9 | Ungestörter
2.588 Wörter
Meine Stimme ist ebenfalls nur noch ein Flüstern und ich schließe meine Augen. Im nächsten Moment spüre ich seine Lippen auf meinen und es fühlt sich an als würde mein Herz aus meiner Brust schweben, so leicht wird es. Das Gefühl ist unbeschreiblich und ich vergesse, wo wir sind, dass wir uns erst seit ein paar Tagen kennen und eigentlich kaum etwas von einander wissen. Der einzige Gedanke, der in meinem Kopf Platz hat, ist, dass ich mir einen Kuss mit Roy niemals so schön ausgemalt hätte.
Er ist nicht perfekt, aber gerade das macht ihn so schön, so real. Roys Lippen sind nicht weich und schmecken auch nicht nach Minze, wie man es so oft in Büchern liest, nein, sie sind rau und spröde und schmecken nach Cola. Aber das stört mich nicht. Im Gegenteil! Meine Hände finden von ganz alleine den Weg in seinen Nacken. Doch bevor sich unser Kuss vertiefen kann, löst Roy sich langsam von mir, verwandelt das angenehme Ziehen in meinem Magen in ein unangenehmes und lässt mein Herz zurück an seinen richtigen Platz fallen. Er soll nicht aufhören! Er soll mich weiter küssen!
Ich öffne meine Augen, weil mir der Gedanke kommt, dass ihm der Kuss vielleicht nicht gefallen haben könnte, aber der verflüchtigt sich ganz schnell wieder, als ich ihn sehe. Sein Gesicht ist ein Stückchen vor meinem und seine Hand liegt immer noch auf meiner Wange. Seine Augen glänzen und er sieht genauso von Gefühlen überwältigt aus wie ich.
Im Hintergrund höre ich, wie der erste Karaoke - Sänger für diesen Abend anfängt zu singen.
»Ich würde dich so gerne nochmal küssen«, haucht Roy.
»Dann tu es doch!«, antworte ich wieder, eindringlicher, flehender und schließe die Augen. Ich spüre, wie Roy mir mit seinem Daumen über die Wange streicht, aber die Berührung seiner Lippen bleibt aus. Verwirrt und leicht enttäuscht öffne ich meine Augen wieder.
»Nicht hier! Irgendwo, wo wir ungestörter sind. Da stört es auch niemanden, wenn ich dich länger küsse.« Er grinst schelmisch. »Aber jetzt lass uns erstmal den Abend genießen!«
Auch mir huscht bei seinen Worten ein Grinsen über die Lippen. Glücklich flüstere ich ein »Ok!«
Roy nimmt seine Hand von meiner Wange und rutscht ein Stückchen näher zu mir ran. »Darf ich?«
Ich nicke hastig. Seine Rücksichtnahme und Unsicherheit bringen mich zum Lächeln und ich rutsche ebenfalls ein Stückchen zu ihm hin. Vorsichtig legt er einen Arm um meine Schulter und blickt mich weiterhin fragend an. Mein Herz beginnt zu rasen, weil wir uns so nahe sind und ich versuche langsam zu atmen. Ich fühle mich, als würde ich zum allerersten Mal engeren Kontakt mit einem Jungen haben und irgendwie ist mir das peinlich. Meine Teenie - Phase habe ich doch schon längst hinter mir gelassen.
Passiert das mit einem, wenn man sich neu verliebt? Benimmt man sich wieder wie ein Teenager? Ich habe keine Ahnung! Meinen ersten und letzten Freund hatte ich mit achtzehn und ich kann nicht behaupten, dass das etwas Ernsteres gewesen ist. Ich bin lediglich mit Michael zusammen gewesen, weil alle einen Freund hatten und ich das Gefühl oder die Vorstellung toll fand, verliebt zu sein. Deshalb hielt unsere Beziehung auch nicht sehr lange, gerade mal vier Wochen.
Ob ich jetzt wirklich verliebt bin, weiß ich nicht und ich würde auch nicht so weit gehen und das behaupten. Aber ich weiß, dass mir das hier wesentlich mehr bedeutet als die Beziehung mit Michael und es mehr ist als nur »Mögen«.
Um Roy zu signalisieren, dass ich einverstanden damit bin, dass er seinen Arm um mich legt, lehne ich mich ein Stückchen an ihn. Er riecht nach Ingwer und Orangen. Genauso wie sein Shirt, das er mir am ersten Abend geliehen hat. Ich mochte den Geruch schon da und mag ihn auch jetzt immer noch.
Ich spüre, wie sich sein Arm um meine Schulter durch meine Bestätigung entspannt und schließe die Augen, lausche dem ersten Sänger für diesen Abend.
