Montag, 17.00 Uhr

Die meisten Leute waren schon längst in ihren Häusern, schließlich war es später Nachmittag. Merikh stand stattdessen an der abgelegenen Haltestelle der Straßenbahn. Die Haltstelle lag etwas abgelegen von der Straße, der Begriff Straßenbahn hätte eigentlich und theoretisch nicht mehr gepasst, Dickicht und Sträucher umgaben das von Laub befallene alte Unterschlupf-Dächlein der Haltstelle. Die Luft war frisch und es kündigte sich ein weiterer Regenguss an. Der Wind peitschte durch die Äste und ständig rieselten Laubblätter, welche den Himmel in Feuerfarben erschienen ließen.

Merikh seufzte und starrte gelangweilt vor sich her. Ihre Schultasche hatte sie auf der Bank neben sich abgelegt. Hausaufgaben hatte sie schon gemacht, viele waren es auch nicht und nun langweilte sie sich. Vokabeln wollte sie zu Hause lernen, wenn ihre Großtante nicht hinsehen würde.

Ihre Großtante hatte selbstverständlich nichts gegen Bildung, doch nutzte Merikh den Kochunterricht, welchen das Mädchen als vollkommen überflüssig verstand, aus um sich die Wörter zu merken. Ihre Großtante bestand sehr darauf, dass, selbst wenn Merikh niemals ihre Künste vollkommen erlernen würde, aufgrund genetischer Missfälle, sie zumindest ein paar halbwegs funktionierende Dinge anrichten konnte und zwar in der Küche. Selbst nachdem Merikh meinte nicht dafür geschaffen zu sein, wurde sie noch immer dazu verdonnert.

Insgeheim liebte Merikh zwar den Unterricht, den sie von ihrer Großtante bekam, doch würde sie es jener niemals tatsächlich mitteilen, dazu war das Kind leider zu Stur.

Die Bahn hielt mit einem Ruck und riss Merikh aus ihren Gedanken. Sie musterte kurz das alte Fahrzeug, dessen eines Fenster mit einem Brett zugenagelt war. Im späten Nachmittagslicht des Herbstes wirkte die Straßenbahn so zerbrechlich und befremdlich, als wäre es nur ein altes Museumsgut, zu wertvoll und fragil als das man es hätte benutzen können.

„Mädel", rief das alte Weib genervt aus der Bahn und brachte Merikh erneut zurück in die Realität. Merikh stieg ein, doch die Bahn fuhr nicht wie üblich los. Verwirrt drehte sich Merikh zum alten Weib, welches nur die blassen Augen verdrehte. „Deine Tasche?"

Es dauerte keine Minute, da saß Merikh samt Tasche auf ihrem üblichen Sitz und die Bahn raste in einem Eiltempo los um ja nicht aus dem Fahrplan zu gelangen.

Normalerweise schwiegen beide, knurrten sich gelegentlich wie zwei hungrige Hunde drei, vier Worte zu und schwiegen wieder, aber nicht heute. Merikh hatte einen langen Tag hinter sich, ihre Lehrer hatten sie ausnahmsweise allesamt zur Weißglut gebracht und selbst ihre sonst so freundliche Englischlehrerin, der sie sogar einen Mord hätte verzeihen können, gewann durch ihr zickiges Verhalten am Morgen ihre Missbilligung. Ähnliches galt für ihre Mitschüler, die heute genauso gereizt drauf waren wie die Lehrer. Es störte Merikh und verunsicherte sie in ihrem sozialem Sein.

„Wie war dein Tag", nuschelte das alte Weib, die verkrusteten Lippen hatten sich kaum bewegt, die Stimme leise und kaum hörbar, ganz anders als wenn sie Merikh irgendwelche Wahrsagungen gegen den Kopf warf. Der Blick war auf den Boden fokussiert, doch ihre alten knochigen Hände flogen scheinbar über die Wolle und verarbeiteten jene zu etwas.

Merikh schwieg. Schweigen lernte Merikh in dieser Bahn und dafür war sie dem alten Weib eigentlich ganz dankbar.

„Mein Tag war Schei— mies, er war mies", antwortete sie matt. Auch ihr Blick war auf die rissigen Balken der Straßenbahn gerichtet. Ihre Hände umklammerten ihren Schulsack und ihre Gedanken ließen wie sooft den Tag revue passen.

„Scheiße?", wiederholte das alte Weib, die Mundwinkel zuckten dabei leicht, eine Seltenheit, die man nur in den Extremstfällen unerwartet zu sehen bekam.

Merikh nickte entschlossen. Das alte Weib anlügen wollte sie dazu nicht, dafür war es einfach zu freundlich. „Mein Tag war Scheiße", wiederholte sie entschlossen. Ein erleichtertes Lächeln, dieses Wort über die Lippen gebracht zu haben, huschte über ihr kindliches Gesicht, doch wurde mit dem nächsten Wimpernschlag wieder mit dem ausdruckslosen leeren Blick ersetzt, welcher das gesamte Gesicht ansteckte.

„Möchtest du darüber reden?", fragte das alte Weib sanft. Ganz anders als das es Merikh gewohnt von ihr war.

„Vielleicht", entgegnete Merikh matt und gleichgültig, die Stimme monoton und der Blick lustlos und müde. Vielleicht hätte Merikh geweint, allein im Zimmer, wenn ihre Großtante sie schon zu Bett geschickt hatte und niemand sie sehen würde; vielleicht hätte Merikh ihren Frust runtergeschluckt und ihren inneren Sturm ignoriert; vielleicht hätte Merikh auch weiter geschwiegen, hätte das alte Weib nicht gefragt und später hätte Merikh es vergessen, bis ein weiterer solcher Tag passierte und das Fass überlief; vielleicht war Merikhs Antwort ein indirektes, klägliches Ja, welches schon so lang sich danach sehnte ausgesprochen zu werden und vielleicht wusste das das alte Weib.

