{𝟐𝟒.𝑲𝒂𝒑𝒊𝒕𝒆𝒍} 𝑹𝒆𝒕𝒖𝒓𝒏
Jan war schwindelig, aber zum ersten Mal seit er wieder aufgewacht war, gelang es ihm zu verdrängen, was passiert war. Alles was er wahrnahm, war Tims warmer Atem an seinen Schultern, der Regen auf seiner Haut und der Wind. Seine Hände, die ihn festhielten, als hätten sie Angst, dass er ihm sonst jeden Moment wieder entgleiten könnte. Ohne seinen warmen, schützenden Körper hätte er wahrscheinlich gefroren, aber so fühlte er sich einfach nur gut. Eine Ewigkeit standen sie einfach nur da, aber dann hob Tim irgendwann den Kopf und löste sich von ihm.
„Ich hab das so vermisst", sagte er so leise, dass es fast vom Gewitter übertönt wurde und neigte sich zu ihm herunter, küsste ihn erneut. Wieder flatterten die Schmetterlinge in Jans Bauch und Hitze überrollte ihn. Tims Lippen waren so unglaublich weich und sanft, und gleichzeitig so fordernd und sehnsüchtig, dass es ihm den Atem raubte. Wie kann ich das vergessen haben?, fragte er sich kurz, aber dann verblassten die Gedanken, als der Größere den Kuss vertiefte und den Druck auf seinen Schultern verstärkte, ihn an sich presste. Sie waren sich nah, sehr nah. Und doch nicht nah genug.
Er hätte nicht sagen können, wie viel Zeit vergangen war, als Tim den Kuss wieder unterbrach und ihn aus verhangenen Augen ansah. „Ich glaube wir sollten zurück ins Hotel gehen", schlug er vor, „Sonst erfrieren wir am Ende noch."
„Ehrlich gesagt mach ich mir darum keine Sorgen, wenn es so weitergeht", erwiderte er und lachte auf. Tim sah ihn einen Augenblick unsicher an, lächelte dann aber ebenfalls. Sein Herz klopfte immer noch schnell, als sein Freund ihm die Hand hinstreckte und er sie griff.
„Aber du hast recht. Es ist langsam wirklich unangenehm nass", fügte er dann hinzu, auch wenn es ihn gar nicht störte. Dafür fühlte er sich zu gut.
Hand in Hand gingen sie den Weg entlang zurück und sobald sie wieder in Richtung Stadt kamen, ließ der Regen nach. Eine Weile sagte keiner von ihnen was, dann irgendwann unterbrach Tim die Stille.
„Hast du das eigentlich ernstgemeint, dass ich dir sagen soll, wie es zu unserem ersten Kuss kam?", fragte er unsicher.
„Ja. He. Ich wüsste gern – ob wir gefickt haben", der verbale Tic brachte ihn kurz aus dem Konzept, „Nein, ich meine, was zwischen uns passiert ist."
Tim nickte nachdenklich, ignorierte wie immer Giselas Kommentar. Seine Augen glänzten.
„Es war wunderschön", begann er dann mit einem Lächeln und Jan spürte, dass er rot wurde, „Im Ernst. Das klingt vielleicht kitschig, aber es hat sich ganz anders angefühlt als jeder Kuss davor."
„Das kann ich zumindest über den Kuss gerade auch sagen." Er hatte zwar noch nicht unfassbar viele Erfahrungen gemacht, aber definitiv auch noch nie so viel bei einem Kuss empfunden. Vielleicht lag das daran, dass er währenddessen nicht damit beschäftigt gewesen war, die Gedanken an Tim zu verdrängen, sondern ihn vor sich gehabt hatte. Der Blauäugige fuhr sich durch die dunkeln Haare, die immer noch nass an seinem Kopf klebten, während sie am Hafen entlangliefen. Irgendwie hatte Jan das Gefühl, dass sie schon bald da waren.
„Es war in Galway, an unserem letzten Abend. Wir haben Sightseeing gemacht und waren dann in einem Park, wo es schon fast dazu gekommen wär. Aber dann hat mein Handy geklingelt und das Ganze hat sich aufs Hotelzimmer verlegt." Er machte eine kurze Pause und sah ihn erwartungsvoll an. Jans Herz zog sich zusammen, weil er wusste, dass er seine Hoffnung nicht erfüllen konnte, aber dann auf einmal tauchten wieder Bruchstücke in seinem Gehirn auf.
Tim, der ihn an die Wand neben der Tür presste. Ein kleines Zimmer mit Fenster, gemütlich und warm. Seine Lippen auf seinen, genauso fordernd und verzweifelt, wie gerade eben.
„Ich erinnere mich", hauchte er matt, „Daran, dass du mich gegen die Wand gedrückt hast, dich zu mir runter gebeugt hast. Und dann hast du mich vergewaltigt."
Sie bogen in eine Straße ein und Tim sah ihn mit seinem typischen entgeisterten Blick an. „Sorry", entschuldigte Jan sich schnell, aber er schüttelte nur den Kopf.
„Alles gut, es wundert mich nur, weil Gisela nicht ganz unrecht hat", erwiderte er und lachte verlegen, „Nur dass du natürlich damit einverstanden warst."
