu ergründen. Okay, zugegeben, das klang etwas extrem, aber er war eine dunkle Person und dunkle Personen hatten auch dunkle Geheimnisse. Das war nur logisch.
Mit den Zähnen knirschend folgte ich ihm in den Fahrstuhl, quetschte mich zwischen sechs oder sieben andere Besucher und wurde so mit dem Rücken an Jacks breite Brust gepresst. Für meinen Geschmack dauerte es viel zu lange, bis wir die Besucherplattform erreicht hatten und als sich die Türen endlich öffneten, kippte ich beinahe nach hinten über, als Jack sich achtlos an mir vorbeidrückte. Ich stellte mir vor, wie meine Augen ihm unerträgliche Schmerzen zufügten, während ich grummelig hinter ihm her stapfte und wäre deswegen beinahe in ihn reingelaufen, als er plötzlich am Rand der Plattform zum Stehen kam. Glücklicherweise konnte ich mich noch rechtzeitig fangen. Plötzlich wurde mir klar, wie weit oben ich mich gerade befand. Das hatte ich wegen meiner telepathischen Mordversuche an Jack gar nicht richtig mitbekommen. Langsam stellte ich mich neben Jack und ergriff mit zitternden Händen das kühle Geländer. Doch irgendetwas in mir weigerte sich, nach unten zu schauen. Wahrscheinlich die Angst, zu stürzen. Oder das Jack mich runterschubste.
Krampfhaft war mein Blick auf den Ärmel von Jacks abgenutzter Lederjacke gerichtet. Plötzlich war sie unglaublich interessant.
„Jetzt sieh es dir wenigstens mal an. Ich hab die Karten nicht gekauft, damit du mich anstarren kannst. Obwohl ich zugeben muss, dass ich auch ganz gut anzusehen bin."
Genervt schnaubte ich und funkelte Jack kurz wütend an, er schaute mich nicht einmal an, hatte die Kamera auf die Stadt gerichtet und suchte konzentriert nach der besten Perspektive. Ich atmete noch einmal tief durch, bevor ich meinen Kopf langsam in Richtung der Aussicht drehte. Zuerst hatte ich die Augen noch fest aufeinandergepresst, doch dann spürte ich plötzlich eine große Hand auf meiner, die noch immer krampfhaft das Geländer umschlossen hatte. Erschrocken riss ich die Augen auf und wurde mit der wohl schönsten Sicht meines Lebens begrüßt. Unter mir lag New York, vor mir ragten die unverkennbaren Wolkenkratzer in den Himmel und alles glitzerte. Und direkt vor meinen Augen ging hinter einem dieser Wolkenkratzer die Sonne unter und tauchte die Stadt in eine magische Mischung aus rot, pink und gelb. Die kühle Abendluft spielte mit meinen Haaren, als ich mit der Zunge meine trockenen Lippen befeuchtete. Vor Bewunderung stand mir der Mund offen. Mein Blick wanderte runter zu meiner Hand auf dem kalten Metallgeländer und meine Augen wurden groß, als ich Jacks Ringe erkannte. Mit gerunzelter Stirn wanderte mein Blick hoch zu seinem Gesicht, doch er würdigte mich keines Blickes, starrte krampfhaft auf die Stadt zu seinen Füßen. Ein kleines, berührtes Lächeln schlich sich auf meine Lippen, als mir klar wurde, was er tat. Er wollte, dass ich mich wegen der Höhe ein wenig sicherer fühlte. Und es war ihm peinlich. Ich wollte es nicht noch schwerer für ihn machen, also beschloss ich, ihn nicht damit zu ärgern und ließ die Sache auf sich beruhen. Wir hatten gerade vermutlich einen großen Schritt in eine Richtung gemacht, von der ich noch nicht genau wusste, wo sie uns hinführen würde.
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