{𝟖.𝑲𝒂𝒑𝒊𝒕𝒆𝒍} 𝑫𝒊𝒔𝒕𝒂𝒏𝒄𝒆
Es war nicht das erste Mal, dass Tim Schmerzen hatte. Schließlich war er schon unzählige Male von Gisela gebissen oder mit irgendwas geschlagen worden und im Sommer war er aus Versehen von jemand in einem Moshpit umgerannt worden. Eigentlich war er nicht empfindlich. Aber die Schmerzen, die er spürte seit er in dem dunklen Krankenhauszimmer die Augen aufgeschlagen hatte, waren etwas anderes. Über seinen ganzen Körper verteilt pochte oder brannte es an verschiedenen Stellen und sein Magen fühlte sich an, als hätte ihn jemand umgestülpt. Ihm war speiübel und sein Bauch tat so weh, dass ihm schwarz vor Augen wurde, wenn er schluckte. Vielleicht hing es auch in gewisser Weise damit zusammen, dass er immer noch Restalkohol hatte. Er hätte es einfach nicht so übertreiben dürfen.
Die Erinnerungen an den Abend waren verschwommen, zumindest ab dem Zeitpunkt an dem er die Bar verlassen hatte. Wenn er die Augen schloss, konnte er eine dunkle Gasse sehen und eine Gruppe von vier Jugendlichen. Er erinnerte sich an die Wut, die er empfunden hatte, als sie ihn Schwuchtel genannt hatten. Und an die Schläge und schließlich Tritte. Aber unmittelbar davor und danach war fast alles weg. Nur das Gesicht eines Arztes und das Innere eines Krankenwagens, waren noch da.
Müde drückte er auf den Schwesternrufknopf, weil er unbedingt wissen wollte, ob sein Handy gefunden worden war. Er wollte Jan anrufen, ihm Bescheid sagen, was passiert war, auch wenn er nicht wusste wie viel Zeit vergangen war, seit er die Bar verlassen hatte. Vielleicht war er längst wieder im Hotel und suchte panisch nach ihm, hatte keine Ahnung, wo er geblieben war. Irgendwie kam es ihm surreal vor, dass ihr Urlaub so schnell eine ernste Wendung genommen hatte. Heute Nachmittag hatten sie noch fröhlich im Auto gesungen.
In dem Moment als er den Knopf drückte, merkte er, wie Licht in das dunkle Zimmer fiel. Verwirrt drehte er sich auf die andere Seite in Richtung Tür, was ihn all seine Kraft kostete. Als er dann aber sah wer in dem dünnen, hellen Spalt stand, schlug sein Herz höher.
Jan. Er war gekommen. Wie hatte er auch nur einen Moment denken können, dass er ihn nicht irgendwie finden würde? Egal was mit diesem Johnny passiert war, er würde ihn niemals deswegen alleine im Krankenhaus liegen lassen. Trotzdem konnte er sich nicht erklären, wie er hier hergekommen war, wie er überhaupt von dem Ganzen erfahren hatte.
Im Endeffekt war es egal. Als seine Augen die seines besten Freundes fanden, musste er lächeln. Jan wirkte zuerst unsicher, als er aber ins Zimmer eintrat und die Krankenschwester nur kurz das Licht einschaltete, bevor sie wieder ging, schien er sich etwas zu entspannen.
„Hey, wie geht's dir?", fragte er sanft und stellte einen Rucksack – Tims Rucksack – neben dem Bett auf den Boden. Natürlich hatte er daran gedacht, Klamotten mitzubringen. Der Touretter wusste wohl am allerbesten, wie ätzend Krankenhaushemden waren.
„Ich muss zugeben, es ging mir schon besser", erwiderte er und seine Stimme war kaum mehr als ein Krächzen. Jan reichte ihm eine Wasserflasche, die auf dem Beistelltisch stand, und er nahm sie dankbar entgegen.
„Was ist denn überhaupt passiert?" Mit müden Augen musterte der Kleinere ihn und Tim spürte, wie ihm heiß wurde. Es war bestimmt der Alkohol, der daran Schuld war, aber er konnte nichts dagegen tun, dass seine Gedanken in eine Richtung wanderten, die er lieber nicht weiter verfolgte. Schnell senkte er den Blick, weil er an Johnny denken musste und wie er die Hand unter das Hemd geschoben hatte, dass er noch immer trug.
„Ehrlich gesagt erinnere ich mich nicht mehr an alles", begann er dann und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie aufgewühlt er war, „Ich wollte zurück zum Hotel, einfach nur schlafen gehen, weil ich so fertig war. Aber irgendwie muss ich mich verlaufen haben. Und irgendwann haben mich dann vier Männer angesprochen. Sie waren ein Bisschen älter als wir, aber mehr weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass sie mich Schwuchtel genannt haben und dann hab ich die Kontrolle verloren und ausgeholt. War wohl keine so gute Idee."
