20 | Am seidenen Fädchen
»Wo denn?«, frage ich leise und drehe meinen Kopf über die rechte Schulter, gerade soweit, dass ich Roy aus dem Augenwinkel sehen kann. »Bei dir oder bei mir?«
»Das entscheide ich spontan«, ist seine einfache Antwort darauf. Danach bringt er wieder Abstand zwischen uns, damit die anderen sich nicht fragen, warum wir immer noch reglos im Türrahmen stehen, anstatt zum Essen zu kommen, und geht in die Küche, in der Eddie bereits fleißig die Sitzordnung am verkünden ist.
Das ist mir zwar neu, da sich sonst einfach jeder dahin setzt, wo er gerade Platz findet, aber ich kann mir denken, zu welchen Zweck sie festlegt, wo jeder zu sitzen hat. Vermutlich gehört das alles zu ihrem Beziehungskrach - Schlicht - Plan.
»Vaughn, du sitzt vor Kopf und Ryan über Eck auf der linken Seite, ich sitze dir gegenüber, Joan sitzt neben mir, danach kommt Annie und auf Ryans Seite sitzen noch Hillary und Roy.«
Und dieser Plan scheint kurze Zeit später sogar aufzugehen, denn mit jeder weiteren Minute, die wir am Tisch sitzen, essen und reden, scheint sich die Anspannung zwischen der braunhaarigen Schönheit und Ryan zu lösen, sodass sie sich nach dem Essen relativ schnell in sein Zimmer verziehen.
Der Rest von uns räumt zusammen die Küche auf und als Eddie und Hillary bereits weg sind und ich noch gerade den Lappen, mit dem ich den Tisch abgewischt habe, auspüle, spüre ich plötzlich Roys warmen Atem in meinem Nacken. Abrupt halte ich in meinem Tun inne. »Ich hab mich doch schon entschieden. Wir gehen zu mir.«
»Okay«, hauche ich leicht benommen und hänge den Lappen über den Wasserhahn am Spülbecken.
»Aber nur, wenn ich das hier machen darf.« Bevor ich fragen kann, was er mit ›das hier‹ meint, spüre ich wie seine Hand die Haare aus meinem Nacken streicht und warme Lippen meine Haut treffen.
Augenblicklich beschleunigt sich mein Puls um das zehnfache und sämtliche Härchen, die ich an Armen und im Nacken habe, stellen sich auf. Seine Lippen an meiner Haut verziehen sich zu einem Grinsen. Natürlich hat er mitbekommen, welche Reaktion mein Körper auf seine Berührung zeigt. Wahrscheinlich genau die von ihm erwünschte.
Viel zu schnell löst er sich wieder von mir, greift um mich rum und nimmt meine rechte Hand, führt mich die Treppen hoch in sein Zimmer.
Ich wundere mich über seine plötzliche Bestimmtheit, die an den Platz der zaghaften Schüchternheit getreten ist, lächle aber auch gleichzeitig über seine Behutsamkeit, mit der er trotz allem vor geht. »Roy, was hast du vor?«
»Nur Zweisamkeit mit dir genießen und noch mehr von deiner Persönlichkeit kennenlernen«, äußert er unverblümt und öffnet mit einem kleinen Stoß seine Zimmertür, sodass diese von alleine auffliegt, wofür er leider meine Hand loslassen muss. »Nach dir.«
Ich lasse mich auf seinem Bett nieder, Roy setzt sich links neben mich und plötzlich ist alle Bestimmtheit aus seinen Handlungen gewichen und er greift nur sanft nach meiner Hand, die auf seiner Bettdecke ruht.
Ich lasse meinen Blick noch einmal ausführlich durch sein Zimmer schweifen, obwohl inzwischen schon zum dritten Mal hier drin bin. Meine Augen wandern zu dem Surfposter und ich bekomme die Vermutung, dass dieser Sport etwas mit seinem Unfall zu tun hat, nicht aus meinem Kopf.
Ich sehe ihn an und schweife dabei kurz den Stumpf seines rechten Armes. Roys Blick ist so warm und so zärtlich, dass ich plötzlich keinerlei Hemmungen mehr verspüre, ihm die Frage zu stellen, die mir schon seit dem Tag meiner Ankuft auf der Zunge brennt.