„Dann erzähl", forderte jene Frau das Mädchen ihr gegenüber auf. Ihre Miene sanfter als zuvor, sie schien jünger zu wirken, wenn sie lächelte und ihre Lachfalten sich auf einmal offenbarten, ihr Blick war auf einmal nicht mehr ganz so kühl und griesgrämig, während ihre sonst so eingesunkene Haltung sich anspannte und Merikh verdeutlichte, dass sie zuhörte.

Merikh drehte sich zögerlich zum alten Weib, wobei man jenes nicht mehr so ganz als jenes bezeichnen konnte, ausnahmsweise sah es nämlich ganz nett aus und vielleicht sogar auf irgendeine Weise schön, aber das ignorierte Merikh, so wie immer.

„Wie soll ich es sagen, es war einfach einer dieser miesen Tagen, wo einem danach ist zu schreien, aber man kann nicht schreien, weil man sonst schräg von der Seite angeblickt wird", begann sie stockend, als suche sie noch ihre kindliche Stimme, welche sonst wie immer nur für ein paar knappe Worte zu finden war, „Es ist einfach in letzter Zeit alles zu viel. Ich habe das Gefühl, die Welt drehe sich zu schnell und dann auf einmal zu langsam, Atmen ist auf einmal eine Herausforderung, während tausend Notfallszenarien passieren und plötzlich bin ich einfach müde, möchte mich ins Bett legen, einschlafen, alles vergessen, in einer besseren Welt aufwachen, aber nein. Eine schlechte Note nach der anderen, meine Großtante denkt bald, dass ich mir nicht mehr im geringsten Mühe geben würde und Hausaufgaben lenken mich nicht mehr ab, belasten mich aber und egal was ich tue, am Ende des Tages kann ich mich fragen, wozu." Sie atmete zittrig aus, ein Kloß hatte sich im Hals angesammelt, tausend Worte, die sagen wollten wie schwarz ihre Zukunft sei und wie sich morgen die Erde vielleicht gar nicht mehr drehen würde. Sie zwang sich den Kloß runterzuschlucken, hustete, als es sich als schwer erwies und trank in zügigen Schlücken ihre Wasserflasche leer, wie um ihren Körper zu sagen, ‚nein, ich hatte nur Durst'.

Das alte Weib betrachtete Merikh ruhig. Nicht mitleidig, nicht verständnislos und auch nicht belustigend. Das alte Weib wäre wahrscheinlich die letzte Person, die man für jemanden hielt, der verstand warum das Leben einfach schwer wurde, aber meistens war es das Gegenteil, da das alte Weib soviel mehr verstand als nur den menschlichen Verstand.

„Möchtest du einen schlechten Glückskeksratschlag?", fragte sie Merikh mit einem müden Lächeln.

Merikh nickte zaghaft; es war nicht üblich für das alte Weib so gesprächig zu sein.

„Wenn du abends im eigenen Bett dich wiederfindest, dann hast du genug geleistet um als produktiver Mensch zu gelten", erklärte sie mit einem lautlosen Lacher, welcher fast unbemerkt folgte, „und der Sinn des Lebens ist im Lotto zu gewinnen, nicht unbedingt wortwörtlich, aber entweder findest du Dinge, die dich glücklich machen, selbst wenn es das Ermorden von Menschen ist oder du erstickst in einem dunklen Loch." Mehr sagte das alte Weib nicht, sackte wieder zusammen und strickte.

Es hatte seltsamerweise etwas beruhigendes an sich, wieder das alte alte Weib zu sehen, welches gemütlich vor sich her strickte und wenn es nicht um das Alter wäre, Passanten den Mittelfinger zeigen würde. Es hatte etwas beruhigendes an sich das übliche Klakkern der Räder der Straßenbahn zu hören und auf einmal fühlte sich die Welt wieder ein bisschen lebendiger an. Es war Herbst und buntes Laub färbte die verschwommene Landschaft in ein friedliches Feuerspiel. Die Luft roch nach Kohlen und Regen, während es kühl und die perfekte Jahreszeit sich in eine Decke zu verkriechen war.

Die Straßenbahn hielt, Merikh stieg aus, das Gespräch von vorhin fast wieder vergessen, doch ausnahmsweise winkte sie dem alten Weib zum Abschied zu.

Vielleicht war heute ein schlechter Tag und momentan war vielleicht das Leben nicht so pralle, dass würde Merikh aber nicht davor abhalten ihrer Großtante auf den Keks zu gehen und sich die kleine Hütte, in der sie hausten zu einem eigenen Abenteuer zu machen. Zumindest glaubte Merikh, sich das in ihrem entschlossenen Lächeln zu zusprechen, ehe sie zufrieden in den Wald trat, auf den Weg nach Hause.

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Und ein weiteres Kapitel u.u

Und Guten Morgen, dieses Kapitel entstand, während ich eigentlich für Physik hätte lernen müssen x-x

Funfact: dieses Buch hat wirklich wenig an Planung, weshalb das meiste relativ improvisiert ist, wie Merikhs schlechter Tag zum Beispiel ;3;

Jo. Wie geht's euch so?

Trinkt genug!

C'est ça et au revoir.

— Walnuss

🕯🪦🕯

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