{𝟐𝟐.𝑲𝒂𝒑𝒊𝒕𝒆𝒍} 𝑩𝒓𝒆𝒂𝒌𝒕𝒉𝒓𝒐𝒖𝒈𝒉
Mit zitternden Fingern hielt Jan sein Handy umklammert. Es war kurz nach acht und die Morgensonne schaffte es kaum, durch die dunklen Wolken am Himmel zu dringen. Der Arzt und die Krankenschwester hatten gerade erst sein Zimmer verlassen, und er war erleichtert, weil er wirklich gehen durfte. Sofort hatte er Tim geschrieben, war jedoch erstarrt, als er gesehen hatte, dass er einen verpassten Anruf von ihm hatte. Und eine Nachricht auf der Mailbox.
Ein seltsames Gefühl lag jetzt auf ihm. Zum einen, weil die Träume der Nacht noch frisch waren, und er nicht sicher war, ob es sich um Erinnerungen oder reines Wunschdenken handelte. Wenn er die Augen schloss, standen er und Tim an einer Klippe, umarmten sich innig und liebevoll. Und es waren noch mehr Dinge passiert, an die er aber gar nicht denken konnte, ohne dass ihm heiß wurde.
Zum anderen aber auch, weil er wusste, dass Tim betrunken gewesen war, als er angerufen hatte.
Vermutlich war es keine gute Idee, sich die Nachricht überhaupt anzuhören. Aber trotzdem konnte er einfach nicht anders, wählte die Nummer.
„Sie haben eine neue Nachricht. Empfangen um 0:03 Uhr", sagte die blecherne Stimme und Jan spürte wie sein Herz zu rasen begann und ihm gleichzeitig eiskalt wurde.
„Hey, Jan", schon nach diesen zwei Wörtern merkte er, dass Tim wirklich eindeutig zu viel getrunken hatte. Seine Stimme war langsam und gedämpft, im Hintergrund konnte man Menschen reden und lachen hören, „Ich hoff du kannst mich hörn. Hier is ziemlich laut", lallte er und Jan spürte eine Mischung aus Liebe und Sorge in sich aufsteigen. Seine Hände umklammerten den Saum von Tims Hoodie, den er sich am Morgen schnell übergezogen hatte. Er wusste zwar nicht, ob es Absicht gewesen war, aber Tim hatte ihm Sachen von sich eingepackt und wenn er sie trug fühlte er sich zumindest ein Bisschen wie zuhause.
„Der Abend is richtig scheiße", redete Tim weiter, „Da is so ne Rote, die is so billig." „Eine Rote in der Toilette", schrie Gisela dazwischen und er verstand die nächsten paar Worte nicht.
„...aber auch egal. Weil ohne dich...es is scheiße. Richtig scheiße. Du weißt es nich mehr, aber das was wir gemacht haben das war so schön. Alles war schön...und... Ich sollte dich nich anrufen und dir das nich sagen, aber ich liebe dich halt, weißt du? So richtig. Und wenn du das hier hörst, dann hasst du mich...aber ich kanns nich ändern. Ich kann nich mehr. Ich hab so Angst um dich gehabt. Ich dachte, du stirbst oder so. Dass ich dich verliere. Und jetz hab ich dich zwar noch aber irgendwie auch nich."
Eine kurze Pause folgte, in der Jans Herz sich zusammenzog, weil er hören konnte, wie fertig Tim klang. Er war schon immer betrunken am ehrlichsten gewesen und jetzt schien der ganze Kummer durchzubrechen, den er in den letzten Tagen zurückgehalten hatte. Er hatte die ganze Zeit gewusst, dass da mehr hinter der Fassade war. Das war es immer.
Aber gleichzeitig raste sein Herz. Ich liebe dich halt, weißt du?
„Weiß du...ich...wo war ich? Ach, egal. Deine Lippen sin schön, Jan. Und weich. Ich vermiss die voll. Und ich vermiss dich. Du fehlst immer, wenn du nich da bist. Irgenwie dreht sich meine Welt nur um dich. Und ich wünschte, du wüsstest noch.."
In dem Moment wurde er davon unterbrochen, dass ein Mädchen im Hintergrund auf Englisch nach ihm rief. Dann hörte er Tim lachen, und die Aufzeichnung war vorbei. Es dauerte ein paar Sekunden bis er realisierte, dass seine Beine zitterten. Dann wählte er die Nummer der Mailbox erneut. Hörte sich die Nachricht nochmal an. Und wieder und wieder, solange bis er sie fast mitsprechen konnte. Seine Tics wurden stärker und er immer aufgewühlter als er begriff, was Tim mit all dem gemeint hatte. Was ist zwischen uns passiert?, fragte er sich immer wieder, aber vor allem musste er an diesen einen Satz denken. Ich liebe dich halt, weißt du?