»Wie ist es passiert?«
Seine Reaktion zeigt mir, dass er mit dieser Frage gerechnet hat. »Als wir unser erstes Date hatten, bin ich davon ausgegangen, dass das deine allererste Frage sein wird, aber du hast mich immer wieder aufs Neue überrascht, hast mir andere, teilweise persönlichere Fragen gestellt und wenn ich dir nicht angesehen hätte, dass du diese Frage eigentlich unbedingt stellen willst, hätte ich bald geglaubt, du hast gar kein Interesse an dieser Geschichte. Aber ich wollte sie dir auch nicht einfach so erzählen, ich wollte, dass du fragst und habe mir täglich Gedanken darüber gemacht, wie ich sie dir erzählen soll.« Ich spüre, wie Roy beginnt mit seinem Daumen zärtlich über meinen Handrücken zu streichen, wende meinen Blick aber nicht von seinen wunderschönen, kaffeebraunen Augen.
»Vor zwei Jahren bin ich mit zwei Freunden von zu Hause runter nach Housten an die Küste, um zu surfen.« Ich wusste, dass es etwas damit zu tun hat. »Der Strand war bis auf vier, fünf andere Surfer fasst leer und die Wellen waren perfekt, also sind wir ins Wasser und haben gesurft, bestimmt zwei bis drei Stunden lang. Dann haben wir eine Pause am Strand gemacht. Danach wollte ich nochmal ins Wasser, um ein letztes Mal zu surfen, bevor wie zurückfahren würden.
Meine rechte Hand baumelte ruhig im Wasser, während ich auf eine Welle wartete. Ich habe den Hai nicht einmal kommen gesehen, alles geschah innerhalb von Sekunden, wodurch der Schmerz erst mit verzögerter Wirkung eintrat.
Der Hai ist beinahe senkrecht aus dem Wasser geschossen und hatte knapp über meinem Ellebogen in meinen Arm gebissen.
Ich sehe jetzt noch, wie sich das Wasser um mich herum innerhalb von Sekunden hellrot gefärbt hat.« Roy schluckt kurz und hält in seinen Erzählung inne, um dann mit leicht belegter Stimme fortzufahren. »Erst da blickte ich auf meinen Arm, der nur noch an einem seidenen Fädchen an mir hing.
Nur knapp fünfzehn Meter neben mir hatte ebenfalls ein Surfer im Wasser gewartet, der in Sekundenschnelle handelte, als er begriff, was da gerade passiert war. Blitzschnell brachte er mich an Land und benutzte eine Surfleine als Aderpresse, um die Blutung zu stillen. Ansonsten säße ich hier heute vielleicht gar nicht.«
Nun muss auch ich schlucken. Ich habe mich immer nur gefragt, wie es zu diesem furchtbaren Unfall gekommen ist. In der ganzen Zeit habe ich aber nicht ein Mal in Erwägung gezogen, dass Roy sein Leben hätte verlieren können.
»Und seitdem surfst du nicht mehr?«
»Nein. Ich vermisse es schon, aber...«
»Aber die Angst ist zu groß, oder?, vervollständige ich seinen Satz.
»Ja.« Roy unterbricht unseren Blickkontakt, atmet darauf einmal tief ein und setzt wieder ein Lächeln auf. »Darauf folgte das Drama um Faren, wie du bereits weißt. Aber es hat auch etwas Gutes - man muss dem einfach etwas Positives abgewinnen, sonst kommt man damit niemals klar - ohne diesen Unfall hätte ich Deborah niemals kennengelernt.«
Ich rutsche näher an ihn heran und lege meinen Kopf auf seine Schulter. »Wie hast du sie kennengelernt?«, frage ich lächelnd, weil ich merke, dass er für heute genug an den Unfall gedacht hat. Trotzdem bewundere ich ihn für seine Stärke, dafür dass er das alles durchgehalten hat ohne völlig daran kaputt zu gehen.