So schön hatte ich mir meinen Aufenthalt in Dallas nicht vorgestellt, auch wenn Roy noch ziemlich viele Fragen in meinem Kopf offenlässt. Nach heute abend sollte ich defintiv mutiger werden und ihn danach fragen.
»Wirst du heute abend noch für mich singen?«, frage ich und lege meinen Kopf in den Nacken, schaue zu ihm hoch.
Ein verhaltenes Lächeln bildet sich auf seinen Lippen. »Muss ich?«
»Ich glaube, das hast du mich schon mal gefragt«, schmunzle ich. »Und meine Antwort war 'Nein'. Aber es würde mich schon interessieren, wie du singst. Singst du gut?«
»Das würde ich nicht sagen!«
»Also singst du schlecht«, äußere ich trocken.
Er lacht leicht und ich spüre seine Brust vibrieren. »Das würde ich auch nicht sagen!«
»Na wenn das so ist, dann musst du singen. Ich hätte ja eingesehen, dass du nicht willst, weil du nicht singen kannst, aber wenn du es kannst, dann musst du«, bestimme ich und rücke ein Stück von ihm ab, um ihn besser ansehen zu können.
»Ok, aber erwarte nicht zu viel von mir!«, gibt er nach. Genau in dem Moment beendet der erste Sänger sein Lied und springt vorne von der Bühne. An seine Stelle kommt wieder der Mann, der den Wettbewerb eröffnet hat und fragt nach dem nächsten Kandidaten für diesen Abend. Roy erhebt sich von seinem Platz.
»Hier! Ich möchte«, meldet er sich auf dem Weg zur Bühne.
»Wie schön, ein weiterer junger Mann! Was möchten Sie denn singen?«
Roy betritt die Bühne und stellt sich neben den Moderator, teilt ihm seine Songwahl mit.
»Narcotic von Liquido also!«, verkündet dieser daraufhin dem Dj und erntet Applaus vom Publikum. »Keine schlechte Wahl!« Anerkennend nickt er Roy zu und verlässt die Bühne, Roy nimmt seinen Platz am Mikrophone ein. Die ersten Takte des Liedes ertönen und er macht sich für seinen Einsatz bereit. Gebannt blicke ich zu ihm und auch er fesselt mich mit seinem Blick. Dann fängt er an zu singen und er hatte recht. Er singt wirklich nicht schlecht, aber auch nicht gut. An manchen Stellen, an denen die Stimme des Sänger ein Stückchen höher geht, versagt seine und der Ton wird etwas schief. Trotzdem kann man nicht sagen, dass er sich auf der Bühne blamieren würde. Das tut er nämlich nicht. Hätte er ein anderes Lied mit wesentlich mehr höheren Parts ausgesucht vielleicht schon, aber ich glaube er wusste genau, welches Lied er sich aussuchen muss, um sich nicht zu blamieren. Das Publikum jedenfalls ist begeistert und einige wippen im Takt des Liedes mit.
Als der Song zu Ende geht und Roy seine Stimme ausklingen lässt, fängt es wieder an zu klatschen und auch ich applaudiere für ihn. Er fängt meinen Blick auf und zuckt entschuldigend mit den Schultern. Ich schüttle nur lachend den Kopf über ihn. Er weiß, dass er sich nicht entschuldigen muss, weil er möglicherweise schlecht gewesen ist. Er weiß, dass er gut war.
Elegant springt er von der Bühne und kommt zu seinem Platz geschlendert, lässt sich neben mich auf die Bank gleiten. Sanft legt er seinen Arm wieder um mich und ich lehne mich an ihn. Er sagt nichts zu seinem Auftritt und ich tue es auch nicht. Das braucht er auch gar nicht. Er weiß, dass mir seine Stimme gefallen hat. Er wäre blind, hätte er mir das nicht angesehen.
Irgendwie fällt es mir noch immer schwer zu begreifen, was sich da zwischen mir und Roy anbahnt. Zu Hause würde ich das vielleicht schneller verstehen oder nicht so sehr das Gefühl haben, dass das alles ein Traum ist, aber hier...Was mache ich, wenn wir wirklich zusammenkommen sollten? Mein Roadtrip ist noch lange nicht zu Ende. Und danach wollte ich eigentlich wieder zurück nach Blacksburg in meine kleine Wohnung, meine eigenen vier Wände. Dann würden Roy und ich uns allerdings so gut wie nie sehen und ich bezweifle, dass eine Beziehung über so große Entfernung Bestand hätte. Ich war sowieso nie ein Fan von Fernbeziehungen. Das Bespiel meiner Freundinnen, die wochenlang bevor sie aufs College gingen, rumgeheult haben, dass sie ihren Freund jetzt kaum noch sehen werden, hat mich nur darin bestärkt, niemals eine Fernbeziehung einzugehen, wenn es sich vermeiden lässt.
