Prolog

Sie zügelte den schwarzen Hengst und lauschte. Sie war sich sicher, dass sie ein Geräusch gehört hatte, aber jetzt war es still, so still, dass sie Angst hatte, man könnte ihr Herz schlagen hören. Zu still. Mit einer fließenden Bewegung ließ sie sich vom Rücken des Pferdes gleiten und kam lautlos auf dem bemoosten Waldboden auf. Sie verharrte einen Moment und lauschte noch einmal. Doch noch immer war nichts zu hören, außer dem Atem des Tieres neben ihr. Zögerlich sah sie sich um. Es war stockfinster, aber ihre Augen hatten sich bereits einigermaßen daran gewöhnt und so konnte sie zumindest die Umrisse der Bäume erkennen. Außerdem war es nicht das erste Mal, dass sie hier war, auch wenn sie jedes Mal aufs Neue nervös wurde, sobald sie sich der Grenze nährte. Sie atmete tief durch und ging vorsichtig ein paar Schritte weiter. Der Rappe folgte ihr langsam.

Plötzlich schoss ein Vogel ganz dicht an ihnen vorbei und sie konnte nur mit Mühe einen erschrockenen Schrei unterdrücken. Ihr Pferd stieß jedoch ein verschrecktes Brummen aus, was in den stillen Wald einschlug wie ein Donnerschlag. „Ruhig Napoleon", flüsterte sie und lauschte wieder. Nichts.

Die Grenze war nicht mehr weit und sie musste all ihren Mut zusammen nehmen, um weiter zu gehen. Ein leichter Wind kam auf und ließ sie frösteln. Für diese Jahreszeit war es hier ungewöhnlich kalt. Ungewöhnlich war auch diese Stille. Nicht einmal die Blätter raschelten im Wind.

Sie schlich auf die Büsche zu, welche die Grenze deutlich markierten, als sie plötzlich doch ein Geräusch hörte und dieses Geräusch ließ sie erstarren. Schritte! Hastig drückte sie sich an einen Baum und dankte Gott, dass die Schwärze der Nacht ihnen ein so gutes Versteck war. Dann konzentrierte sie sich genauer auf die Schritte. Sie waren kaum wahrzunehmen und bewegten sich flink über den weichen Boden. Was auch immer es war, ein Mensch war es nicht. Und wie es schien, kam es direkt auf sie zu.

Und dann war es wieder Still. So sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte nichts mehr hören. Nur ihr eigener Atem. Aber irgendwas war anders. Es war nicht mehr dieselbe Stille. Irritiert sah sie sich um. Irgendetwas fehlte...Napoleon! Sie sprang hinter ihrem schützenden Versteck hervor und suchte verzweifelt nach ihrem Pferd. Nichts. „Napoleon?", rief sie leise. Immer noch nichts. Vielleicht hatte er Angst bekommen, dachte sie sich, vielleicht war er nach Hause gerannt. Aber sie wusste es besser, schließlich hätte sie ihn dann gehört.

Sie versuchte sich wieder auf das zu konzentrieren, weshalb sie eigentlich mitten in der Nacht hier war und verbannte ihre Sorge um Napoleon erst einmal in die hinterste Ecke ihres Kopfes. Und die Sorge über das Wesen, was vielleicht für sein Verschwinden verantwortlich war, gleich daneben. Ein zweites Mal schlich sie auf die Grenzbüsche zu und warf vorsichtig einen Blick darüber. Nichts als Schwärze. Gerade wollte sie sich selber dazu überreden, diesmal die Grenze zu überqueren, da hörte sie wieder die Schritte. Und als sie aufsah blickte sie in ein paar leuchtende, lilafarbene Augen.

Diesmal konnte sie einen Aufschrei nicht unterdrücken. Mit einem Satz fuhr sie herum und rannte so schnell, wie sie noch nie gerannt war. Sie sah sich nicht um, aber auch so war sie sich sicher, dass das Wesen sie nicht verfolgte. Trotzdem hörte sie nicht auf zu rennen, stolperte über eine Wurzel, fiel hin, stand wieder auf und hastete weiter. Dornenranken zerrissen ihr schwarzes Kleid und zerkratzten ihre dünnen Beine, aber sie lief weiter, bis sie in der Ferne die Stadt erkennen konnte. Erst dann verlangsamte sie ihre Schritte und huschte im Schatten der Häuser bis zu ihrem eigenen. Da blieb sie schließlich stehen und versuchte, ihren Atem zu beruhigen. Von Napoleon war keine Spur.

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