Betty
Die Fenster des Zuges waren trüb und kühl vom Regen. Sie merkte es, als sie ihre erhitze Stirn vorsichtig dagegenlehnte und mit den penibel geschminkten Augen hinaus auf das graue Land blickte, das in Schlieren vorbeifloss. Sie versuchte leise zu atmend, während sich ihr hektischer Herzschlang langsam wieder beruhigte. Es gab keinen Grund jeden hier wissen zu lassen, wie sehr sie sich hatte beeilen müssen, um den Zug noch zu erwischen.
Nachdem sie das Gefühl hatte, wieder einen halbwegs normalen Puls zu haben, fischte sie das Handy aus ihrer Handytasche und aktivierte die Frontkamera. Glücklicherweise waren an diesem Montag Mittag nur wenige Menschen nach München unterwegs, weshalb sie eine Zweierreihe ganz für sich hatte, und ihr Tun nicht weiter auffiel. Der Blick auf das Display zeigte ihr, dass ihre Haare, die sie am frühen Morgen in einer schier endlosen Prozedur geglättet hatte, sich bereits wieder zu widerspenstigen Locken kringelten, vor allem die kürzeren vorne am Gesicht, die sie nicht in ihrem Pferdeschwanz unterbekommen hatte. Seufzend versuchte sie, sie mit der Hand zumindest so zurückzustreichen, dass sie nicht mehr ganz so sehr nach Vogelscheuche aussah. Wenigstens das Make Up schien gehalten zu haben. So blieb ihr ein Dasein als Waschbär zumindest vorerst erspart.
Erschöpft ließ sich die junge Frau in ihrem Sitz zurückfallen und öffnete die feuchte Jacke etwas. Für wenigstens eine Stunde könnte sie nun ihren Gedanken freien Lauf lassen, bevor sie zum nächsten Termin weitermusste. Während sie einfach nur aus dem Fenster blickte und die Häuser, Felder und Straßen in einem undeutliche Durcheinander aus Farben, vermischt mit den Schlieren des Regens vorbeiziehen sah, überkam sie auf einmal das seltsame Gefühl, zu wenig Zeit zu haben.
Sie hatte gerade erst ihren Abschluss gemacht und nun war sie von einem Vorstellungsgespräch zum nächsten unterwegs, absolvierte Prüfung um Prüfung, ließ sich testen, rannte zu Ärzten und Ämtern und das alles, um dann irgendwann den Beruf ausüben zu können, von dem sie dachte, das er ihr gefallen könnte. Könnte. Sie konnte es nicht wissen, nicht jetzt, noch nicht so schnell. Aber trotzdem musste sie es, irgendwie.
Und nach der Ausbildung? Sollte sie noch studieren? Eine weitere Ausbildung machen? Würde ihr diese eine Sache reichen? Sicher nicht. Aber woher das Geld nehmen? Sie wusste jetzt schon aus der Erzählung vieler anderer, dass sie während der Ausbildung kaum Zeit zum Arbeiten haben würde. Es würde gerade so reichen um sich mit dem nötigsten an Essen und Drogerieartikeln zu versorgen. Aber wie sollte sie dann danach, ohne Rücklagen, mit ihrem mageren Einstiegsgehalt eine Wohnung, ein Auto und all die Fortbildungen bezahlen, die sie machen musste?
Ein unangenehmes Gefühl machte sich in ihrem Magen breit, weshalb sie die Arme vor dem Bauch verschränkte und noch tiefer in ihren Sitz rutschte. Sie wusste genau, dass sie eigentlich positiv hätte denken sollen, aber das überwältigende Gefühl, ab jetzt keine Zeit mehr zu haben, keine Wahl, keine Möglichkeit schien auf ihrem Kopf zu lasten wie dicker, schwarzer Qualm, der in jede Ritze drang und alles vernebelte.
Pünktlich, wie um das Bild perfekt zu machen, meldeten sich auch ihre Kopfschmerzen wieder, die sie seit fast drei Jahren regelmäßig und in letzter Zeit immer öfter begleiteten.
Na super, dachte sie und schloss die Augen. Sie fühlte sich zu müde, um richtig genervt zu sein.
Die Arme vor der Brust verschränkt, den Kopf am kühlen Fensterglas des Zuges, versuchte sie sich zwischen dem Rauschen des Regens, dem Rumpeln des Zuges und den mehr oder weniger leisen Gespräche der anderen Zuginsassen so weit zu entspannen, wie es ging. Sie spürte nach einer Weile, wie sich ihre verkrampften Schultern etwas lösten und ihre Muskeln sich etwas weniger verspannt anfühlten. Gleichzeitig wurde ihr Kopf aber immer schwerer. Sollte sie es riskieren, einfach einzuschlafen? So müde...
