Montag, 5.00 Uhr

Es nieselte. Merikh stand an der Haltestelle der Straßenbahn. Nur eine Station zuvor fuhr die Straßenbahn los. Merikh schaute an sich herab. Die neuen Winterstiefel würden heute wohl auf ihre Wasserfestigkeit geprüft werden.

Müde lehnte sich Merikh gegen die morschen Bretter der Haltestelle. Linie 45 Wiesenfelder war die einzige S-Bahn Linie, die von diesem verlegenen Kaff bis in die Großstadt fuhr und auch wieder zurück. Seltsam musste das nicht unbedingt sein; viel seltsamer war, dass Merikhs Freunde nichts von dieser Straßenbahn wussten, jene regelrecht ignorierten, selbst wenn Merikh einstieg und ihnen zum Abschied winkte. Merikh hatte sich schlussendlich daran gewöhnt, dass niemand, den sie kannte von dieser Straßenbahn jemals was wissen würde, beziehungsweise ihr die Ehre machen würde, den kleinen Schrotthaufen an uralter S-Bahn zu bemerken.

Ein weiterer Punkt, der Linie 45 Wiesenfelder besonders machte, davon abgesehen, dass scheinbar die meisten jene nicht wahrnahmen; die Straßenbahn war im Vergleich zu allen anderen Modellen, eine, die noch aus dem 19. Jahrhundert hätte stammen können, wobei sich Merikh nicht sicher war, ob Straßenbahnen zu jener Zeit schon existierten. Linie 45 Wiesenfelder aber auf jeden Fall; laut Inschrift der morschen Türen existierte diese S-Bahn schon seit 1537 und das nahm Merikh einfach wie es war ohne groß zu hinterfragen.

Das Knarzen und Ruckeln der ollen Straßenbahn weckten Merikh auf, auch wenn Merikh gar nicht erst wirklich geschlafen hatte. Wie immer war außer Merikh niemand an der Haltestelle und wie immer saß in der S-Bahn die alte Frau, welche vor sich schmorte und wahrscheinlich seit 1936 Tod war, aber nur ganz langsam verweste. Zumindest roch sie danach, leben tat sie leider noch, weshalb Merikh auch nicht anfragen konnte, ob man die Leiche nicht entfernen könnte.

„Morgen", knurrte das alte Weib, wie Merikh schon mit acht Jahren beschlossen hatte den alten Haufen Fleisch und Knochen, weiblicher Anatomie zu bezeichnen; Schönheitsideale beiseite die alte Frau war furchtbar hässlich und dazu stand sie, also die alte Frau als auch Merikh.

„Morgen", gab Merikh knapp zurück, ehe sie sich auf ihren üblichen Platz ein paar Sitze von dem alten Weib entfernt plumpsen ließ. Aus Erfahrung wusste Merikh, jeder andere Platz konnte ihr ihr Leben kosten.

„Neue Schuhe", bemerkte das alte Weib unbeeindruckt und begann zu stricken.

Beleidigt zog Merikh ihre Schuhe unter ihren Sitz. „Ich habe sie erst vorgestern gekauft", verteidigte sie grummelnd ihre neuen Winterstiefel, auf die die Vierzehnjährige so stolz war. Seit langem würde sie nicht nur wie die Kleiderspende rumlaufen, wobei sie gestehen musste, dass selbst die Kleiderspende einen besseren Modegeschmack als ihre Großtante hatte. 

„Wenn sie teuer waren, werden sie keinen Steinschlag überleben", entgegnete das alte Weib und schnalzte verärgert mit der Zunge.

Beschämt blickte Merikh zu Boden, denn die Winterstiefel hatten ihr ganzes erspartes gekostet und sie wusste aus Erfahrung, das die Ratschläge der alten Frau, meist eher Weissagungen waren. Keine Glückskekssprüche, sondern grausame Wahrheiten. Beispielsweise hatte das alte Weib ihr vorletzte Woche die Note fünf in Mathe vorhergesagt, weil sie ja lieber Eisessen gehen, als sich hinzusetzen und Variablen lösen üben wollte; oder Freitag morgen, als sie Merikh empfahl nicht Guten Morgen dem Lehrer zu wünschen, weil er sie sonst anschnauzen würde.

Merikh hätte schon längst dazu gelernt haben müssen, doch sie tat es einfach nicht und genau deshalb fühlte sie sich sooft gedemütigt vor dem alten Weib; weil es immer recht hatte und sie nicht hören wollte und weil das alte Weib immer Schnalzen musste und dieses enttäuschte ‚tsk tsk tsk' machte, wie es ihre Mutter getan hatte, bevor jene sie voller Enttäuschung zu ihrer Großtante schickte. ‚Die weite Verwandtschaft, dann müssen wir dich auch nicht zu Weihnachten sehen', hatte sie Merikh genervt erklärt.