Der Kleinere fuhr sich angespannt durch die zerzausten schwarzen Haare. „Ich glaub das nicht, dass es immer noch Menschen gibt, die so was als Beleidigung benutzen. Arschloch."
Dann schwieg er, und Tim konnte die Vorwürfe, die er sich im Stillen machte, schon fast hören. Er seufzte, ertrug es nicht, dass Jan sich in sich zurückzog. Die Distanz zwischen ihnen fühlte sich fast greifbar an.
„Jan, was ist los?", fragte er sanft und wäre am liebsten aufgestanden, aber er war sich nicht sicher, ob sein Kreislauf das mitmachen würde. Der Kleinere sah zu ihm auf und ballte die Hände kurz an den Seiten zu Fäusten, eine Geste, die er nur allzu gut kannte. Das war kein Tic, das machte er nur, wenn er nervös war.
Einen Moment schien er mit sich zu ringen, dann ließ er sich auf die Bettkante fallen und starrte in Richtung Tür.
„Ich bin einfach so wütend auf mich selbst. Das war unser Abend und ich musste unbedingt mit Johnny mitgehen. Wenn ich bei dir geblieben wäre, wäre das alles nicht passiert. Dann hätten wir einfach gemeinsam zurückgehen können."
Tim musste lächeln und setzte sich auf, legte eine Hand auf Jans Arm. Einen Moment starrte er weiter ins Leere, dann drehte er langsam den Kopf und sah ihm in die Augen. Das Braun glänzte verdächtig und Tims Herz zog sich zusammen.
„Jan, ich mache dir keinen Vorwurf. Also tu du es auch nicht. Ich bin auch schon mit Mädchen tanzen gegangen, wenn wir eigentlich zu zweit feiern waren. Daran, dass ich zu viel getrunken hab und dir nicht Bescheid gesagt hab, bevor ich gegangen bin, bin ich selber Schuld."
Jedes Wort das er sagte, meinte er auch so. Schließlich konnte Jan nichts für seine Eifersucht, und dass er sich deshalb wie ein Idiot benommen hatte. Die Konsequenzen hatte er selbst zu verantworten.
Eine Weile schwiegen sie, Stille breitete sich zwischen ihnen aus und Tim merkte, wie er schläfrig wurde. Trotzdem blieb er sitzen und ließ seine Hand auf Jans Arm, der immer noch mit sich zu kämpfen schien. Er war ratlos, wie er ihn erreichen konnte, wie er für ihn da sein sollte. Dabei war es eigentlich seine eigene Schuld, dass überhaupt etwas zwischen ihnen stand – schließlich hatte er ihm auch nicht die ganze Wahrheit gesagt.
Aber was sollte er denn tun? Die Wahrheit würde alles zerstören, genauso wie sie nicht zu sagen alles langsam aber sicher zerstörte. Das heute Abend hätte auch deutlich schlimmer enden können.
Tim hätte nicht sagen können, wie viel Zeit vergangen war, als Jans ein paar Mal unkontrolliert mit den Mundwinkeln zuckte und seufzte. „Da ist noch was worüber wir reden müssen."
Sofort schlug sein Herz schneller und er merkte, wie ihm schwindelig wurde, als sich ein nervöses, ungutes Gefühl in seinem schmerzenden Magen ausbreitete. Worüber wollte er reden? Hatte er vielleicht etwas bemerkt, weil er sich am Abend so kindisch benommen hatte?
„Worüber?", erwiderte er mit einem festen Kloß im Hals, aber Jan kam nicht mehr dazu, seine Frage zu beantworten, weil sich in dem Moment die Tür öffnete und die Krankenschwester wieder hereinkam. Schnell zog Tim seine Hand zurück und warf ihr einen Blick zu. Zum ersten Mal nahm er sie so wirklich wahr, sie war sehr jung und sah sehr müde aus.
„I'm sorry to interrupt you, but you have to leave now", sagte sie freundlich, aber trotzdem zog sich Tims Herz erneut zusammen. Er hätte alles dafür getan zu erfahren, was Jan beschäftigte, aber jetzt war keine Zeit mehr dafür.
„Okay, sure." Jan reagierte sofort und stand auf. Tim warf ihm einen Blick zu und lächelte noch einmal, aber er merkte genau, dass den Kleineren noch immer etwas belastete. So ganz sicher war er sich nicht, ob er sich auf das Gespräch morgen freuen sollte oder nicht.
„You can leave tomorrow at ten", Die Krankenschwester warf Jan einen Blick zu, „If you want to, you can come get him. That's no problem."
„Thank you", erwiderte er, ging rüber zum Beistelltisch, sah ihn dabei aber nicht an, „Wenn irgendwas ist, schreib mir einfach, ich lass mein Handy auf laut."