Aber soweit sind Roy und ich noch gar nicht. Darüber, wie es mit uns weitergeht, wenn meine Zeit in Dallas rum ist, kann ich mir später Gedanken machen. Falls das mit uns überhaupt ernster werden sollte. Vielleicht merken wir in ein paar Tagen, dass wir gar nicht zueinander passen. Jetzt jedenfalls möchte ich mir nicht Kopf darüber zerbrechen, sondern den Abend genießen.
Und der Abend wurde noch schön. Leider war er viel zu schnell rum. Die meisten der Leute, die auf die Bühne stiegen, konnten singen, auch wenn zwischendrin immer mal wieder Personen waren, die zu hoch von sich selbst dachten oder zu tief ins Glas geguckt hatten. Jemand hatte sogar eigens einen Song für diesen Abend geschrieben und seine Gitarre mitgebracht. Vom Moderator erfuhren wir, dass er öfter die Karaoke - Abende besuchte und auch dementsprechend gut war. Seine Gitarreneinlage blieb einem zusätzlich in Erinnerung. Die Siegerehrung bekamen Roy und ich allerdings nicht mehr mit.
Um halb zehn schob Roy mich ein Stückchen von sich weg und sagte, dass wir jetzt fahren müssten, wenn ich morgen nicht völlig übermüdet in der Tankstelle arbeiten wollte. Ich nickte und zusammen verließen wir die kleine Bar.
Er schließt die Tür von seiner WG auf will sich gerade die Schuhe ausziehen, als Eddie ihre Zimmertür öffnet und uns mit einem undefinierbaren Blick betrachtet. Einerseits scheint er Neugier und Freundlichkeit auszudrücken, andererseits wirkt er misstrauisch und skeptisch, als wäre sie sich nicht sicher, ob ich Roy wirklich mag. »Und wie war euer Abend?«, fragt sie, versucht sich an einem Lächeln.
»Er war schön!«, antwortet Roy ihr glücklich und sie nickt, presst die Lippen aufeinander, als wolle sie sich davon abhalten etwas Falsches zu sagen. Was hat sie gegen mich? Oder muss sie immer noch mit mir warm werden? Inzwischen sollte sie doch bemerkt haben, dass ich ihnen nichts will oder sie ausnutze. Trotzdem behält ihr Blick dieses Misstrauen. Und das schöne Glückgefühl, das ich gerade eben noch empfunden habe, sinkt.
»Komm, wir gehen hoch!«, sagt Roy zu mir und schiebt mich sanft in Richtung Treppe. Vielleicht sollte ich ihn danach fragen, warum Eddie sich mir gegenüber so komisch verhält. Oder ist das einfach nur ihre Art? Zu ihrem Aussehen würde das Schroffe jedenfalls passen, obwohl das ein ziemliches Vorurteil ihr gegenüber ist.
Roy öffnet seine Zimmertüre und einer Intuition folgend, gehe ich ihm hinterher. Sein Zimmer ist ungefähr so groß wie meins, nur ein wenig länglicher. Die Wand rechts neben der Tür ist in diesem dunkeln blau gestrichen, das ich schon einmal gesehen habe, als würde man von oben auf den Ozean schauen. Daran hängt das große Surfposter, das ich ebenfalls schon kenne. Weiter hinten an der Wand steht sein Bett. Darüber hängt ein Regal, in dem ein kleiner, ferngesteuerter Hubschrauber steht.
»Wie cool!«, rutscht es mir raus und ich deute etwas beschämt auf den Hubschrauber. »Mein Bruder hatte mal einen, aber ich durfte nie damit fliegen«, schiebe ich erklärend hinterher.
»Willst du mal probieren?«, fragt er mich schmunzelnd und nimmt Fernsteuerung und Hubschrauber, aus dem Regal und löst ihn vom Ladekabel.
Ich nicke unsicher. »Aber ich hab keine Ahnung, wie ich das Teil steuern soll«, teile ich ihm vorwarnend mit.
»Nicht schlimm! Dann zeige ich es dir.« Er stellt den Hubschrauber auf den Fußboden und setzt sich daneben in den Scheidersitz. »Mal sehen, ob er überhaupt noch funktioniert, solange wie ich den nicht benutzt habe«, grinst er und schaltet ihn an. Tätsächlich fangen die kleinen Lämpchen an der Seite an zu blinken. Ich setze mich neben ihn.