Die Bahn ruckelte stark, sie würden in zehn Minuten zur vollen Haltestelle kommen. Über die Jahre kannte Merikh langsam den Rhythmus der S-Bahn und wenn es sooft eher eine Warnung war, dass sie näher zur Schule kam, so war es auch oft ein Gefühl der Routine.

Noch ein weiteres Ruckeln; ein Wunder, das sie noch keine Gehirnerschütterung durch das viele Ruckeln bekommen hatte; die S-Bahn hielt und Merikh rutschte, wie immer ins alte Weib rein; aufhalten ließ sich das irgendwie nicht, genauso wenig, das seltsame Knacken der Knochen des alten Weibes und der Gestank, als hätte Merikh unbeabsichtigt eine Stinkbombe in die Luft gehen lassen, welchen das alte Weib als Blähung abstempelte.

Ein Haufen Kinder stürmten in die morsche Straßenbahn, ein Brett brach zusammen und ein kleines Kind mit Hörnern sprang irritiert auf ein anderes drauf.

Die Kinder waren allesamt ein wenig seltsam. Allesamt keine Hosen, was sich nicht mit der Erklärung, das es womöglich Mitglieder der Freikörperkultur waren abstempeln ließ, sondern eher damit, dass alle Kinder Tierunterteile hatten.

Merikh betrachtete die Kinder, wie immer, genauer. Minizentauren, Satyrn— die Griechen hätten sich Löcher in den Bauch gefreut, naja und sich wahrscheinlich genauso wie Merikh gefragt, wie das Kind mit dem Fischschwanz ganz gechillt auf einem der Sitze sitzen konnte und die stinkende Leichenluft genoss. Wahrscheinlich war das, das Highlight des Tages; stinkende Leichenluft der halbkaputten S-Bahn und Merikh, denn mehrere von ihnen starrten irritiert Merikh an, so irritiert, wie vorhin das kleine Hörnchen-Kind auf das andere sprang.

Aber das alte Weib ignorierten sie, wahrscheinlich auch, weil es zu angsteinflößend und hässlich aussah um Albtraumfrei angestarrt zu werden. Vielleicht war das ja eine Karriere, ein Beruf.

Die Bahn hielt erneut, nicht ohne alle Fahrgäste bis ins All zu schleudern, beziehungsweise bis zur Decke, denn die war zwischen ihnen und dem All, genauso wie eine sehr lange Strecke, wobei die wahrscheinlich eher letztere Sorge war, wenn man die Wucht mit einberechnete. 

Die Kinder stürmten wie bekloppte Kinder aus dem Fahrzeug in den Wald und dann war es wieder still, doch die S-Bahn fuhr nicht weiter. Sie wartete gespannt und genauso gespannt fragte sich Merikh, ob sich damit versäumter Matheunterricht entschuldigen ließ. Kurz bevor Merikh jedoch jenes Anliegen verbalisieren konnte, sprang ein oberkörperfreier Mann in die Bahn. Narben und Tattoos zierten die blasse, glatte Haut.

Die Türen schlossen sich und die Bahn sauste los, wie sie es lang nicht mehr getan hatte. Vielleicht ließ sich versäumter Matheunterricht ja mit übernatürlich erzeugtem Hirndruck aufgrund der Lichtgeschwindigkeit entschuldigen.

Der Mann lehnte sich gechillt an eine der eisernen Metallstangen und ignorierte Merikh komplett, sein kalter und distanzierter Blick tot an die Decke gerichtet. Das taten viele, bis auf das alte Weib und die Kinder, welche sie aber eher als Einrichtungsstück der Straßenbahn betrachteten, selbes dachten die Kinder aber wahrscheinlich mit Merikh über das alte Weib. Der Mann dagegen war so Fehl am Platz in dieser Bahn, wie seine weißen Hörner und sein genauso weißer Schweif, welcher sich wie eine Gürtel um dessen Hüfte gelegt hatte, an einem Menschen.

Die S-Bahn blieb schlagartig stehen und wirbelte Merikh mehrmals durch die Luft, ehe sie mit einem furchtbaren Schwindelgefühl auf ihrem Sitz saß.

Ein weiterer Mann stieg ein. Er war im schwarzen Anzug gekleidet und hatte unglaublich flauschiges, blondes Haar. Anders als der Blick des anderen Mannes war seiner sanft und freundlich; er lächelte sogar Merikh freundlich zu. Sein Blick folgte dem des anderen Mannes. Der Kontrast zwischen der Weise, wie beide Männer die Decke musterte, war  amüsant. Der eine lebendig und neugierig, bereit eine Straßenbahndecke zu erkunden, der andere tot und verschlossen, bereit die Straßenbahndecke einzureißen.