Sie schreckte hoch, als es direkt neben ihrem Ohr laut knallte. Hatte sie wirklich geschlafen? Ein schneller Blick auf das Handy verriet ihr, dass sie nur für einen kurzen Moment weggedöst war. Aber was war das für ein Geräusch gewesen? Eine Warnung an sich selbst, um sich vom Einschlafen abzuhalten? Oder hatte es bei der Zugfahrt eine Panne gegeben? Die plötzliche Stille kam ihr seltsam vor.
Sie drehte sich um, um einen Blick über den Gang zu werfen, nur um mit einem leisen Quietschen zurückzuzucken. Direkt vor ihr, nur Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt, hockte ein kleines Mädchen in einem hell geblümten Kleid und sah sie aus großen, runden Augen an. Die junge Frau meinte sogar etwas wie Vorwurf in dem hellen Braun lesen zu können. Aber bevor sie ihren Eindruck vertiefen konnte, hatte das Mädchen zu sprechen begonnen.
„Bist du jetzt wach?"
Einen Moment war sie zu perplex um zu antworten. Woher kam dieses Mädchen so plötzlich? Und wie hatte sie es nicht bemerken können? Nun gut, sie hatte gedöst, aber dennoch hätte sie gedacht, etwas mehr von ihrer Umgebung mitzukriegen. Ein Blick in das offene, fragende Gesicht erinnerte sie daran, dass sie noch keine Antwort gegeben hatte.
„Ich...ähm...", kam es zögernd aus ihrem Mund. Sie wollte gerade zu einer vernünftigen Antwort ansetzen, aber das Kind ließ ihr gar keine Gelegenheit sich zuerklären.
„Gut", meinte es und legte den Kopf leicht schief, wobei ihm das hellbraune Haar ins Gesicht fiel.
„Wie heißt du?", erkundigte es sich unverblümt und baumelte mit den kurzen Beinen.
„Elisabeth", antwortete sie, als sie sich etwas gefangen hatte.
„Ich heiße Betty", erklärte das Mädchen und neigte den Kopf in die andere Richtung.
„Warum hast du geschlafen, Elisabeth?"
Die Angesprochene überlegte einen Moment, bevor sie antwortete: „Ich war sehr müde, weißt du?"
Betty hörte auf, ihre Beine hin und her zu schwingen, sondern zog sie stattdessen zu sich auf das blaue Sitzpolster.
„Warum warst du denn so müde? Hast du nicht genug geschlafen?"
Elisabeth lächelte das kleine Mädchen vor sich an.
„Nein, leider nicht. Ich musste sehr früh aufstehen, weil ich einen Termin hatte."
„Was war das für ein Termin?", erkundigte sich das Mädchen neugierig. „Musstest du zum Arzt?"
Elisabeth lächelte in sich hinein. Ein Arzttermin war wohl das einzige, was diesem kleinen Mädchen zum Thema Termin einfiel.
„Nein", widersprach sie. „Ichhatte ein Vorstellungsgespräch für meinen Ausbildungsplatz."
„Was ist ein Verstellungsgespräch?"
„Vorstellungsgespräch:", berichtigte Elisabeth. „Man stellt sich bei einer Person vor, bei der man arbeiten will oder bei der man, wie in meinem Fall, eine Ausbildung machen will. Und die Person entscheidet dann, ob sie dich nimmt oder nicht."
„Das klingt blöd", meinte das kleine Mädchen bestimmt und schaukelte zur Bekräftigung auf dem Sitz heftig vor und zurück. „Warum machst du das denn?"
„Weil ich gerne einen bestimmten Beruf machen möchte und da ist das eben so."
„Hm." Betty klang nicht überzeugt. Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte nach oben.
Theatralisch seufzend verkündete sie:„Ich verstehe euch Erwachsene nicht. Ständig macht ihr Sachen, die ihr nicht wollt." Einen Moment starrte sie noch an die Decke, bevor sie den Kopf schwungvoll zu Elisabeth herumdrehte, die immer noch nicht ganz wusste, was sie von diesem Mädchen halten sollte.
„Was ist das denn für ein Beruf? Was macht man da?", wollte Betty jetzt wissen.
Elisabeth wurde des ewigen Frage-Antwort-Spiels langsam überdrüssig, dennoch erwiderte sie: „Man hilft Menschen, die sich wehgetan haben oder ein gesundheitliches Problem haben. Nicht wie ein Arzt, ein bisschen anders, aber so ähnlich."
