27 | Gute Manieren und Fauxpas

2.076 Worte

»Ich habe euch auch schrecklich vermisst, Dad«, sage ich und erwidere seine Umarmung.

Mein Vater lässt mich los und schon werde ich von meiner Mutter zerquetscht, die hinter meinem Dad in Lauerstellung gelegen hat. Roy ist noch völlig nebensächlich, was mir unglaublich leid für ihn tut. Hilflos stehter neben mir und weiß nicht, wie er sich verhalten soll. Zusätzlich versucht er seinen Makel zu verbergen, indem er sich schon fast seitlich zur Tür stellt.

Ich erlöse ihn, als meine Mutter mich wieder freigibt. Glücklich nehme ich seine Hand und verkünde: »Mum, Dad, das ist Roy.«

Am Telefon habe ich meine Eltern bereits darauf vorbereitet, dass meinem Freund ein Arm fehlt und habe ihnen auch erklärt, wie sie am besten damit umgehen sollen. Davon weiß Roy allerdings nichts. Ich war so gemein und habe ihm diese Information vorenthalten.

»Du scheinst etwas ganz Besonderes zu sein, wenn du meiner Tochter bis nach Hause gefolgt bist«, lächelt Dad und reicht Roy seine Hand. Ich muss schmunzeln, als ich bemerke, dass er genau den gleichen Fehler macht wie ich damals. Hastig wechselt er die Hände. »Ich bin Abraham. Das ist meine Frau Silvia.«

Nachdem ich seine losgelassen habe, ergreift Roy die angebotene Hand. Er wirkt noch angespannter als zuvor, obwohl meine Eltern entspannt sind. Aber womöglich macht er sich wegen Dads Fauxpas nur noch mehr Gedanken um die Tauglichkeit als mein Freund. »Roy Cohen. Freut mich Sie endlich kennenzulernen. Ich weiß, ich bin vermutlich nicht der Mann, den sie sich für ihre Tochter vorgestellt haben, aber - «

»Jungchen, wir haben uns gar keinen Mann vorgestellt, weil wir vollstes Vertrauen in das Urteilsvermögen unserer Tochter haben. Und wenn sie dich ausgewählt hat, bin ich davon überzeugt, dass du ein anständiger junger Kerl bist und dann ist es mir egal, ob dir ein Zahn, ein Finger oder ein halber Arm fehlt.«

Perplex von der Reaktion meines Vaters starrt Roy ihn ein paar Sekunden lang nur an. »Wie?« Sein Kopf schnellt zu mir. »Hast du's ihnen erzählt?«

Ich lache. »Ja. Ja, habe ich.«

Aus Roys Miene kann ich nicht erschließen, ob ihm dieser Umstand nun gefällt oder nicht, aber er kann vor den Augen meiner Eltern keinen Streit mit mir anfangen, weshalb er sich schnell meiner Mutter zuwendet und auch ihr die Hand reicht. Seine Gedanken wird er mir später mitteilen, wenn wir unter uns sind. Da bin ich sicher.

»Gut Manieren hat er schon mal, Schatz«, richtet sich mein Vater an mich und zwinkert mir zu. »Kommt doch rein. Es wird kalt. Deine Schuhe kannst du dort abstellen und die Jacke kannst du hierhin hängen«,sagt mein Vater und zeigt Roy, wo er seine Sachen ablegen kann.

»Habt ihr Hunger? Ich habe gekocht und dann könnt ihr essen, während du uns alles haarklein erzählst. Vor allen Dingen, wie ihr euch kennengelernt habt«, meldet sich nun auch meine Mutter zu Wort. Wie das alles zustande gekommen ist, darüber haben die beiden bisher nämlich nur spekulieren können.

Am fertig gedeckten Küchentisch sitzt mein kleiner Bruder, der sich mit meinem Auftreten erhebt und mich ebenfalls freudig in seine Arme schließt. Vincent mag es nicht, sich mit mehr als einer weiteren Person im beengten Flur aufzuhalten, weshalb er immer in der Küche wartet, wenn wir Gäste einladen.

»Vincent, das ist Roy«, stelle ich meinen Freund auch meinem Bruder vor. Man sieht dem Dunkelhaarigen deutlich an, dass er als Kind einen Wasserkopf hatte. Seine Schläfen sind leicht eingebeult und heben seine unnormal hohe Stirn hervor. Unter einer Brille blinzeln mich seine großen, leicht hervorstehenden Augen an und die Spitzen seines braunen Haares berühren seine Hörgeräte.

Er reicht Roy nur wortkarg seine Hand und nickt ihm zu.Mein kleiner Bruder braucht seine Zeit, um mit Fremden warm zu werden, was ich Roy bereits erklärt habe, er hat sich also darauf einstellen können. Im Gegensatz zu mir und Dad streckt er ihm aber direkt die Linke entgegen.

»Dann lasst uns Essen.« Mum weist mir und Roy noch einen Platz zu und präsentiert uns dann ihr köstliches Abendessen, dessen Duft schon die gesamte Küche und einen Teil des Flurs ausfüllt.