Ihm war schwindelig, als er aufstand um ins Bad zu gehen, sich im Spiegel ansah, beobachtete, wie sein Gesicht sich verzog. Tim liebte ihn? Er stützte seine Hände auf den kühlen Rand des Waschbeckens und starrte auf den Abfluss. Schloss die Augen. Er musste sich einfach erinnern, er musste wissen, was passiert war. War überhaupt etwas passiert? So wirklich klar wurde das nämlich nicht, egal wie oft er die Nachricht anhörte.
Seine Gedanken rasten in seinem Kopf, und je mehr er versuchte, sich zu beruhigen, desto schlimmer wurde es. Mit aller Kraft wollte er sich dazu bringen, sich zu erinnern, aber er merkte schnell, dass das nichts weiter half, als dass er wieder Kopfschmerzen bekam. Da kein Nebel, den er durchdringen konnte. Einfach nur gähnende Leere.
„Das kann doch nicht sein", entfuhr es ihm frustriert und Gisela fügte noch ein, „Du Wichser" hinzu. Er stützte sein Gesicht in die Hände und atmete ein paar Mal tief durch. Es war wie ein Blitz, der ihn durchzuckte, als plötzlich Bilder vor seinem inneren Auge auftauchten, unklar und verschwommen.
Tim legte seine Arme um seine Brust und den Kopf auf seine Schulter. Sie standen in einem Zimmer, das er nicht kannte, mit Blick auf einen Fluss.
So schnell wie es gekommen war, war es auch wieder vorbei, und ließ ihn noch verwirrter zurück.
War das gerade eine Erinnerung? Das würde bedeuten, dass Tim und er sich nahe gewesen waren – auf irgendeine Weise. Sein Herz schlug schneller. Eigentlich wollte er sich keine Hoffnungen machen, aber konnte es vielleicht wirklich sein, dass sein größter Wunsch sich schon erfüllt hatte? Immerhin hatte er gesagt, dass er ihn liebte. Und auch wenn er betrunken gewesen war, war das nicht einfach so daher gesagt oder freundschaftlich gemeint gewesen. Sonst hätte er nicht von seinen Lippen geschwärmt. Sein Puls ging so schnell, dass er sich auf den Deckel der Toilette fallen ließ, weil ihm schwindelig wurde. Seit gestern, seit dem Moment auf der Bank, als diese elektrisierende Atmosphäre zwischen ihnen gestanden hatte, versuchte er sich einzureden, dass da nichts war. Dass Tim hetero war. Aber jetzt konnte er das einfach nicht mehr. Seine Mauer, die er aufgebaut hatte, um seine Gefühle zu verdrängen, stürzte ein.
Und Gisela rastete aus. Sie schleuderte mit Beleidigungen um sich und hätte fast den Toilettenpapierhalter abgerissen. In dem Moment hörte er, wie es an der Tür klopfte. Sein Herz überschlug sich. War das Tim? Sie hatten halb zehn ausgemacht – wie viel Zeit war inzwischen vergangen?
Er schaffte es nicht mal mehr, auf sein Handy zu schauen, und weil er versuchte, seine verbalen Tics zu unterdrücken, kamen sie noch deutlicher hervor.
„Ich kaufe nichts, du Schlampe", rief Gisela als sich die Tür öffnete. Jan hörte Schritte, spürte die Wand des Badezimmers deutlich, denn auf einmal kam sie ihm wie sein einziger Schutz vor. Wie sollte er Tim jetzt gegenübertreten?
„Jan, alles okay?" Sein Herz überschlug sich fast. Mit zitternden Knien stand er auf, atmete einmal tief ein und wieder aus. Reiß dich zusammen. Er hoffte einfach nur, dass seine Tics nichts von der Nachricht erzählen würden.
„Ja, alles gut", sagte er möglichst ruhig und trat aus dem Bad, versuchte eine entspannte Miene aufzusetzen, „Zumindest war es das bis gerade, aber jetzt muss ich ja dein hässliches Gesicht sehen."
Tim lachte halbherzig, fuhr sich durch die Haare. Dunkle Schatten zeichneten sich unter seinen Augen ab, er sah aus, als hätte er die Nacht durchgemacht.
„Ich hab dich auch lieb, Gisela."
