Das letzte Lächeln

Die Dunkelheit senkte sich langsam über die Straßen der Stadt. Stück für Stück kroch sie voran, langsam, aber doch unaufhaltsam und schickte die Sonne in den Tod.
Langsam leerte sich der kleine Park am Rande der Anhöhe, an deren Fuß sich ein breiter Fluss durch die Stadt wälzte.
Die wenigen Straßenlaternen gingen an und begannen ihren aussichtslosen Kampf gegen die Dunkelheit der herannahenden Nacht.

Ein letzter Spaziergänger saß noch auf einer Bank, die zu Füßen eines alten, knorrigen Lindenbaums stand und starrte gedankenverloren in den tintenblauen Himmel. Er suchte nach Sternen. Nach einem ganz besonderen Stern. Einem, von dem er sich sicher war, dass er noch nicht lange am Himmel stehen konnte.

Sie war zu früh zu einem Stern geworden. Viel zu früh. Aber Gott hatte offensichtlich einen Engel gebraucht.
Der Mann war sich sicher, dass der ziemlich egoistisch sein musste, da er sie zu sich geholt hatte, ohne dabei auf ihn Rücksicht zu nehmen. Sie hätten zusammen leben, eine Familie gründen und alt werden sollen. Sie hätten glücklich sein sollen. Vor allem sie hätte das verdient. Er hatte nie einen gütigeren Menschen mit einem größeren Herzen getroffen. Es hatte sie von innen heraus erstrahlen lassen. Deshalb konnte sie nur zu einem Stern geworden sein. Nur das wurde ihr ansatzweise gerecht.

Der Mann seufzte tief und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Er spürte die Bartstoppeln unter seinen Fingern. Seit sie weg war, fand er nur noch selten die Motivation sich gründlich zu rasieren. Es kostete ihn bereits fast all seine Kraft, morgens aus dem viel zu großen Bett zu steigen und zur Arbeit zu gehen. Es war kein Leben mehr, was er führte. Sie hatten so viel Zeit zusammen verbracht, dass sie innerlich zusammen gewachsen waren. Ihr Tod hatte somit tiefe Wunden in seine Seele gerissen und Teile von ihr zerstört, die er auf der Erde nicht wiederfinden konnte.

Ihm blieb aber eine Möglichkeit. Wenn er sie nicht zurückholen konnte um seine Seele zu heilen, dann konnte er wenigstens zu ihr gehen. Hier hielt ihn nichts mehr und er hatte nichts zu verlieren.

Seufzend schloss er die Augen und atmete tief durch.

Bald, dachte er. Bald bin ich bei dir.

Entschlossen erhob der Mann sich von der Bank. Es war noch dunkler geworden und seine Gelenke waren vom langen Sitzen schon ganz steif, wie eingerostet, aber das kümmerte ihn nicht. Gleich würde er diesen Körper sowieso hinter sich lassen. Es war nicht wichtig.

Er trat an den Rand der Brüstung, die Abgrund und Weg voneinander trennte. Für ihn war sie sie Grenze zwischen Leben und Tod. Hatte er sie einmal überschritten, würde es kein Zurück mehr geben. Er würde zerbrechen und die Wellen würden ihn in eine ewige Umarmung schließen. Frieden.

Wenn er diesen Schritt tat, würde alles wieder einen Sinn haben, denn sie würde wieder da sein. Oder zumindest wäre er dann nicht mehr da.

Hier hielt ihn nichts mehr. Die wenigen Leute, die sich einbildeten, dass er irgendeinen Wert für sie hatte, würden schon über den Verlust hinwegkommen und Ersatz finden. Er hatte ohnehin kaum Nutzen mehr. Er war unpräzise, unzuverlässig, fehlerbehaftet. Jezt noch mehr denn je.
Nein, es wäre wohl das beste, wenn er ginge.

Nach diesem Entschluss, hob er sich auf das breiten Geländer. Nur noch ein kleiner Schritt...

Der Körper fiel lautlos. Unten kräuselten sich die Wellen in freudiger Erwartung und spritzten übermütig, als er in ihnen versank. Tiefes Blauschwarz. Stille. Nur der Atem des Flusses war zu hören.
Der Mann sank langsam dem Grund entgegen. Über ihm blinzelten die Sterne durch den Wasserschleier hindurch um ihn zu verabschieden. Oder hießen sie ihn willkommen? Vielleicht würde ja auch er zu ihnen  gehen.