Bis spät in die Nacht sitzen wir zu viert - mein Bruder hat sich irgendwann verabschiedet, um schlafen zu gehen - am Tisch und erzählen. Gut, größtenteils erzählen Roy oder ich und Mum und Dad stellen Fragen, aber hin und wieder läuft es auch andersherum und die beiden berichten mir, was ich das letzte Jahr über verpasst habe.

Die andere Doppelhaushälfe ist nun neu vermietet, da das ehemalige ältere Ehepaar leider verstorben ist. Erst sie und zwei Monate später er. Der Bäcker, bei dem wir jahrelang eingekauft haben, ist pleite gegangenund ein neuer Supermarkt hat eröffnet. Im Großen und Ganzen habe ich also nicht viel verpasst.

Meine Geschichte - vom geklauten Geld, über die kaputte Klimaanlage bis zum spontanen WG-Einzug und der daraus entstandenen Beziehung - ist dagegen wesentlich interessanter. Zum Glück sind meine Eltern keine von der Sorte, die dann peinliche Kommentare abgeben. Zuminidest meistens. Aber an diesem Abend halten sie sich zurück, wofür ich ihnen ausgesprochen dankbar bin.

Nur einmal wird es kurzzeitig unangenehm, als Mum fragt, wie das mit Roys Arm denn passiert ist. Roy scheint jedoch für diese Frage gewappnet zu sein und erzählt ihr in abgespeckter Form vom Haiangriff.

Um halb drei fallen wir vollkommen übermüdet endlich in mein Bett, das zum Glück mehr Platz als seins in Dallas bietet.

»Siehst du, du hast dir ganz umsonst Sorgen gemacht. Meine Eltern sind dir ebenso verfallen wie ich«, schmunzle ich und stupse seine Nase mit meiner an, während Roys Hand in meinen Haaren verweilt und meine Kopfhaut massiert.

»Wie konntest du sie bloß vorwarnen und mir nichts davon erzählen?« Vorwurf schwingt in seiner Stimme mit, aber er hört nicht auf meine Kopfhaut zu verwöhnen. Daraus schließe ich, dass er mir nicht allzu böse ist. Trotzdem weiß ich, dass er nur darauf gewartet hat, diese Frage zu stellen.

»Na, ich bringe schon einen fremden Mann von meinen Roadtrip mit, da wollte ich sie nicht gegen eine Mauer laufen lassen, wenn sie die Tür öffnen«, besänftige ich ihn und streiche über seine Wangenknochen. Trotzdem nimmt Roy seine Hand aus meinen Haaren. Ich seufze. Die Sache ist für ihn noch nicht erledigt.

»Aber du hättest es mir doch auch erzählen können. Warum hast du es mir nicht gesagt? Dann wäre das alles auch für mich wesentlich einfacher gewesen.« Roy richtet sich auf und mir bleibt nichts anderes übrig, als es ihm gleich zu tun.

»Was wäre denn so anders daran gewesen, wenn du gewusst hättest, dass sie Bescheid wissen?«, frage ich immer noch ruhig und zärtlich.

»Na alles. Ich wäre wesentlich weniger nervös gewesen und hätte mir definitiv mehr Gedanken darum gemacht, wie ich mich ihnen gegenüber verhalten soll, anstatt mir zu überlegen, wie ich ihnen beibringen soll, dass der Freund ihrer Tochter nur einen Arm hat und auch noch von wer weiß woher kommt.«

»Aber es ist doch auch so alles glatt gelaufen.«

»Das rechtfertigt aber nicht, dass du es mir verheimlicht hast.« Ein wenig aufgebracht fährt sich durch die bereits abstehenden Haare.

»Ich wollte, dass du glaubst, sie wüssten es nicht. Unter normalen Umständen wäre das doch auch so gewesen und ich wollte, dass du siehst, dass es meinen Eltern egal ist.« Sanft nehme ich seine Hand und platziere ein Küsschen darauf. Danach lehne ich mich gegen ihn und lege meine Lippen auf seine. Langsam lässt er sich zurücksinken, stoppt aber abrupt und hält mein linkes Handgelenk fest, als ich mit meinen Fingern seinen nackten Oberkörper hinauffahre.

»Deine Eltern liegen gerade mal zwei Zimmer weiter. Ich kann unmöglich jetzt mit dir schlafen. Dann könnte ich ihnen morgen nicht mehr in die Augen schauen.«

Er hat recht. Das kann ich meinen Eltern nicht bereits an meinem ersten Abend zu Hause antun. Ich war schon überrascht, als sie nicht ein Wort dazu gesagt haben, dass wir zusammen in meinem Bett schlafen werden. Auch wenn ich erwachsen bin, hätte ich ihnen soetwas durchaus zugetraut.

Enttäuscht lasse ich mich auf Roys Brust sinken und lausche seinem schlagenden Herzen. Eine feine Linie aus Härchen zieht sich von seinem Bauchnabel bis zum Brustkorb. Liebevoll fahre ich sie nach und merke, wie er ein wenig zusammenzuckt.

»Annie, du weißt doch, dass ich da empfindlich bin«, schmunzelt er.

