20. Alte Freunde

Mum.

Sie erschien mitten im Bild, sie sah in die Kamera, ihre Augen huschten hin und her, aber sie sagte nichts. Ich erinnerte mich nicht daran, dass sie die Kamera jemals alleine verwendet hatte, aber anscheinend wusste ich viele Dinge nicht.

Unbemerkt hatte ich die Luft angehalten.

Ihr Mund öffnete sich ein Stück, doch sie schloss ihn wieder. In ihren Augen sah ich die Unsicherheit und auch Stück weit Angst. In meinem ganzen Leben habe ich nie gesehen, dass Mum Angst gehabt hatte. Mir gegenüber war sie die tapfere, alles überwältigende Mum, die Mum, die ich total toll gefunden hatte und genauso werden wollte, wie sie. Nun war es, als wäre sie wie ausgewechselt.

Layla."

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals.

Ich weiß nicht, wann du es jemals sehen wirst. Ich...ich weiß nicht, ob du es überhaupt jemals sehen wirst."

Sie strich sich die Strähnen aus dem Gesicht, die ihr während des Sprechens aus dem lockeren Zopf gefallen waren. Ich hörte sie schwer schlucken.

Deine Grandma weiß von diesem Band und ich habe sie gebeten, es dir irgendwann zu geben. Ich finde, du solltest die Wahrheit wissen und ich würde sie dir am liebsten selber sagen, aber..."

Mum hielt inne.

Mein Herz fing doppelt so schnell an zu schlagen und ich wartete nur darauf, dass sie fortfuhr. Doch es dauerte einige Minuten, ehe sich ihr Mund öffnete und die Worte mir regelrecht durch Mark und Bein gingen.

Ich kann das nicht."

Am Rande ihres Auges erkannte ich die erste Träne. Mum wischte sie so schnell weg, in der Hoffnung, wenn ich dieses Band sehen würde, dass ich nicht bemerkte, wie sie weinte.

Du bist mein kleines, tapferes Mädchen, Layla. Das warst du schon immer, seit deiner Geburt an. Ich weiß, dass die letzten Wochen unglaublich schmerzhaft, anstrengend und tränenreich waren, und ich wollte nicht, dass du den ganzen Stress mitbekommst. Ich war eine schlechte Mutter gewesen und will mich bei dir zutiefst entschuldigen."

Die Erinnerungen kurz vor ihrem Tod huschten an meinem inneren Auge vorbei und augenblicklich wusste ich wieder, was sie meinte.

Mum atmete noch einmal kurz durch, bevor sie fortfuhr: „Mittlerweile wirst du es wahrscheinlich wissen, dass dein Vater mich betrogen hat. Wir haben jetzt Weihnachten und ich weiß es ungefähr seit zwei Monaten. Du wirst mich wahrscheinlich für naiv halten, aber ich habe gewartet, bis er es mir selbst sagst – aber auch du weißt, dass er es nicht getan hat."

Meine Wut brauste in meinem inneren wieder auf. Wieder einmal wünschte ich mir, ich hätte ihm alle Knochen und Glieder gebrochen, damit er ansatzweise fühlte, was Mum und ich wegen ihm durchgemacht hatten.

Doch da war auch etwas anderes, etwas, was mich mehr beängstigte, als es mich wütend gemacht hatte. Diese böse Vorahnung wollte einfach nicht aus meinem Kopf verschwinden.

Aber bitte sei nicht sauer auf ihn."

Nicht sauer sein?

Das soll doch wohl ein Scherz sein.

Ein leises Lachen entfloh in ihrem Mund: „Es war meine Schuld, Layla. Ich...ich war eine schlechte Ehefrau und eine schlechte Mutter und mich hat es nicht einmal gewundert, als ich es herausgefunden hatte. Nicht einmal sauer, obwohl deine Grandma wie ein Stier getobt hat. Du weißt ja, sie konnte deinen Dad nie leiden."

Eine Träne rann nun meine Wange hinunter. Ich machte keine Anstalten, sie wegzuwischen. Jetzt durfte ich weinen und ich tat es auch.

Ich wollte dir eine tolle Mutter sein. Es war der einzige Grund, weshalb ich dir nie meine verletzliche Seite gezeigt habe, egal wie sehr ich am Boden zerstört war."