Der Blondschopf gluckst und hebt den Arm, legt seine Hand vorsichtig auf meinen Kopf, sodass ich mit einem wohligen Gefühl die Augen schließe. »Du bist heute wohl unermüdlich«
»Jaa.«
»Deborah stolperte ganz unverhofft in mein Zimmer, weil sie sich in ihrer Zimmernummer vertan hatte.« Ja, so konnte ich mir das vorstellen. »Ich war gerade zwei Tage im Krankenhaus und hatte soeben wütend meine Familie aus meinem Zimmer vertrieben, weil ich ihre Blicke nicht mehr ertragen konnte. Ständig sah ich ihren mitleidvollen Ausdruck und wurde dadurch ständig aufs Neue darauf hingewiesen, dass mir nun ein entscheidener Teil meines Körpers fehlte. Aber ich alleine schaffte es auch ganz gut, mich darauf hinzuweisen.
Beschämt wollte ich den Kopf in meinen Handflächen vergraben, weil sie ja doch nichts für meine Situation konnten, musst dadurch aber nur wieder feststellen, dass das nicht mehr ging. Das war schlimm.
Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass die Tür aufgegangen war. ›Hoppla, das ist ja gar nicht mein Zimmer‹, hatte sie lachend festgestellt und ihr Blick war dabei wohl auf mich gefallen, wie ich wie ein Häufchen Elend in meinem weißen Krankhausbett saß, das sich gar nicht von dem Verband um meinen ... Stumpf abzuheben schien.« Er versucht zwar, es sich nicht anmerken zu lassen, aber ich bemerke, dass ihm dieses Wort anscheinend immer noch Unbehagen bereitet.
»›Jungchen, ist denn keiner von deiner Familie hier?‹, waren die ersten Worte, die sie an mich richtete. Wenig einfühlsam, würde mancher jetzt sagen, aber ich glaube, das war genau das Richtige. Ich konnte die dahingeplänkelten Floskeln von Freunden und Familie nicht mehr hören. ›Das wird schon wieder‹ und ›Kopf hoch!‹. Wie sollte das schon wieder werden? Ein Arm wächst nicht nach.
Zuerst wollte ich auch Deborah rausschmeißen, aber dann entdeckte ich den Verband an ihrer Hand und dachte, wenn sie hier auf der Station liegt, kann sie vielleicht ein wenig nachvollziehen, wie es mir geht. Also schaute ich sie einfach nur an, was sie als Aufforderung sah, einzutreten. Und sie konnte mich verstehen. Sie war so ziemlich die Erste, die mir nach diesem Unfall ein kleines Lächeln entlockte. Tja, und wir stehen bis heute in Verbindung. Was soll ich sagen, sie arbeitet ja sogar in meiner Tankstelle.
Aber die Geschichte erzähle ich dir wann anders. Es ist schon spät, ich glaube, wir sollten langsam mal schlafen gehen.«
»Ich glaube, das tue ich schon fast. Zumindest, wenn du weiterhin so mit deiner Hand über meinen Kopf streichelst«, lache ich, öffne die Augen und nehme den Kopf von seiner Schulter, blicke Roy schon leicht schlaftrunken an. Dann fällt mein Blick wieder auf seinen Stumpf. Und plötzlich überfällt mich ein starkes Bedürfnis.
»Ich würde ihn gerne anfassen.« Unsicher blicke ich ihm wieder in die Augen. »Darf ich?«
Roy nickt nur kurz und dreht sich mehr zu mir hin, setzt sich frontal zu mir auf sein Bett.
Langsam hebe ich meine Hand und berühre die Haut mit sanften Fingerspitzen an der amputierten Stelle. Dafür, dass es eigentlich eine Narbe ist, ist sie erstaunlich glatt. Ein kurzes, starkes Einatmen von Roy geht mit dieser Berührung einher, woraufhin ich meine zweite Hand hinzunehme und den Stumpf umschließe.
»Es fühlt sich wunderschön an.«
»Oh Gott, Annie, du glaubst nicht, wie viel Angst ich vor diesem Moment hatte. Ich hatte solche Angst, es würde dich abstoßen. Oder die Geschichte würde dich abstoßen. Oder - «
»Roy, das gehört zu dir. Warum sollte es mich abstoßen, wo ich es doch schon längst gesehen habe?«, frage ich sanft und lasse die Hände sinken.
»Man macht sich Gedanken, auch wenn es wahrscheinlich völlig unsinnig ist«, antwortet er schulterzuckend.
»Darf ich heute Nacht hier schlafen? Bei dir?« Die Frage ist draußen, ehe ich ganz realisiert habe, was ich da überhaupt gefragt habe. Aber ich will sie jetzt auch nicht mehr zurücknehmen.
Unsere Beziehung oder Art von Beziehung ist merkwürdig. Ich wollte noch keine Beziehung mit ihm eingehen, weil ich ihn zu wenig kannte, kenne und dennoch sind wir so vertraut miteinander und verhalten uns zeitweise, als wären wir schon seit Jahren zusammen. Und dann gibt es Momente, in denen wir uns nicht weiter trauen, als des anderen Hand zu fassen. Und obwohl das Ganze zwischen uns ziemlich undurchsichtig, verschwommen und widersprüchlich ist, mag ich es doch. Ich mag diese innige Vertrautheit auf der einen Seite und auf der anderen Seite liebe ich es, das Gefühl der frischen Verliebtheit zu genießen.
»Hier?«, fragt Roy überrascht und ich nicke zögerlich, erwarte aber schon fast, dass er mich zurückweist. In dem Bett wäre wahrscheinlich ohnehin zu wenig Platz für uns beide. »Aber nur, wenn du nichts gegen mein schmales Bett hast.«
»Ich - Nein, nein absolut nicht. Dann, dann gehe ich mich gerade umziehen«, sage ich noch etwas perplex davon, dass er tatsächlich zugestimmt hat und deute umständlich Richtung Tür.
»Warte, du kannst das hier anziehen.« Roy geht zu seinem Kleiderschrank und zieht ein übergroßes T - Shirt daraus hervor. »Das hat Eddie mir letztes Jahr zum Schrottwichteln geschenkt. Es ist mir drei oder vier Nummern zu groß.«
Immer noch etwas überrascht, aber innerlich freudig, nehme ich ihm das Oberteil aus der Hand und überlege, ob ich...
»Ich drehe mich weg«, beantwortet Roy meine stille Frage und ich drehe mich ebenfalls mit dem Rücken zu ihm und streife mir mein Oberteil über den Kopf, ziehe danach das T - Shirt in Übergröße an, das mir bis zur Mitter der Oberschenkel reicht - zum Glück habe ich mich gestern nochmal rasiert -, und schlüpfe dann aus meiner Jeans. Fertig umgezogen drehe ich mich wieder zu Roy. »Okay.«
Einen Augenblick starrt er auf meine nackten Beine, was in mir jedoch überraschenderweise kein unbehagliches Gefühl hervorruft. Schließlich hat er mich auch schon in kurzer Hose gesehen, in der ich mindestens genauso viel nackte Haut gezeigt habe.
Er räuspert sich. »Möchtest du noch eine Hose haben oder ist da - «
»Nein, so ist es okay. Also, wenn es dir nichts ausma - «
»Nein, nein macht es ni - «
Ich beginne zu lachen, weil wir uns wegen unserer eigenen Unsicherheit gegenseitig ins Wort fallen, was Roy verstummen lässt, dann zieht er grinsend eine Augenbraue in die Höhe. »Was ist so lustig?«
»Wir. Weil wir uns verhalten wie frisch verliebte Teenager«, erkläre ich ihm schmunzelnd, damit er bloß nicht auf die Idee kommt, das würde mich stören.
Bei meiner Antwort schleicht sich auch auf seine Lippen ein Lächeln und seine dunklen Augen werden unergründlich. »Ich denke, das liegt daran, dass ich Angst habe, es mir mit dir zu verscherzen.«
A/N: Die liebe onelittlelovestory hat ebenfalls ein Fan - Cover für mich erstellt und ich finde es ganz bezaubernd. Was haltet ihr davon? ;)
Mal ne Frage: Welche Schriftart hast du für die Namen benutzt?
Ich muss jetzt aber noch ein paar Worte zu dem Kapitel sagen. Roys Unfall ist aus einem Sachbuch über Haie inspiriert, dass ich mir vor Jahren mal geholt habe und in dem ein Mädchen erwähnt wird, dass bei einem Unfall wie oben geschildert, seinen Arm verloren hat. Allerdings den gesamten und nicht wie Roy, nur bis zum Ellebogen. Dieses Mädchen geht aber auch noch surfen.
Und kvnstlermxdchen war das deine Theorie? ;)
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