{𝟐𝟑.𝑲𝒂𝒑𝒊𝒕𝒆𝒍} 𝑻𝒆𝒎𝒑𝒆𝒔𝒕

Tim kam es wie eine Erlösung vor, als es endlich anfing zu regnen. Sie stiegen aus dem Bus und waren sofort klatschnass, aber irgendwie fühlte es sich gut an. Denn es spülte nicht nur die unangenehm schwüle Hitze weg, sondern auch die letzten Spuren der Nacht. Obwohl er sich in der Früh geduscht hatte, fühlte er sich immer noch schmutzig, weil sein Kopf pochte und ihm immer noch übel war. Ganz besonders, wenn er daran zurückdachte, dass er sich am Morgen zweimal übergeben hatte.

Seine Erinnerungen schweiften zurück zu dem Moment als er aufgewacht war, Sams Sprachnachricht gehört hatte. Er schämte sich dafür, wie er sich benommen hatte, obwohl sie ihn eingeladen hatten. Natürlich hatte er sich gleich nach dem Duschen entschuldigt, und ihm das Geld für die Reservierung überwiesen, aber das änderte wohl nichts an dem bleibenden Eindruck, den er hinterlassen hatte. Sam hatte sogar lachend erzählt, dass er versucht hatte ihn zu küssen, weil er dachte, dass Jan vor ihm stand. Ein Glück, dass er anständig genug war, so eine Situation nicht auszunutzen.

Er schüttelte den Kopf und brachte sich zurück in die Gegenwart, zurück zu Jan. Denn der war schon seit der Busfahrt in Gedanken versunken und ungewöhnlich still. Bisher hatte er noch nicht versucht es anzusprechen, weil er die Sache mit der Brücke noch verdauen musste. Samuel Beckett, wiederholte er den Namen immer wieder in Gedanken. Das würde er so schnell nicht mehr vergessen.
Auch Gisela war heute ziemlich ruhig und er fragte sich, was Jan durch den Kopf ging, während sie Karten für das Guinness Storehouse kauften und es betraten. Er kam ihm so weit weg vor seit dem Anfall. Sie waren früh genug dran für die erste Führung um halb eins, und Jan zu Liebe machte er sie mit, auch wenn er definitiv keinen Alkohol anrühren würde.

Es war trotzdem ziemlich interessant und Jan schien Spaß zu haben, was ihm das Wichtigste war. Er trank ein paar der Proben und sie lachten viel, als sie sich mit den Mitarbeitern unterhielten, die absolut kein Problem mit dem Tourette hatten.
„You indeed look like you had too much", zog ihn ein junger Mann auf, als er erklärte, warum er nichts trinken wollte und Gisela warf ein „Das ist der Tim und der säuft zu viel" hinterher, woraufhin sie prustend in Gelächter ausbrachen. Fast hätte man meinen können, alles wäre in Ordnung, aber dann gab es diese Momente, in denen er abwesend irgendwohin starrte und nicht richtig reagierte, wenn man ihn ansprach.

Als sie das Haus eineinhalb Stunden später wieder verließen, war das Gewitter vorbeigezogen und es nieselte nur noch. Ihre Jacken waren inzwischen wieder trocken und Tim setzte sich die Kapuze auf. Seine Gedanken schweiften zurück zu der Nacht in Galway. Auf dem Weg zum Restaurant hatte es auch geregnet. Anscheinend begleitete sie das schlechte Wetter.
„Wollen wir was essen gehen?", fragte er Jan und der nickte, seine Hände zuckten.
„Willst du danach noch wo bestimmtes hin?" Tim überlegte kurz, schüttelte dann aber den Kopf.
„Nein, also wenn du noch Wünsche hast, können wir das gerne machen."
Ich will mit dir ins Bett", brüllte Gisela und ein paar der Leute, die sich vor ihnen unter Regenschirmen drängten, drehten sich um. Tim spürte, wie ihm heiß wurde und wandte schnell den Blick ab, verbarg so sein Schmunzeln. Gisela hatte wohl ausnahmsweise nicht ganz Unrecht. Schließlich waren Jans Gefühle ja nicht verschwunden, oder?

Bei dem Gedanken fror das Lächeln auf seinem Gesicht ein.
„Ich würde glaube ich gerne zum Strand", sagte Jan vorsichtig und verhinderte, dass er sich selbst weiter verunsichern konnte, „Oder waren wir da schon?"
Tim nickte und drängte die Zweifel fort. Warum sollten seine Gefühle auch weg sein?
„Ja, aber mich stört es nicht. Wegen mir können wir gern auch nochmal hingehen", insgeheim hoffte er, dass Jan sich an etwas erinnern würde, wenn sie an einen Ort gingen, wo sie schon mal gewesen waren, „Wir müssen nur den Leihwagen nachher noch zurückbringen."
„Okay. Fahren mit zwei Promille find ich voll okay. Aber wenn du willst, setz auch ich mich ans Steuer."