»Du meinst wohl eher kitzelig«, grinse ich zurück und reize seine Nervenzellen noch ein bisschen aus, indem ich meine Finger weiterhin über die Stelle wandern lasse.

»Annie!«, empört er sich und versucht meine Hand abzuwehren, was ich geschehen lasse, kommt aber nicht drumherum, lachen zu müssen.

Eine Woche habe ich jetzt noch mit ihm, dann wird er zurück nach Dallas fliegen und wir werden uns für eine lange Zeit nicht sehen.

Mein Bauch schmerzt, wenn ich nur daran denke. Ich hoffe, dass wir das überstehen, denn wie lange wir uns nicht sehen werden, ist noch völlig unklar.

»Ich liebe dich«, sage ich aus einem plötzlichen Impuls heraus und schmiege mich wieder dicht an ihn.

»Ich dich auch.«


Roy und ich schlafen bis ein Uhr mittags und bleiben selbst als wir aufwachen noch eine halbe Stunde liegen, in der wir einfach nur eng umschlungen zusammen kuscheln.

Als wir uns schließlich endlich dazu überwinden können, aufzustehen, gibt es bereits bald Mittagessen. Danach wollen wir Sharon besuchen. Ich habe ihr versprochen, möglichst sofort nach meiner Ankunft zu ihr zu fahren. Und das werden wir heute tun.

»Hast du sie informiert?«, fragt Roy, als wir im Auto meiner Eltern vor Sharons kleinem Apartment halten.

»Nein, habe ich nicht. Ehrlich gesagt, weiß sie nicht mal, dass du überhaupt existierst, nur, dass ich gestern abgekommen bin und sie heute besuchen will«, gebe ich zu und sehe, wie Roy erneut nervös wird und seine Hand an seinem Oberarm reibt. »Hey, halb so wild. Sie ist nur meine Freundin und nicht meine Eltern.«

»Ja, und weißt du, welche Folter es ist, wenn die beste Freundin deiner festen Freundin dich nicht leiden kann? Sie wird versuchen, dich dazu zu überreden, mich in den Wind zu schießen und irgendwann, wenn sie lange genug auf dich eingeredet hat, wirst du das wirklich in Erwägung ziehen und dann - «

Ich lache und unterbreche seinen schon beinahe panischen Redeschwall, indem ich ihm eine Hand vor den Mund halte und ihm anschließend einen Kuss auf die Stirn drücke. »Hör auf den Teufel an die Wand zu malen. Sharon ist eine tolle Person. Du wirst sie mögen.«

»In den letzten Tagen habe ich das schon ungefähr zehn Mal zu jeder Person, die du mir bis jetzt vorgestellt hast, gehört«, wendet er ein.

»Und? Bis jetzt hat es sich doch bestätigt, oder? Außerdem hast du zu mir genau das Gleiche gesagt, als du mich mit deinen WG-Mitbewohnern bekanntgemacht hast.«

Gut gelaunt steige ich aus dem Auto aus und ignoriere, dass er zum nächsten Einwand ansetzen will, gehe einfach zum Kofferraum. Dort nehme ich die Schachtel mit den Kleinigkeiten, die ich für Sharon während des Jahres gesammelt habe, hervor und werfe einen letzten prüfenden Blick darauf. Jede Geschenkpapierfalte sitzt an Ort und Stelle.

»Sicher, dass ich nicht im Auto warten soll und du erstmal mit ihr alleine bist und dann, wenn du mich langsam angekündigt hast, kannst du mir ja schreiben und ich komme zu euch rein«, versucht Roy sich nochmal zu retten, als er neben mich tritt und deutet unbeholfen Richtung Auto.

»Jetzt stell dich nicht so an und sei ein Mann.« Um ihm klarzumachen, dass er keinen Rückzug mehr machen kann, halte ich Roy meine Hand hin, während ich auf der anderen das Geschenk für meine Freundin balanciere.

So wie ich ihn kenne, will er gerade zu einem Protest ansetzen, als eine Stimme zu uns herunterschallt. »Dass du einen heißen Sunnyboy mitbringst, hast du mir aber nicht erzählt.«

Augenblicklich zuckt Roy zusammen und sucht hektisch nach der Quelle für diese Aussage. Die findet er zwei Stockwerke über uns. Eine Frau mit brauner Kurzhaarfrisur schaut aus einem der Fenster und grinst uns belustigt an. »Nun steht da nicht so rum und kommt hoch zu mir. Du hast mir so einiges zu erklären, Annie.«

Ich seufze glücklich, wissend, was mich gleich erwarten wird. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, okay?«, wende ich mich ein letztes Mal an Roy, bevor ich mit ihm zur Tür des Mehrfamilienhauses gehe.

Der Öffner surrt bereits laut, als wir davor ankommen und ich komme nicht drumherum, über Sharons Ungeduld zu schmunzeln. Gemeinsam laufen wir die Treppen nach oben, bis wir vor der Tür der jungen Frau, die schon ganz aufgeregt im Türrahmen wartet, stehen bleiben.

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