Unter all den Tränen, die ich bis jetzt vergossen hatte, bildete sich ein schwaches Lächeln. Ich kannte ihren Sturkopf. Er war immer der Grund gewesen, wieso ich bei ihr nie meinen Willen durchsetzen konnte. Leider hatte ich ihn nicht ansatzweise so, wie Mum ihn hatte.

Ein trauriges Lächeln bildete sich auf ihren Lippen: „Das Einzige, was ich gewollt habe, war, dass du irgendwann glücklich bist und an die Zeit mit deinen Eltern mit einem Lächeln zurückdenken kannst. Aber ich habe es nicht geschafft und deswegen muss ich mich erneut bei dir entschuldigen. Ich hoffe, dass du dich nicht direkt auf den ersten Blick in jemanden verliebst und denkst, er wäre perfekt. Denn irgendwann wirst du auch die andere Seite von demjenigen kennenlernen. Die Seite, die dich verletzt."

Wenn du wüsstest, Mum...

Ich hab dich lieb, Layla."

Damit endete das Video und das Bild wurde schwarz.

Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und versuchte meine Atmung wieder in den Griff zu kriegen. Es dauerte eine Weile, in der ich stumm auf dem Boden saß und zur Wand starrte, an der sich noch vor wenigen Minuten Mums Video abgespielt hatte.

Die Erkenntnis, dass sie genauso wie ich naiv war, tröstete mich ein Stück. Doch im Gegensatz zu ihr bereute ich nichts, aber auch gar nichts, was sich in den letzten anderthalb Jahren abgespielt hatte. Es war vielleicht sogar die beste Zeit meines Lebens, wenn man die ganzen Tiefs außen vor ließ. Mum war vor ihrem Tod in eine Bitterkeit gekommen, in der man nicht so schnell wieder raus kam. Ich denke, würde sie noch leben, hätte sie ihre Entscheidung, zu warten, dass Dad es ihr beichtet, zurückgenommen und wäre gegangen. Wie jeder andere normale Mensch es auch tun würde.

Doch ich verstand nicht, wieso sie ihn deswegen nicht direkt darauf angesprochen hatte.

Sie kannte ihn besser als jeder andere Mensch – und ich kannte ihn schon verdammt gut, oder zumindest dachte ich das. Sie kannte seine Art und seine Persönlichkeit. Sie hätte doch wissen müssen, dass er damit nicht freiwillig rausrückte.

Vielleicht lag es an der Liebe.

Ja, vielleicht.

Wieso war sie so schrecklich kompliziert? Ich hasste es, wenn man mir das Leben so schrecklich kompliziert machte. Ich mochte es, wenn ich glücklich und zufrieden leben konnte.

Das schien aber nur ein Traum zu bleiben.

Ich stand auf und sah noch einmal auf die Kiste von Videos und Fotos. Dann verließ ich den Dachboden. In meinem Zimmer zog ich mich um, lediglich Jeans und einen Pulli. Als ich ihn näher betrachtete, stellte ich fest, dass das gar nicht mein Pulli war. Ich wusste gar nicht, dass ich einen von seinen Pullis hier hatte. Vielleicht hatte ich ihn einmal eingepackt, als ich das letzte Mal vor ein paar Monaten hier war.

Kurzer Hand zog ich ihn mir über.

Ich roch noch immer sein Aftershave – eine Mischung aus Apfel, Wassermelone und Mango, erfrischend halt.

Ich zog mir meine schwarze Lederjacke über und schnappte mir unten meine ausgelatschten Vans und den Ersatzhausschlüssel und verließ das Grundstück. Mittlerweile war die Sonne schon untergegangen. Es wunderte mich, dass Grandma noch unterwegs war. Rush Hour herrschte, die U-Bahn war voll. Ich ergatterte noch einen Platz, aber auch auf dem wurde ich fast zerquetscht. Ich war froh, die nächste Station aussteigen zu können.

Vor mir baute sich der L'Arc de Triumphe auf.

Obwohl es bereits abends war, war die Schlange unendlich lang.

Ich war noch nie hier drauf gewesen. Vielleicht sollte ich es einmal, wenn ich morgen Abend noch einmal hierherkommen würde.

Mein Weg führte mich an den Geschäften und Restaurants vorbei zu einer kleinen Bar, die etwas abseits des ganzen Touristen-Trubels lag. Die Tür gab noch immer ein unheimliches Knarzen von sich. Wie in alten Zeiten. Ein Grinsen bildete sich auf meinen Lippen.