Tim prustete los und die Angst verschwand endgültig aus seinem Kopf. Es war ihr letzter Tag, sie sollten ihn genießen. „Ich glaub, das solltest du lieber mir überlassen."
Nein!", krähte Gisela und sobald der Tic vorbei war, stimmte Jan in sein Lachen mit ein. Er konnte nicht anders. Als er ihn so gelöst und glücklich sah legte er ihm kurz einen Arm um die Schultern. Es war eine freundschaftliche Geste, aber trotzdem kribbelte seine Haut an den Stellen, wo sie sich berührten. Er liebte diesen Jungen so sehr, wie noch nie zuvor jemanden in seinem Leben.

Und er würde auch nie wieder jemanden so lieben, wie ihn.

Eine Stunde später machten sie sich satt und entspannt auf den Weg zur Küste. Sie hatten in einem kleinen irischen Restaurant gegessen, und Tim merkte immer mehr, wie ihn eine sehnsüchtige Trauer überkam. Es war nicht nur, weil sie morgen fliegen mussten, sondern vor allem, weil er sich wünschte, dass es Jan gut ging. Denn auch wenn er die ganze Zeit über versuchte, gute Laune auszustrahlen, kannte Tim ihn einfach zu lange, um zu übersehen, dass die Amnesie ihn die ganze Zeit über belastete. Es äußerte sich in schnellen Blicken zur Seite, während sie sprachen, und in zögerlichen Antworten. In der Tatsache, dass er die Hände immer wieder zu Fäusten ballte, während sie liefen. Wie gerne hätte er einfach seine Hand gegriffen und die Finger gelöst, ihm gezeigt, dass er nicht alleine damit war.

Am Strand angekommen schien sich Jans Laune dann wieder etwas zu bessern, auch wenn das Unwetter hier wieder stärker war. Aber irgendwie hatte Tim sich an den Regen gewöhnt und es störte ihn nicht. Sie redeten gerade darüber, was sie am Abend noch machen wollten und gingen dabei den gleichen Weg wie letztes Mal. Da war wieder die Klippe, die Wellen schlugen rauschend gegen sie und auch wenn er nicht so ein großer Fan vom Meer war wie Jan, hatte es etwas sehr beruhigendes an sich.
„Gefällt es dir?", fragte er sanft und beobachtete ihn genau von der Seite. Eine schwere Stimmung überkam ihn. Bitte erinner dich an irgendwas.
„Ja. - Nein es ist hässlich. Fast so hässlich wie du", erwiderte er und lachte verlegen, schüttelte den Kopf, „Es gefällt mir wirklich. Ganz anders als in Strandhill."
„Das stimmt", Tim versuchte zu ignorieren, dass sich sein Herz enttäuscht zusammenzog. Jan konnte nichts dafür, das war eben nichts, was man steuern konnte. Trotzdem musste er immer wieder den Impuls unterdrücken, ihn zu fragen, ob nicht doch irgendwas zurückkam.

„Du, Tim?", er drehte sich zu Jan, musterte ihn. Auf einmal sah er nicht mehr verwirrt aus, sondern verletzlich, „Ich hab mich vorhin im Bus an etwas erinnert."

Sein Herz setzte zuerst einen Schlag aus, dann klopfte es rasend schnell weiter. Plötzlich kam es ihm vor, als würde alles in Zeitlupe ablaufen und er hatte das befreiende Gefühl, dass der Moment gekommen war. Der Moment nach dem er endlich nicht mehr seine Gefühle zurückhalten musste. Es waren gerade mal zwei Tage, aber trotzdem fühlte es sich schon wie eine Ewigkeit an.
Seine Stimme war rau, als er antwortete. Möwen krächzten und in der Ferne zuckte ein Blitz über den Himmel.
„An was?" Jan blieb stehen und drehte sich zu ihm um. Leichte motorische Tics verzerrten sein Gesicht. Tims Herz schlug ihm bis zum Hals.

„Ich weiß es nicht genau...ich erinnere mich an keine Zusammenhänge...aber wir...wir hatten glaube ich...", er brach ab und wandte den Blick ab, seine Wangen färbten sich rot. Tim ging einen Schritt auf ihn zu, so wie damals auch schon, und legte eine Hand auf seinen Unterarm.
„Erzähl es mir", forderte er ihn mit sanfter Stimme auf. Jan hob den Kopf und ihre Blicke trafen sich. Das Braun war aufgewühlt und von dunklen Wirbeln durchzogen. Wie Blätter im Herbst, die im Wind kreisten.
„Es...es macht alles keinen Sinn. Du hattest kein T-Shirt an und dann war da noch diese Nachricht und...", ein heftiger motorischer Tic schüttelte ihn durch und Tim zog kurz seine Hand weg.

„Welche Nachricht?", fragte er verwirrt und als er Jans Hände dann in seine nahm, brach der Wall des Kleineren endlich. Er sah ihm in die dunklen Augen, hielt seinen Blick, auch wenn es um sie stürmte und Jan die Unsicherheit klar anzumerken war. Aber es war egal, das Einzige was zählte, waren sie. War Jan.
„Du hast mich heute Nacht angerufen, betrunken", erwiderte er und jetzt, wo Tim es geschafft hatte zu ihm durchzudringen, war seine Stimme wieder fest, „Du hast alles mögliche geredet, aber das wichtigste war wohl, dass du mir gestanden hast, dass du mich liebst."