„Das ist gut.", urteilte das kleine Mädchen. „Kann man denn da reich werden? Wenn man anderen hilft sollte man viel Geld dafür bekommen."
Reich werden? Elisabeth musste sich zurückhalten, um nicht frustriert aufzulachen. Reich werden konnte man davon ganz bestimmt nicht.
„Nein, man verdient nicht viel Geld. Im Gegenteil, man muss sogar viel bezahlen. Ich werde kein leichtes Leben haben. Aber das ist eben so."
Die Stille die folgte, war seltsam beunruhigend, auch wenn es guttat, sich nicht mehr ständig den bohrenden Fragen des kleinen Quälgeists stellen zu müssen.
Als Betty schließlich die Stille brach, klang ihre Stimme wütend.
„Du bist doof. Du bist richtig doof." Beleidigt verschränkte sie die kleinen Arme vor der Brust und schob die Unterlippe trotzig vor.
Elisabeth war völlig perplex. „Ich verstehe nicht..."
"Natürlich verstehst du das nicht.", belehrte sie das kleine Mädchen.
„Du versteht schließlich gar nichts, weil du doof bist. Du kannst machen, was du willst und du machst was, was du nicht willst."
„Ich will das doch."
„Und warum jammerst du dann ständig herum, dass du es schwer haben wirst? Lass es doch einfach, wenn es dir zu anstrengend ist!"
Langsam wurde es auch Elisabeth zu bunt und sie antwortete eine Spur zu scharf: „Du bist nur ein Kind, du kannst gar nicht wissen..."
„Was du willst? Doch das kann ich. Ich bin nämlich du. Nur du hast scheinbar vergessen wer du bist!"
Den letzten Satz hatte das kleine Mädchen, das plötzlich so vertraut war, mit dem Blumenkleid, das sie, Elisabeth, früher so geliebt hatte, mit den Augen, die ihre Augen waren und dem trotzigen Blick, den sie immer aufsetzte, wenn sie eine ihre sturen Phasen hatte fast geschrien.
Für einen Moment blieb es noch auf dem viel zu großen Sitz und starrte Elisabeth wütend und traurig zugleich an. Dann sprang es energisch hinunter und verschwand zwischen den Sitzreihen.
Das ältere Mädchen blieb zurück. Schweigend, ungläubig, schockiert.
Und dann wachte sie auf.
Der Lärm traf Elisabeth unvorbereitet, als sie langsam wieder in die Realität zurückkehrte. Sie hatte einen schalen Geschmack im Mund und ihre Hände waren eiskalt. Schaudernd schloss sie ihre Jacke und versuchte sich zu orientieren.
Ein Blick nach draußen verriet ihr, dass sie in wenigen Minuten ihren Zielbahnhof erreichen würde.
Stöhnend griff sie sich an den Kopf und rieb sich, ungeachtet ihres Make-ups die müden Augen. Als der Zug bremste, erhob sie sich erst, als die meisten anderen Fahrgäste schon ausgestiegen waren. Die Reste ihres seltsamen Traums hingen ihr noch zu sehr nach. Es war nicht wirklich gewesen, aber trotzdem...
Das junge Mädchen seufzte tief, als sie ihre Tasche schulterte und den Zug verließ. Die Bahnhofshalle war voller Menschen und Essensstände. Ihr Blick blieb an einem Stand hängen, an dem neben allen anderen Süßigkeiten auch gebrannte Mandeln verkauft wurden.
Sofort schaltete sich ihre Vernunft ein, die ihr sagte, dass sie diese sündhaft teuren Mandeln jetzt sicher nicht brauchen würde.
Aber dann hatte sie für einen Moment die kleine Elisabeth vor Augen, die von allen immer nur Betty genannt worden war. Damals hätte sie ihrer Mutter bestimmt eine Szene gemacht, da sie gebrannte Mandeln geliebt hatte, ja immer noch liebte.
Elisabeth lächelte in sich hinein, als sie den Geldbeutel aus der Jackentasche zog und auf den Stand zusteuerte. Als sie wenig später die noch warme Tüte in der Hand hielt, die gar nicht so teuer gewesen war, fühlte sie sich plötzlich viel besser. Sie schob sich eine Mandel in den Mund und machte sich auf dem Weg zum nächsten Termin, die Schritte deutlich leichter als noch am Morgen. Vielleicht war doch nicht alles so schrecklich wie gedacht.
Als sie die Bahnhofshalle verließ, trafen sie die Geräusche der Straße. Motoren brummten, Menschen unterhielten sich, ein Radfahrer klingelte. Und irgendwo lachte ein Kind.
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