Margo, eine alte Freundin, diskutierte gerade mit einem älteren Herrn, der anscheinend noch ein weiteres Bier wollte, aber kein Geld hatte, um es bezahlen zu können, und versuchte ihm Weis zu machen, dass sie ihm kein weiteres Bier geben konnte, wenn er nicht bezahlte. Francois, ein weiterer, alter Kumpel von mir mit einem guten, wenn auch merkwürdigen Geschmack für Mode, schaute seiner Schwester mit einem amüsanten Grinsen zu.

„Layla!" Ausgerechnet Lucá, die neben Francois gestanden hatte, entdeckte mich als Erste und schloss mich in die Arme. Die Aufmerksamkeit der anderen Beiden war ebenfalls auf mich gelenkt worden. Augenblicklich wurde daraus eine Gruppenumarmung.

Mir wurde bewusst, wie sehr ich meine alten Freunde vermisst habe.

„Wie geht es dir, Ma Cherie?" Francois fasste mich an den Schultern und musterte mich von oben nach unten. Seine Schwester neben ihm lachte: „Francois, sie ist schwanger!" Er fing an zu kreischen wie ein kleines Mädchen und drückte mich erneut an sich: „Die kleine Layla wird erwachsen!"

„Ich will ja nicht deine Träume zerstören, aber das bin ich schon längst!", meldete ich mich zu Wort und Margo fing an zu lachen.

Dann räusperte sich Lucá: „Übrigens...noch ein Beileid wegen dem Tod deiner Mum."

Das Lachen verging und es wurde still. Francois lächelte mitfühlend: „Sie war eine tolle Frau. Ich habe sie gemocht."

Ich nickte: „Ich weiß."

Margo verzog es wieder hinter die Bar. Sie konnte solche Trauermomente nicht ab. Aber ich verstand sie. Dadurch ersparte sie sich viele Sachen, wie zum Beispiel sich die Seele aus dem Leib heulen.

Ich setzte mich auf einen der Barhocker. Lucá brachte mir ein Glas Wasser: „Wer ist eigentlich der Glückliche, hm?" Sie zog grinsend eine Augenbraue hoch.

„Tja, das wüsstest du wohl gerne."

„Bitte sag mir, dass das von diesem Boybandschnucki ist, okay? Dieser Daran oder wie der hieß ist ein Arschloch und ich finde, dein Kind sollte nur gute Genen abbekommen!", kam es flehend von Francois. Margo sah ihn von der Seite an: „Francois, wir wissen alle, dass du Schwul bist, aber bitte. Das ist jetzt ein wenig unangebracht." Aber wie ich ihn kannte, hörte er nicht darauf: „Jetzt sag schon! Wir wollten nicht gefühlte Jahrzehnte warten, dass du uns sagst, wer er ist, deswegen haben wir halt selbst nachgeschaut."

Ich verdrehte amüsiert die Augen.

Das war ja mal so typisch!

„Ja, sie ist von ihm", lachte ich.

Francois fing wieder an zu kreischen und Lucá schlug überwältigt die Hände vor den offenstehenden Mund: „Es wird ein Mädchen?" Als ich nickte, musste Francois sich an die Wand lehnen. Der Liebe war schon immer ein wenig sentimental gebaut gewesen.

„Ich glaube, ich falle gleich in Ohnmacht", sagte er und hielt sich theatralisch eine Hand an die Stirn. Margo seufzte: „Bloß nicht."

Die ist ja mal eine Stimmungskanone.

Ja, wirklich!

„Weißt du schon, wie ihr sie nennen werdet? Ich kann immer noch nicht fassen, dass du bald Mutter wirst! Ich dachte, Margo wird als Erste von uns Mutter!" Lucá überschlug sich fast.

„Hey!", kam es protestierend von Margo und sie schmiss einen Lappen nach ihrer besten Freundin, die sich daraufhin bückte, um dem Lappen auszuweichen, und lachte. Ich lachte ebenfalls, bevor ich antwortete: „Nein, keine Ahnung."

Ich verschwieg, dass Niall und ich ja gar kein Paar mehr waren. Das letzte, was ich brauchte, war, dass sie sich noch Sorgen um mich machten, obwohl sie meine Freunde waren. Es reichte mir schon, dass Haley sich Sorgen um mich machte und sich jeden Tag meldete, um sich zu erkundigen, wie es mir ging.

Francois legte einen Arm um meine Schulter: „Ich freue mich für dich!"

Ich grinste.

Ja, ich mich für mich auch.

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