Jetzt spürte er doch einen schmerzhaften Stich im Herzen.
„Wir hatten Sex?" Die Tatsache, dass er sich nicht an ihr erstes Mal erinnern konnte, brannte wie eine offene Wunde und kurz wandte er den Blick ab, bevor ein motorischer Tic seinen Kopf herumschleuderte. Diesmal kamen keine Erinnerungen wieder. Stattdessen wurde ihm übel.
Dann spürte er plötzlich Tims Hand auf seinem Arm und sah zu ihm auf. Er sah ihn verständnisvoll an.
„Hey, ich weiß, dass das scheiße ist", sagte er sanft, „Aber es ist doch nicht für immer. Die Erinnerungen kommen doch wieder."
„Ich weiß." Er lächelte und drängte die negativen Gefühle fort. Er hatte schließlich recht. Es war nur eine Frage der Zeit und die hatten sie schließlich genug.
Die restliche Straße bis zum Hotel kam ihm sehr bekannt vor. Tim erzählte ihm noch ein paar Sachen, unter anderem, dass bisher nur Tina, Rewi und Lucas von ihrer Beziehung wussten. Jan war erleichtert, denn jetzt wo seine Unsicherheit geklärt war, tat es gut zu erfahren, was alles passiert war.
Vor dem Hotel gab Tim ihm einen kurzen Kuss und sah ihn dann eindringlich an. „Ich hoffe, du kannst dich an etwas erinnern", sagte er, ohne dass es auf Jan so wirkte, als wollte er ihn unter Druck setzen.
„Ich auch. Wobei es eigentlich schön ist, dass ich dein Gesicht vergessen hab." Tim lachte auf und Jan stimmte mit ein. Wieder nahm er seine Hand und führte ihn nach drinnen. Es war inzwischen später Nachmittag und die Sonne stand schon tief. Das Quietschen der Glastür war seltsam vertraut, als Tim sie aufdrückte, genauso wie die Eingangshalle und der Aufzug.
Auf dem Gang oben war seine Kehle plötzlich trocken. Er hatte das Gefühl, dass sobald sie ihr Zimmer beteten würden, etwas passieren würde – und auch wenn er es kaum erwarten konnte merkte er, dass er etwas unsicher war. Er konnte nicht aufhören, sich zu fragen, wie das letzte Mal gewesen war.
Tim stieß die Tür auf und er folgte ihm nach drinnen. Seine Haut prickelte, als er ihm zusah, wie er den Rucksack abstellte und seine Jacke auszog. Er hängte seine ebenfalls über den Stuhl und ließ dann seinen Blick durch den Raum schweifen. Es war definitiv das Zimmer, an das er sich im Bus erinnert hatte. Das heißt, wir hatten schon zweimal etwas miteinander.
Er sah zum Bett hinüber und erinnerte sich plötzlich, wie Tim ihn darauf geworfen hatte.
Seine Augen waren voller Erregung, als er sich seinen Weg nach unten küsste.
Geistesabwesend strich er sich über den Kopf, weil er plötzlich das Gefühl hatte, dass er seine Hände in seinen Haaren spüren konnte.
„Wir hatten hier auch Sex, oder?", fragte er direkt und Tim drehte sich zu ihm an, sah ihn überrascht an. Ticbedingt zog er sich selbst an denn Haaren, ignorierte den Schmerz aber. Er hatte nur Augen für Tim und seinen Gesichtsausdruck.
„Ja", erwiderte er leise und kam auf ihn zu, ein seltsamer Ausdruck lag in seinen Augen, „Erinnerst du dich etwa?"
„Nur an Teile", sagte er und auf einmal lag unfassbar viel Leidenschaft in Tims Gesichtsausdruck. Er fasste in seinen Nacken und zog ihn zu sich heran, sanft aber bestimmt, vereinte ihre Lippen.
„Meinst du es würde dir helfen, dich zu erinnern, wenn wir uns näher kommen?"
Sein ganzer Körper prickelte, immer noch war er überwältigt davon, dass Tim ihn auch liebte. Dass sie zusammen waren. Und jeder Kuss warf ihn aufs neue in diesen Strudel. „Eigentlich ist mir das egal", erwiderte er leise und lächelte in den Kuss hinein, „Aber ich hätte nichts dagegen."
Tim zögerte keine Sekunde mehr. Sofort zog er ihn energisch an sich und ihre Lippen prallten aufeinander. Jan konnte es kaum erwarten, aus den nassen Klamotten rauszukommen und sich bei ihm aufzuwärmen. Der Größere unterbrach den Kuss keine Sekunde, während er ihn in Richtung Bett lenkte, und sich auf ihn warf. Sehnsucht stand in seinen Augen, als er zu ihm heruntersah und seine Hände vorsichtig unter sein Shirt wandern ließ. Jan merkte, dass sie zitterten.
„Ist alles okay?", fragte er ihn sanft und er hob den Blick, sah ihn ertappt an. Ein unsicheres Lächeln zeichnete sich im dämmrigen Licht auf seinem Gesicht ab.