Normalerweise lauschte Merikh nicht— dass war eine glatte Lüge, Merikh hörte sich jede fremde Konversation an, genauso wie sie auch bei Fremden auf den Bildschirm glotzte. Ein eigenes Handy durfte sie nämlich noch nicht haben. Auch diesmal machte sie sich Mühe, jedes einzelne Wort zu hören.

„Also Yuma, was ist passiert?", fragte der lebendigere Typ von den beiden den anderen belustigt. Seine Stimme sanft und zart, melodisch und beruhigend.

„Nichts", entgegnete Yuma grummelnd und wich dem amüsierten Blick seines gegenüber aus. Anders als die Stimme des Blonden, war Yumas kratzig und hart, angsteinflößend und dunkel. Merikhs Eindruck nach fand sich kein kleinster Anteil Emotionen in der Stimme Yumas.

„Mhmm", kommentierte Yumas gegenüber nur und vergrub seine Hände in seinen Hosentaschen.

„Kann... k-kann ich dein Hemd, Jett?", fragte Yuma Jett und schaute jenen etwas verlegen an, Merikh glaubte ihn sogar erröten zu sehen.

Jett lachte leicht auf, niedlich und sanft, wie ein zartes Glockenspiel nur tiefer und maskuliner und niedlicher. Ohne etwas zu kommentieren zog er seine Jackett-Jacke aus und dann das weiße Hemd, welches er trug. Er gab jenes Yuma und zog sich einfach wieder die Jacke an.

„Natürlich trägst du weiß"; beschwerte sich Yuma und stülpte sich das Hemd über seinen muskulösen Körper, wessen Tattoos durch den dünnen Stoff noch immer klar zu erkennen waren. Jett nickte einfach als Antwort.

„Und nun erzählst du was passiert ist", forderte ihn Jett auf. Das Merikh und das alte Weib auch in der S-Bahn saßen ignorierte Jett genauso wie Yuma.

„Ich war heute morgen joggen im Wald und dann komme ich zur Brücke; morsches Ding, nich'; ich gehe über das Ding und in der Mitte merke ich: sterbende Seele direkt unter mir, also überlege ich nicht lange, springe ins Wasser, wer weiß vielleicht auch nur eine Nymphe; finde da 'ne nackte Frau auf, ziehe sie an Land und die fängt erstmal an zu schreien, dass ich doch ein Perversling sei, sie einfach nackt aus dem Wasser zu ziehen. Sie wäre ja damit durchgekommen, dass sie nur geschwommen wäre, wenn sie nicht im sterben lag; also zanken wir noch ein wenig, ich komm mir vor wie in Therapie, nur will die mir nichtmal mit meinen Problemen helfen, weshalb es mir eher Gründe für Therapie gibt. Schlussendlich, weil sie mir echt auf den Keks geht und ich mit ihr eine normale Konversation führen möchte, ohne nen Baum zu betrachten, gebe ich ihr mein Hemd, welches ihr ja gefühlt bis zur Hacke geht und sage ihr, dass sie den Scheiß lassen soll; also den mit der Rede über was weiß ich, ich hab nach ‚jetzt hör mal gut zu' aufgehört zu zuhören, jo und so habe ich heute mein Hemd verloren. Im Büro müsste ich noch eins extra haben, dann kannst du deins wieder", erzählte er gleichgültig, wie als wäre es etwas gleichgültiges und das war es im Endeffekt auch für Yuma.  

Die Bahn ruckelte wieder, es bimmelte ausnahmsweise, Yuma und Jett blickten auf, während Merikh ihre Tasche nahm und auf den Eingang zuging. Yuma war derjenige, der sie aufhielt nach außen zutreten.

„Du bist ein Mensch?", fragte er sie irritiert, sein kühler Blick etwas wärmer und freundlicher als zuvor, dennoch nicht annähernd so freundlich, wie der Jetts, welcher sie besorgt musterte.

„Soviel ich weiß, ja?", entschuldigte sich Merikh, versucht nicht rot zu werden, nachdem sie zwei Stunden in der S-Bahn gesessen hatte und dem Gespräch der beiden zugehört hatte.

„Yuma, lass sie los", meinte Jett und berührte sanft den Arm Yumas, welcher augenblicklich seine Hand sinken ließ.

Verwirrt trat sie nach draußen, inzwischen regnete es und blöderweise hatte sie ihren Regenschirm vergessen. Die Bahn war schon längst wieder weg und eine modernere Bahn fuhr in die Haltestelle ein.

Schulterzuckend drehte sich Merikh um und ging Richtung Schule.

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Funfact, es is bei mir schon wieder morgen und ich bin während des Korrekturlesens eingeschlafen.

Das war das erste Kapitel, trocken und lang.

Ich habe beschlossen, das Buch erstmal zu schreiben und dann zu überarbeiten und ihr könnt darunter leiden, idk.

Oui, oui, c'est ça et au revior!

— Walnuss

🕯🪦🕯

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