Je tiefer er sank, desto dünner wurde ihr Licht. Doch einer der Sterne, schien ihn nicht gehen lassen zu wollen. Trotzig durchschien er die dunklen Wassermassen und es war, als würde sein Schein immer stärker, während die Übrigen kaum noch zu sehen waren.
Mit erstaunlicher Intensität schnitten die Strahlen durch das Wasser und das Licht schien immer näher zu kommen. So nah, dass sich langsam Umrisse abzeichneten.
Und schließlich erstrahlte das dunkle Wasser im Licht einer Frau, deren perlweiße Gestalt von innen heraus zu leuchten schien.

Langes Haar wogte in den sanften Wellen und umrahmte das weiche Gesicht. Sie sprach nicht, sondern betrachtete nur stumm den Körper des Mannes, der vor ihr im Wasser schwebte. Er war so anders als sie. Kalt, dunkel, nass und leblos.

Ein kummervoller Ausdruck beschattete ihr strahlendes Gesicht und sie strich sanft mit einer schimmernden Hand über die erkaltete Wange des Mannes.
Langsam schlug er die Augen auf. Erkennen schlich sich in das erloschene Braun und ließ es erneut aufleuchten.

Warum mein Liebster?

Die Stimme klang wie Wassergurgeln und Sternenschimmer, die sich miteinander verwoben hatten.

Er konnte nicht antworten. Denn Tote können nicht sprechen.

Sagte ich dir nicht, du sollest bleiben? Ich weiß, dass du mich vermisst, aber jetzt sind wir auf ewig getrennt.

Ihre Strahlen schienen schwächer zu werden, während der Schmerz in ihr wuchs.

Lass mich dir etwas zeigen.

Somit erhob sie einen ihrer geisterhaften Arme und im Wasser begannen nun Schemen und Umrisse zu schillern.

Figuren begegneten sich, um sich kurze Zeit später wieder zu trennen. Menschen sprachen ihr Beileid aus und vergaßen wenige Herzschläge später wieder den Grund des Kummers.
Regen, graue Wolken im Kopf und staubige Gedanken.
Bis jemand kam, der länger blieb. Ein Mann erst. Ein Freund, der nicht ging. Dann eine Frau, die mit ihm fühlte und nicht vergaß, die sich erinnerte und zur Freundin wurde. Und schließlich eine zweite Frau, die mit ihren schützenden Worten einen Schirm gegen den Regen seiner inneren Trauer bildete, mit ihrem strahlenden Lachen die Wolken vertrieb und den Staub aus seinem Kopf blies.
Und dann war da ein neues Leben, das heranwuchs. Große Augen, die seine Hilfe brauchten. Sein Kind, das auf ihn wartete.

Das Flusswasser stahl die Tränen aus seinen Augen, doch sie sah auch so, was ihn berührte.

Geh, sagte sie. Ich bin immer bei dir. Werde glücklich. Und jetzt geh.

Als sei es plötzlich aus einem Dämmerschlaf erwacht, erhob sich das Wasser in einer tosenden Strömung und riss ihn mit sich fort.
Ihr Licht erlosch.

Er wurde weggewibelt, immer weiter fort, Fische, Pflanzen flogen vorbei. Keine Orientierung mehr. Dann erschienen dunkle Umrisse vor ihm. Felsen, Steine, scharfe Kanten. Schneller und immer schneller schoss er drauf zu. Ungebremst, der Aufprall stand bevor...

Keuchend schlug er die Augen auf.
Ihm war unglaublich kalt und sein Rücken schmerzte. Fern rauschte das Echo der Stadt und vermengte sich mit dem Rascheln der Bäume.

Nur langsam beruhigten sich sein Atem und der rasende Herzschlag und ließen ihm Zeit zu bemerken, dass er klitschnass war.
Schweiß, vermutete er. Er lehnte sich auf den harten Planken zurück und schob sich das triefende Haar aus der Stirn.
Ein unangenehm klammes Gefühl hatte ihn erfasst und er erhob sich eilig.

Als er einen Blick auf das Geländer warf, trafen ihn die vergangenen Ereignisse wie ein Schlag ins Gesicht. Langsam und atemlos trat er zu der Brüstung und blickte hinab ins schimmernde Wasser.
Nur ein Schritt...

Er schluckte.
Doch dann wandte er sich ab und verließ mit eiligen Schritten den Park.
Er brauchte dringend trockene Kleidung.

Seine Gestalt verschwand zwischen den alten Bäumen in der Nacht. Die Stadt glänzte mit Millionen von Lichtern und hieß ihn willkommen.

Der Himmel jedoch, war unterdessen still. Und die Sterne lächelten.

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