Einen kurzen Moment konnte er ihn nur anstarren, so überrumpelt war er.
„Was hab ich?", entfuhr es ihm dann entgeistert. Er stieß einen geschockten Atemzug aus und schüttelte den Kopf, „Ach, scheiße."
Jan lachte leicht auf und löste seine rechte Hand, fuhr sich durch die nassen Haare. „Ja, du warst definitiv ziemlich voll. Du Vollidiot. Und ich hätte es vermutlich abgetan, aber dann hab ich mich im Bus daran erinnert, dass du mir das schon mal gesagt hast. In einem Zimmer mit Blick auf den Fluss, vermutlich unserem Hotelzimmer. Es macht alles Sinn, aber irgendwie auch nicht, weil ich nichts mehr weiß. Weil ich immer noch nicht weiß, was passiert ist. Es macht mich wahnsinnig"

Tims Atem stockte und er musste sich erst sammeln, bevor er antworten konnte. Es kam nur selten vor, dass Jan es zuließ, dass sein Frust oder seine Wut an die Oberfläche kamen. Oder dass er überhaupt wütend wurde. Er konnte einfach nicht glauben, was gerade passierte. Er hatte damit gerechnet, dass es noch Wochen dauern würde, bis Jan und er wieder über Liebe sprachen und war kein Bisschen vorbereitet.
„Ich kann es nicht fassen, dass ich dich angerufen hab", sagte er matt und schüttelte nochmal den Kopf, „Es tut mir leid, Jan. Ich wollte dich nicht noch mehr verwirren."
„Schon okay", erwiderte sein Freund und sah ihn an. Eine kurze, geladene Stille trat zwischen sie, in der nur das Grollen des Donners und das Krachen der Blitze zu hören war, „Stimmt es denn? Liebst du mich?"

Er musste auflachen, merkte, wie die Tränen, die er seit Tagen zurückdrängte, in seinen Augen brannten. Erleichterung überkam ihn und auf einmal war ihm warm, auch wenn der Wind kalt um sie peitschte.
„Ja, Jan. Von ganzem Herzen. Schon seit fast einem Jahr."

Ein unbeschreibliches Gefühl durchströmte ihn als er sah, wie Jans braune Augen sich weiteten und seine Lippen sich leicht öffneten. Es sah aus als wollte er etwas sagen, aber Tim ließ ihm die Zeit dazu nicht. Behutsam legte er die Hände auf seine Schultern und sah ihn an, fixierte seinen Blick.
„Wenn du es nicht willst, weil du nicht nochmal von vorne anfangen willst, weil du dich nicht zwei mal verlieben willst ohne zu wissen, was beim ersten Mal passiert ist, dann sag es mir", sagte er leise in den Sturm, auch wenn die Vorstellung sein Herz zerriss, „Und ich werde auf dich warten. So lange wie du Zeit brauchst, werde ich warten. Weil ich dich auf keinen Fall nochmal verlieren will." Er wollte ihn nicht drängen. Er wollte ihn nicht verunsichern, oder ihm wehtun. Er wollte einfach nur endlich wieder atmen.
Als Jan den Kopf schüttelte, hatte er das Gefühl, aus einem langen, einsamen Tunnel aufzutauchen.
„Ich habe mich schon unzählige Male neu in dich verliebt, weil ich versucht hatte es zu verdrängen", erwiderte er mit einem leichten Lächeln, „Da kommt es auf einmal mehr oder weniger jetzt auch nicht an."

Tim atmete einmal stockend ein und schloss dann den Abstand zwischen ihnen. So wirklich fassen konnte er nicht, was passierte. Ihm war schwindelig, und Jans Lippen nahmen endlich die Last von seinen Schultern. Er presste ihn an sich während die Wolken sich krachend über dem Meer entluden und der Wind heulte.
„Unser zweiter erster Kuss", flüsterte er, als sie sich voneinander lösten und legte den Kopf gegen seine Stirn, nasse dunkle Haarsträhnen hingen ihm ins Gesicht, und er wusste nicht ob es seine oder Jans waren. Dann zog er ihn in eine feste Umarmung. Ich lass dich nie wieder los.

„Du musst mir unbedingt von unserem ersten erzählen", erwiderte Jan leise und Tim lachte, während gleichzeitig Tränen seine Wangen hinabrollten.

---

So Leute, das wars für heute. ^^ So lamgsam löst sich alles. Ich hoffe alle, die Angst hatten, dass Tim Jan fremdgegangen ist, sind jetzt erleichtert. :D
Ich bin wirklich gespannt, wie euch das Kapitel gefallen hat. Ich hatte beim Schreiben echt eine Gänsehaut am Ende. Lasst mir also gerne Feedback da. ^^
Danke an alle die immer so regelmäßig Kommentieren, das motiviert sehr.

Und vielen Dank an über 300 Votes und bald 3000 Aufrufe. Die Geschichte ist so groß geworden, das ist echt unglaublich. ^^

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top