Damit gab er ihm das Handy, das er vorhin gesucht hatte, und Tim stellte enttäuscht fest, dass das IPhone jetzt nicht mehr nur hinten, sondern auch auf der Vorderseite gesplittert war. Naja, immerhin haben sie es dir nicht geklaut.
„Das hab ich vorhin gar nicht gesehen, danke." Er versuchte noch ein weiteres Mal, Jan mit seinen Augen zu erreichen, aber der warf ihm nur einen kurzen Blick zu, als er sich verabschiedete.
„Ich komm morgen und hol dich. Und dann können wir ja schauen, wies dir geht und was wir machen."
Tim nickte, gab es auf, denn jetzt vor der Krankenschwester, würde Jan sich nicht mehr öffnen. Er seufzte und nickte. „Bis morgen. Schlaf gut."
„Du auch", sagte er leise, „Erhol dich gut." Dann verabschiedete er sich von der Krankenschwester und war schon zur Tür raus. Tim sah ihm zu wie er ging und seufzte dann, fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. Er hatte keine Ahnung, was genau in Jan vorging und es machte ihn wahnsinnig, weil er es normalerweise immer wusste. In den letzten Tagen hatte er sich danach gesehnt, ihm nahe zu sein, aber jetzt wollte er einfach nur ihre alte Vertrautheit zurück. Er musste an gestern denken und an Jans Anfall. Da hatte er auch schon so abwesend gewirkt und jetzt fragte er sich, ob das vielleicht alles zusammenhing. Ob ihn schon länger etwas beschäftigte.
„Are you okay?", riss ihn plötzlich die helle Stimme der Krankenschwester aus seinen Gedanken, „If you want to talk about something, I'm open for it."
Sie griff nach unten und reichte ihm seinen Rucksack. Schnell öffnete er ihn und nahm die Klamotten heraus. Ihm wurde warm als er sah, dass Jan nicht nur seine Lieblingsjogginghose eingepackt hatte, sondern auch den Pulli, den er sich vor ein paar Tagen zum Schlafen von ihm geliehen hatte. Bestimmt war es nur ein Versehen gewesen, aber er war trotzdem unfassbar glücklich darüber.
„Sometimes feelings are just so complicated", erwiderte er dann erschöpft, dankbar dass er mit jemandem reden konnte. Nach morgen würde er sie nie wieder sehen, also würde es niemandem schaden, wenn er sich ihr anvertraute, „There's something standing between us but I can't tell him and I think he noticed it tonight."
Sie reichte ihm eine Hand und half ihm aufzustehen, was ziemlich starke Schmerzen in ihm auslöste. Übelkeit und Schwindel drohten ihn zu übermannen, aber er fing sich gerade noch so an dem kleinen Tisch neben ihm ab. So fest er konnte umklammerte er die Holzkante und nahm Hoodie und Hose vom Bett.
„I don't know what's going on between the two of you", erwiderte sie mit einem sanften Lächeln und half ihm dabei, langsam bis zum Bad rüberzugehen, „But maybe it helps if I tell you that he waited two hours just to know how you are. No matter what happened, he cares for you. And as long as you care for each other, you can solve every problem. Just speak to him."
Ihre Worte trafen ihn bis ins Mark. Er bedankte sich und betrat schnell das Bad, versuchte sich zu sammeln. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass er sich vorstellte wie Jan alleine auf dem Gang saß, übermüdet und voller Sorge so wie er es schon unzählige Male selbst getan hatte.
Sie hatte Recht. Ihnen war wichtig, wie es dem anderen ging, und genauso wenig wie er Jan in einem Notfall je alleine lassen würde, würde der Touretter es tun. Vielleicht war die einzige Lösung wirklich, zu seinen Gefühlen zu stehen, aber das kam ihm so wahnsinnig vor.
Als er nach dem dunklen Hoodie griff, gab er sich die größte Mühe den Hoffnungsschimmer zu unterdrücken, der ihm sagen wollte, dass es vielleicht kein Versehen war, dass er ihn eingepackt hatte. Dass Jan vielleicht doch auch mehr für ihn empfand. Sein Blick fiel auf den kleinen Spiegel, aus dem ihm ein müdes Gesicht mit Schrammen und blauem Auge entgegensah.
„Sei einfach ehrlich zu ihm", versuchte er es sich zu sagen, „Und versuch rauszufinden, was ihn bedrückt."
Nur hatte er keine Ahnung, wie er das anstellen sollte, ohne ihre Freundschaft zu zerstören.
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So, das wars mit Kapitel 8. Ich muss zugeben, dass ich es ein Bisschen frustrierend fand, die Distanz zwischen den beiden zu schreiben, aber im nächsten Kapitel wird das besser, versprochen. Ich hoffe es hat euch trotzdem gefallen.
Da wir schon die 300 Aufrufe geknackt haben hab ich es heute als Dankeschön ein Bisschen länger gemacht. Vielen Dank für das ganze Feedback, das motiviert sehr. ^^
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