Jans Herz zog sich zusammen und er wandte schnell den Blick ab, griff nach dem Rucksack und dem Arztbrief, der auf seinem Nachtkästchen lag. Ich liebe dich halt, weißt du? Eigentlich war Tim doch kein guter Schauspieler – konnte er sich wirklich nicht mehr daran erinnern, dass er ihn angerufen hatte?
Er ignorierte, was er gesagt hatte und packte seine Sachen zusammen, ohne Tim großartig weiter anzusehen. Allgemein sprachen sie nicht viel, während sie noch im Krankenhaus waren, erst als sie es verlassen hatten und nach draußen in die schwüle Luft traten, fuhr Tim sich erneut verlegen durch die Haare.
„Ja, also...ich bin nicht mit dem Auto da. Ich war mir nicht sicher, ob das so ne gute Idee ist, weil ich gestern ziemlich viel getrunken hab."
„Im Ernst? Der alte Säufer", er musste tatsächlich lachen, auch wenn ihm eigentlich nicht danach war. Dass Tim mal zugab, dass er zu viel getrunken hatte, war eine Seltenheit und wenn er sich am nächsten Morgen nicht fahren traute, musste das wirklich etwas heißen.
„Ja, im Ernst", erwiderte er und lachte peinlich berührt, fuhr sich nochmal durch die Haare, „Um ehrlich zu sein, kann ich mich nicht mal mehr daran erinnern, wie ich zurück ins Hotel gekommen bin. Sam hat mir heute morgen ne Sprachnachricht geschickt, und mir erklärt, dass er mit der Keycard rausgefunden hat, in welchem ich schlafe. Ich weiß gar nichts mehr davon."
„Ekelhaft", rief Gisela, aber Jan zuckte nur mit den Schultern. Innerlich war er verwirrt und angespannt, weil er mit dem Namen Sam nichts anfangen konnte. Und weil er einfach nicht wusste, ob und wie er die Nachricht ansprechen sollte, wenn Tim sich augenscheinlich nicht an sie erinnern konnte, „Ich kann mich erinnern, dass du nach Galway eigentlich nicht mehr so viel trinken wolltest."
Tims Augen blitzten für den Bruchteil einer Sekunde auf. „Das hab ich zu Rewi gesagt, als wir mit ihm telefoniert haben", entfuhr es ihm, und er schlug sich die Hand vor den Mund, „Sorry...das wollte ich nicht."
Jans Verwirrung stieg noch weiter an. Sie hatten mit Sebastian telefoniert?
„Schon okay", sagte er und die Neugier siegte, auch wenn sein Kopf sich anfühlte, als wäre er kurz davor zu explodieren, „Wann war das?"
„Bevor wir nach Dublin gekommen sind", erwiderte Tim und wirkte auf einmal angespannt, „Willst du wirklich darüber reden?"
Einen kurzen Moment überlegte er, wartete, ob irgendwelche Erinnerungen kamen. Aber natürlich funktionierte es nicht. Frustriert schüttelte er den Kopf.
„Nein, ich glaube nicht. Ich dachte nur, es kommt vielleicht was. Ich komm gleich in dein Gesicht."
Tim wirkte erleichtert und ignorierte seinen Kommentar. Eine seltsame Stimmung lag zwischen ihnen, als sie losliefen. Er musste an Strandhill zurückdenken, wie glücklich und ausgelassen sie dort gewesen waren und Wehmut erfasste sein Herz.
Tim schlug vor, das Guinness Storehouse anzuschauen, weil er anscheinend vor dem epileptischen Anfall dorthin gewollt hatte. Und tatsächlich erinnerte er sich dunkel daran, dass sie darüber gesprochen hatten. Nach einer Weile war er ziemlich erschöpft, weil sein Kopf schmerzte, und auch wenn es schön war, zu laufen, suchten sie sich einen Bus. Jan sah gebannt aus dem Fenster, als sie über die berühmte, drehbare Brücke fuhren.
„Das ist die Samuel Beckett-Bridge", erzählte er Tim und schoss ein paar Fotos, wobei Gisela fast dem Mann gegenüber das Handy ins Gesicht warf. Tim sah ihn an und seine Augen waren auf einmal glasig, das Meer aufgewühlt.
„Das hast du mir schon mal erzählt", erwiderte er leise, „Aber ich hatte den Namen vergessen." Er wandte den Blick ab und Jan sah ihn verwirrt und zerrissen an. Wieso war er plötzlich so emotional?
Das Meer. Diese zwei Worte blieben wie gestern auch schon in seinem Gehirn hängen, manifestierten sich. Sie brannten – eine Botschaft, die nur für ihn bestimmt war – und die er trotzdem nicht verstand. