10 | Ein anständiger junger Mann
2.408 Wörter
Die nächsten drei Tage vergehen wie im Flug. Morgens nehmen Roy oder Hillary mich zur Arbeit oder zum Wohnmobil mit und abends holt Roy mich ab. Auch, wenn ich mich am Anfang etwas dagegen gesträubt habe, weil er wirklich zu viel für mich tut, schon während der ersten Autofahrt habe ich das Gefühl wieder genossen alleine mit ihm zu sein. Abends in der WG bietet sich dafür nämlich kaum Gelegenheit. Die anderen würden uns zwar in Ruhe lassen, aber entweder ist er platt von der Arbeit oder ich, wenn wir nach Hause kommen und so gehen wir beide immer recht schnell zu Bett.
Hillarys und Eddies leichte Feindseeligkeit scheint sich auch mit jedem Tag mehr zu legen. Sie brauchten wahrscheinlich einfach ihre Zeit sich an mich zu gewöhnen. Ich wusste schließlich, dass ich ihnen nichts wollte. Sie mussten auf das Wort einer dahergelaufenen Fremden vertrauen, die nicht mal Roy wirklich kannte.
An Ryans Verhalten hat sich nach wie vor nicht wirklich etwas geändert. Aber ich bemerkte, dass er nicht nur auf mich so geladen und feindselig reagiert. Auch die anderen behandelt er schroff. Womöglich ist er einfach jemand, der seine schlechte Laune nach außen trägt und das auch alle anderen um sich herum spüren lässt. Wobei ich mich frage, was ihm so schlechte Laune bereitet. Zum Glück begegnen wir uns nicht allzu oft. Meistens ist er bis abends um acht arbeiten und verschwindet danach in seinem Zimmer, lässt sich nur zum Essen kurz blicken.
Zu einem weiteren Kuss zwischen mir und Roy ist es leider noch nicht gekommen. Nachdem wir den Hubschrauber ein zweites und auch ein drittes und ein viertes Mal gemeinsam haben fliegen lassen, gingen wir beide ohne große Worte zu Bett. Zuerst habe ich noch etwas verunsichert in seinem Zimmer gestanden und wusste nicht, ob ich ihn zum Abschied vielleicht umarmen sollte, wobei mir das im Nachhinein sehr übertrieben erscheint. Schließlich bin ich nur ins gegenüberliegende Zimmer gegangen. Jedenfalls bemerkte ich, dass ihm das gar nicht zu behagen schien. Hastig murmelte er ein »Gute Nacht«, als ich einen Schritt auf ihn zukommen wollte und ich wandte mich langsam und resigniert von ihm ab, murmelte ebenfalls etwas, was sich wie ein »Gute Nacht« anhörte.
Hillary hat mich dann am nächsten Morgen mit zur Arbeit genommen, weil sie in die gleiche Richtung musste. Und auf eine gewisse Weise hat mich das verletzt. Wenn Roy gemerkt hat, dass er vielleicht doch nicht mehr in mir sieht als jemand, der eine gute Freundin werden könnte, dann hätte er mir das sagen können und mich nicht so demütigend abweisen sollen. Dann hätte er mir durch unser Hubschrauberfliegen auch keine weiteren Hoffnungen machen sollen. Und dann hätte er mir erst recht keine Hoffnungen auf einen weiteren Kuss machen sollen.
Umso mehr verwirrte es mich zuerst, dass er sich bis auf dieses eine Mal mirgegenüber nicht anders verhält als sonst. Warum er auf einmal so abweisend war, hat er mir allerdings nicht erzählt und ich habe auch nicht danach gefragt, weil es mir kindisch erschien. Als er mich am Abend abgeholt hat, hatte ich bereits das Gefühl aus einer Mücke einen Elefanten gemacht zu haben. Wahrscheinlich ist ihm nicht mal bewusst, dass ich sein Verhalten als abweisend aufgefasst habe, weil er es gar nicht so gemeint hat. Wahrscheinlich wusste er selbst nicht, wie er sich von mir „verabschieden" sollte. Und das Hillary mich am nächsten Morgen mitgenommen hat, war einfach ein praktischer Zufall.
Trotzdem hat er mir noch so gut wie gar nichts über sich selbst erzählt. Das Einzige, was ich von ihm weiß, ist, dass er einen Bruder und eine Schwester hat, zu der er keinen Kontakt mehr hat. Weshalb, wollte er mir später erzählen, was er noch nicht getan hat. Außerdem will er seine Prothese nicht tragen, da sie seinen Arm nicht ersetzen kann. Bis auf diese zwei Dinge ist er für mich doch quasi ein Unbekannter. Ich weiß nicht, ob er einen Zweitnamen hat, was seine Lieblingsfarbe ist, was er mag und was überhaupt nicht, wie seine Eltern heißen, ob er je schon mal in einem anderen Bundsstaat war, welche Tiere er gern hat oder nicht gern hat und warum ihm ein Arm fehlt. Zugegeben, die Antwort auf die meisten Fragen kennt er auch von mir nicht, aber wenn er danach fragen würde, würde ich ihn mit der Antwort nicht erst vertrösten und später dann gar nichts mehr dazu sagen.
Geschafft von dem ganzen Gedankenchaos in meinem Kopf stoße ich Luft aus.
»War der Tag so anstrengend?«, kommt es prompt darauf von Roy, der mich kurz anschmunzelt und dann wieder nach vorne auf die Straße sieht. Da er heute die letzte Schicht in der Tankstelle hatte, brauchte er nur beim Wohnmobil vorbeifahren, um mich mit nach Hause zu nehmen und nicht noch mal extra quer durch Dallas kurven. Seine linke Hand ruht sanft auf dem Lenkrad und sein Brustkorb hebt und senkt sich gleichmäßig. Er sieht entspannt aus. Soll ich ihn da wirklich mit meinen Gedanken konfrontieren und ihm die Frage stellen, auf die er mir am Sonntag keine Antwort geben wollte? Andererseits, wie wollen wir uns besser kennenlernen, wenn wir nicht anfangen uns Fragen zu stellen? Bis jetzt haben wir das nämlich nicht wirklich getan. Ich gebe mir einen Ruck.
»Warum hast du keinen Kontakt mehr zu deiner Schwester?«
Nun ist er derjenige, der geräuschvoll ausatmet. Vielleicht hätte ich mit einer weniger persönlichen Frage anfangen sollen. Jetzt ist es zu spät. »Ich schätze, auf die Frage bin ich dir wohl noch eine Antwort schuldig, nachdem ich sie am Sonntag beseitegeschoben habe.« Er hält kurz inne. Wahrscheinlich um sich die richtigen Worte zu überlegen. Dann beginnt er mit belegter Stimme zu reden und ich bereue es jetzt schon ihn danach gefragt zu haben.
»Tara war immer schon Mum und Dads Vorzeigekind. Sie war ja auch ihr erstes, da wollte man zeigen, wie stolz man war und wie gut einem die Erziehung gelang. Vielleicht hat sie deshalb irgendwann ein bisschen über die Stränge geschlagen. Weil sie nicht mehr das brave kleine Mädchen sein wollte. Mit 17 ist sie jedenfalls schwanger geworden und hat mit 18 einen kleinen Jungen bekommen. Der Vater war damals schon volljährig und hat dadurch, dass er mit meiner minderjährigen Schwester geschlafen hat, eine Straftat begangen. Meine Eltern wussten nichts von ihm, erst als Tara schwanger geworden ist, erzählte sie von ihm.
Meine Eltern waren auf hundertachtzig. Ihre einzige und erste Tochter ließ sich mit siebzehn schwängern und dass, obwohl sie sonst nie irgendwelche Schwierigkeiten gemacht hatte, bis auf die kleinen Vergehen, die wohl jeder Teenie irgendwann mal macht. Das war schon ein ziemlicher Schlag in den Magen für sie. Dad schwor den Typen anzuzeigen und hätte ihm, als er das erste Mal bei uns zu Hause war, am liebsten eine reingehauen. Mum und Tara haben Tage vorher immer wieder auf ihn eingeredet. Wenn er ihn schlagen würde, würde das auch nichts besser machen und er solle ihn doch erstmal kennenlernen.
Und wir waren wohl alle ziemlich überrascht, als plötzlich ein anständiger junger Mann in normalen, nicht kaputten Jeans und sauberem Oberteil vor unserer Haustür stand. Er hatte sogar einen Job, der nicht gerade schlecht bezahlt war. Du glaubst nicht wie viel Honig er meinen Eltern an dem Tag ums Maul geschmiert hat. Er entschuldigte sich aufrichtig für sein absolut unverantwortliches Handeln und bedauerte, dass sie sich durch solch negative Umstände das erste Mal begegnen würden. Das alles klang so einstudiert, dass ich bald gedacht habe, an den Tagen, an denen Tara und Mum auf Dad eingeredet haben, hat er vor dem Spiegel seine Entschuldigungsrede geprobt.« Er lacht leicht bei der Erinnerung daran, was die Situation etwas entspannt. Denn ich habe jetzt schon das Gefühl, dass ich eine viel zu persönliche Frage gestellt habe.
»Er versprach gut für das Kind zu sorgen, was meine Eltern schließlich von einer Strafanzeige abbrachte. Ich selbst war damals noch 16. Tara zog bei ihm ein, weil unser Haus für noch eine weitere Person einfach zu klein war und die beiden jetzt schon versuchen wollten eine richtige Familie zu sein. Meinen Eltern missfiel das zwar sehr, aber sie hatten keine andere Wahl. Bald darauf merkte der Typ allerdings, dass eine schwangere Frau und danach ein Kind sehr viel Arbeit bedeuten und auch einige Schattenseiten haben. Meiner Schwester sagte er, dass er sich das anders vorgestellt hatte und dass er sich doch noch nicht binden wollte. Er wüsste außerdem nicht, ob sie wirklich die Frau seines Leben wäre. Dreckskerl!
Meiner Schwester riss das zusätzlich zu dem Kind, das ihr wahnsinnig viel Kraft raubte, den Boden unter den Füßen weg. Sie zog wieder nach Hause, wo wir alle nun ein bisschen zusammenrutschen mussten. Derek und ich zogen in Tara kleineres Zimmer um und sie machte es sich dafür in unserem bequem. Zum Vater haben wir seitdem keinen Kontakt mehr. Sein Sohn scheint ihm auch irgendwie egal geworden zu sein, denn er hat sich nicht einmal darum bemüht ihn zu Gesicht zu bekommen. So viel zu dem anständigen Kerl.
Drei Jahre später, ich war inzwischen 20 und sie 21, wurde sie erneut schwanger. Sie wohnte inzwischen schon wieder nicht mehr zu Hause, weil der kleine Racker einfach sein eigenes Zimmer brauchte, war durch das vermehrte Alleinsein mit einem Kleinkind und durch den Job, aber völlig geschafft und gestresst und rutschte, auch wenn meine Eltern versuchten ihr zu helfen, immer mehr ab.
Den neuen Typen hatte sie in irgendeiner Bar kennengelernt, während ihr Kind alleine zu Hause im Bett lag und hoffentlich schlief. Tara hat sich über die Zeit nicht wirklich zu der besten Mutter entwickelt, aber deshalb haben wir nicht den Kontakt abgebrochen. Im Gegenteil, meine Eltern haben alles getan, um ihr zu helfen, aber sie wollte nicht. Sie hat geschimpft, dass sie inzwischen alt genug wäre, um sich um ein Kind zu kümmern und auf die Anweisungen meiner Eltern getrost verzichten könnte. Ich erkannte meine eigene Schwester nicht wieder.
Ich weiß nicht, ob sie es letztendlich provoziert hat wieder schwanger zu werden, aber Fakt ist, dass sie es wieder geworden ist. Der zweite Vater war genauso verkorkst wie das Umfeld, in dem sie ihn kennengelernt hatte. Nichtsdestotrotz hielt er zu meiner Schwester, zumindest zeitweilig. Wahrscheinlich hatten sie beide irgendwie ein Kind gewollt.«
Inzwischen sind wir vor Roys Haus angekommen und er schaltet den Motor ab, dreht sich zu mir. Meine Kehle ist wie ausgetrocknet und ich schaue ihn hilflos an. Jetzt weiß ich, warum er am Sonntag nicht davon erzählen wollte. Es hätte die Stimmung wirklich ruiniert, aber leider ist er noch nicht fertig.
»Hatte meine Schwester sich vorher schon von meinen Eltern und ihrer Familie abgekoppelt, so tat sie es jetzt erst recht. Zusammen mit dem Typen zog sie in eine andere Stadt. Zwar besuchte sie uns zwischenzeitlich, aber das war höchstens einmal im Monat. Und von Mal zu Mal sah sie schlechter aus. Meistens hatte sie ein blaues Auge oder ein paar Kratzer. Es war offensichtlich, dass er sie schlug. Als meine Eltern sie bedrängten doch wieder nach Hause zu kommen und den Typen in den Wind zu schießen, brach sie den Kontakt ab. Sie behauptete, dass sie ihn liebe würde und er eigentlich gar nicht so schlimm sei und dass wir ihn schließlich gar nicht richtig kennen würden, um über ihn urteilen zu können.
Danach habe ich meine Mutter nächtelang weinen gehört. Sie war so hilflos. Wenn sie Tara anrief, wurde sie weggedrückt und wenn sie hinfuhr machte keiner die Tür auf. Sie hoffte, dass er zumindest die Kinder nicht schlug.
Seit etwas mehr als zwei Jahren haben wir jetzt schon keinen Kontakt mehr zu Tara. Hin und wieder schickt sie meiner Mutter mit der Post ein paar Fotos von den Kindern, aber das war's auch schon. Mum leidet schrecklich darunter und Dad könnte das Schwein jedesmal, wenn ein neues Lebenzeichen erscheint, in der Luft zerreißen. Ich weiß einfach nicht, was Tara bei ihm hält. Aber das fragt sich wohl jeder, deren Schwester, Tochter, Freundin oder was weiß ich in so einer Situation steckt.« Wütend ballt er eine Faust auf seinem Oberschenkel und starrt die Mittelkonsole an. Ich will nicht wissen, welche Mordgedanken er gerade gegen diesen Typen hegt.
»Ich - «, versuche ich irgendetwas dazu zu sagen, aber mir fällt absolut nichts ein. Mit so einer Story hatte ich nicht gerechnt. Eigentlich weiß ich nicht, womit ich überhaupt gerechnet hätte. Damit jedenfalls nicht. Ich bin niemand, der schnell weint und das tue ich auch jetzt nicht, aber das heißt nicht, dass mich die Geschichte nicht mit nimmt. Nur schwer kann ich mir vorstellen, wie Roy sich in dieser Zeit gefühlt haben muss.
Kopfschüttelnd schaue ich ebenfalls auf die Mittelkonsole zwischen uns. Mir fehlen schlicht die Worte. Was sagt man zu sowas? Zu oft verfluche ich meine schnelle Zunge und jetzt verfluche ich mich dafür, dass ich gar nichts sage. Ich muss doch irgendwas sagen! Schließlich wollte ich unbedingt eine Antwort auf die Frage. Verlegen knete ich meine Fingerknöchel und blicke ihn an.
»Roy - Ich - Ich - Das wusste ich nicht.« Das ist die mit Abstand bescheuerteste Antwort, die ich jemals hätte geben können. Natürlich wusste ich das nicht, sonst hätte ich schließlich auch nicht danach gefragt. »Sorry, das war 'ne blöde Antwort.« Ironisch lache ich auf und zucke mit den Schultern, obwohl das der völlig falsche Zeitpunkt ist. Aber die Situation ist einfach zu grotesk. »Da ist ja ganz schön viel Mist in deinem Leben passiert!«, stelle ich sachlich fest und schüttle abermals den Kopf, senke meinen Blick wieder auf die Mittelkonsole.
»Wie?«, kommt es daraufhin verwirrt von Roy zurück.
»Naja, erst deine Schwester, dann dein Arm oder andersrum!« Bitte, was? Ich stoppe mich selbst und schaue Roy schockiert an. Gott, was rede ich denn da? Bin ich völlig behindert? Ich bringe es nicht mal fertig mich für diese völlig danebene Aussage zu entschuldigen, weil ich befürchte, dass ich dann noch mehr Schrott fasele. Sentimentale Gespräche sind einfach nicht mein Ding. Und Leute trösten oder aufmuntern konnte ich auch noch nie.
Roy scheint nicht weniger verwirrt über meinen Satz zu sein, doch dann kehrt das für ihn typische Schmunzeln auf seine Lippen zurück. »Da hast du wohl recht.« Wie kann er das alles so locker nehmen? Er schnallt sich ab und öffnet die Tür. »Ich denke, das war genug Seelenstripteas für heute, oder?«
Heftig nickend stimme ich ihm zu und wir steigen aus. Für heute reicht es mir auf jeden Fall mit tiefschürfenden Fragen. Hoffentlich hat er nicht noch mehr solcher Storys auf Lager, sonst traue ich mich gar nicht ihm weitere Fragen zu stellen.
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