„Ja,...ich...ich musste nur gerade daran denken, dass ich dich fast verloren hätte."
Ein Stein legte sich auf sein Herz, aber nicht, weil sie darüber sprachen, sondern weil er sehen konnte, wie es Tim fertigmachte. Er streckte sich zu ihm hoch und küsste ihn.
„Kann ich verstehen", erwiderte er und fuhr ihm durch die nassen Haare. Seine Augen sahen mit einem Mal so traurig aus, „Aber ich bin noch hier. Also bitte hör auf darüber nachzudenken. Ich tue es auch nicht."
Das stimmte tatsächlich – nach dem anfänglichen Schock belastete ihn das Ganze nicht mehr wirklich. Er hatte schon nach seinem ersten Anfall gelernt, mit dieser Angst zu leben, und anstatt sie Überhand gewinnen zu lassen, sein Leben zu genießen.
Tim lächelte. „Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen würde. Ernsthaft nicht", fügte er noch hinzu und Jan schüttelte den Kopf.
„Ich weiß auch nicht, was ich ohne dich machen würde. Aber wir haben uns, also gibt es auch keinen Grund, sich Gedanken zu machen."
Ab dem Moment sprachen sie nicht mehr, küssten sich nur noch. Jan spürte, dass nicht nur er selbst zu sich zurückfand, während sie sich auszogen, sondern dass auch Tim mit jeder fordernden Berührung und jedem Kuss ein Stück weit heilte. Er wollte sich gar nicht ausmalen, wie es für ihn gewesen war, als er noch ohnmächtig gewesen war. Und dann die Tage danach. Er war so unfassbar dankbar, dass er immer alles mit ihm durchstand. Und für ihn.
Jedes Mal, wenn sich ihre Augen fanden, erkannte er die tiefe, erleichterte Sehnsucht in den blauen Wirbeln. Er sah ihn voller Liebe an, so als wäre er das kostbarste auf der Welt. Kleidungsstück um Kleidungsstück landete irgendwo auf dem Bett oder auf dem Boden, und es wurde langsam dunkel, als Tim schließlich in ihn eindrang. Er stöhnte leise auf und suchte seinen Blick. Das Blau seiner Augen war dunkel und verschleiert, er lächelte. Das ist nicht das erste Mal, dass ich ihn so sehe, schoss es ihm durch den Kopf, und auf einmal stürzten Bilder auf ihn ein, vermischten sich mit der Realität.
Tim, wie er die Hände in seinen Haaren vergrub, den Mund leicht geöffnet. Tim, wie er den Kopf gegen seine Stirn lehnte, keuchend ausatmete. Ein Blitz vor dem Fenster, Finger, die über seine Brust strichen, das Meer.
Mein eigenes Meer, dachte er leise, als die Welt um ihn herum verschwamm und dann gestochen scharf wurde. Und im Zentrum von allem stand Tims Gesicht, seine nassen Haare, seine von Schweiß bedeckte Stirn. Sein Mund war leicht geöffnet als er sich unmittelbar zu ihm herunterbeugte, und ihn hart küsste.
„Ich liebe dich", flüsterte Jan leise als sie sich voneinander lösten. Tim streckte die Hand aus und legte sie an seine Wange, küsste ihn nochmal, jetzt sanft und erschöpft.
„Ich dich auch, Jan. Für immer."
Es war das Gleiche Versprechen, vertraut. Er nickte lächelnd. Einen Moment lang blieben sie noch so, dann legte Tim sich neben ihn. Jan kuschelte sich an seine Brust und hörte auf seinen Herzschlag, während sein Freund die Decke über sie zog. Es war ein unbeschreiblicher Moment, und er hatte das Gefühl, ihm so nahe zu sein, wie noch nie jemandem zuvor. Auch wenn er noch nicht genau wusste, wie es dazu gekommen war, war das zwischen ihnen etwas ganz besonderes.
Draußen war es dunkel geworden, die Lichter der Stadt spiegelten sich vor dem Fenster in der Oberfläche des Flusses. Tim küsste ihn sanft auf den Scheitel, während Jan langsam aber sicher in den Schlaf abdriftete. Er war erschöpft von allem, was in den letzten Tagen passiert war. Aber gleichzeitig war er irgendwie dankbar dafür, denn auf irgendeine seltsame Weise, hatte es sie zu diesem Moment hier geführt. Und jetzt fühlte er sich einfach nur geborgen und sicher.
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So, das ist also das letzte wirkliche Kapitel der Geschichte. Es wird noch ein Epilog kommen, um das Ganze abzurunden, aber danach war es das leider.
Was nicht heißt, dass nie wieder was von mir kommt. Ich hab schon Ideen für eine neue Geschichte, muss aber schauen, ob ich das zeitlich hinbekomme.
Vielen Dank für fast 3000 Aufrufe. Wenn mir das jemand vor zwei Monaten erzählt hätte, hätte ich ihn wahrscheinlich nur schräg angeschaut. Und danke für alle eure Kommentare und über 350 Votes. Lasst mir gerne auch jetzt wieder euer Feedback da, ich würde mich sehr freuen. ^^
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