»Wieso?«
»Naja, mit einer Hand zwei Steuerknüppel gleichzeitig zu bedienen, dürfte schwierig werden.« Er übergibt mir die Steuerung und zeigt mir, mit welchem Knüppel ich was bediene. »Der Linke ist zum Starten. Aber bitte vorsichtig bedienen, er ist sehr empfindlich. Und der Rechte ist zum Lenken!«
Ich nicke, stelle die Steuerung an und schiebe den linken Steuerknüppel leicht nach oben. Sofort fangen die Rotorblätter des Hubschraubers an sich zu drehen und er schwebt leicht überm Boden, also schiebe ich ihn noch etwas weiter hoch. Nun schwebt der Hubschrauber gute 70 Zentimenter in der Luft und dreht sich leicht im Kreis. Ich drücke den rechten Steuerknüppel nach vorne und der Hubschrauber fliegt in Richtung Wand. »Nein! Halt! Stop! Da sollst du nicht hin!« Ich drücke den Knüppel nach links und der Hubschrauber dreht sich nach links, kommt der Wand trotzdem gefährlich nahe. Aus Reflex und weil ich Angst habe ihn kaputt zu machen, lasse ich das Gas los und er fällt wie ein Stein zu Boden.
Und das macht ihn weniger kaputt?, frage ich mich zynisch.
Roy neben mir lacht und streckt sich ein Stückchen nach vorne, stellt ihn wieder auf. »Versuch's nochmal!«
»Nein«, sage ich entschieden. »Nein, ich möchte ihn nicht kaputt machen!«
»Ach Quatsch! Weißt du, wie oft mir das Ding am Anfang gegen die Wand oder die Decke gedonnert ist? Das geht nicht so schnell kaputt! Probiers ruhig nochmal aus.«
Ich nicke zögerlich und schiebe den Gasknüppel langsam wieder nach oben, drehe mit rechts den Hubschrauber ein bisschen im Kreis, um in eine andere Richtung zu fliegen. Aber irgendwie verstehe ich die Steuerung nicht. Der Hubschrauber ist vor mir nach rechts gerichtet und fliegt auf eine Wand zu, also schiebe ich den rechten Knüppel nach vorne, damit er nach vorne fliegt. Er fliegt aber trotzdem weiter nach rechts, diesmal noch schneller und knallt gegen die Wand, fällt zu Boden.
»Das ist echt schwer!«, stelle ich frustiert fest und lasse die Arme mit der Steuerung sinken. »Außerdem ist die blöde Steuerung kaputt. Die macht nicht, was ich sage.«
»Ach, man braucht nur ein bisschen Übung, Ruhe und Konzentration.« Roy steht auf, stellt den Hubschrauber abermals richtig und setzt sich anschließend hinter mich. »Schau, so!« Mit Links greift er an mir vorbei und legt seine Hand auf meine rechte, hält mit mir zusammen den rechten Knüppel. Sein Unterarm streift meinen Bauch und seine Hand ist kalt und zittert leicht. Er ist nervös, denke ich und das beruhight mich ein bisschen. Wenigstens bin ich nicht die Einzige!
Trotzdem wird mir warm und ich bin mir sicher, dass ich mich jetzt noch weniger konzentrieren kann.
»Jetzt gib Gas!«, flüstert er mir sanft ins Ohr und ich erschaudere leicht beim Klang seiner Stimme so dicht neben meinem Ohr.
Der Hubschrauber hebt sich langsam wieder in die Luft und Roy lässt ihn leicht Richtung Raummitte fliegen. »Lass ihn noch was höher fliegen!«, weist er mich an und ich tue, was er sagt. Nun steuert er ihn über unsere Köpfe und lässt ihn dort ein wenig fliegen. Ich spüre den Wind, den er mit seinen Rotorblättern verursacht und muss schmunzeln.
»Hätte nicht gedacht, dass die so viel Wind machen!«, sage ich belustigt zu Roy, ignoriere mein wild rasendes Herz und er nickt.
Gekonnt steuert er den Hubschrauber wieder in Richtung Raummitte und lässt ihn dort ein wenig schweben. »Jetzt geh langsam vom Gas runter!«
Langsam lasse ich den Gasknüppel sinken und der Hubschrauber nähert sich immer mehr dem Boden, bis er schließlich ganz steht und ich das Gas abschalte.
»Siehst du? Hat doch gut geklappt!«, lächelt Roy mich an und löst sich von mir.
Benommen nicke ich. »Ich will nochmal!«, sage ich leise und Roy lacht leicht.
»Dann versuch's nochmal!«
»Hilf mir noch einmal dabei! Bitte!«, bitte ich ihn und spüre, wie sich meine erhitzten Wangen noch etwas röter färben. Diesmal vor Scham. Roy nickt schmunzelnd und rutscht wieder ein Stück an mich ran, schlingt seinen Arm um mich und wir lassen den Hubschrauber ein zweites Mal fliegen.
PS: Die Widmung ist für dich jesuissophia, weil du eine wirklich tolle Freundin hier auf Wattpad für mich geworden bist und mich durch deine lieben Kommentare motivierst und mir Mut gibst, dass das, was ich da schreibe, nicht totaler Mist ist.
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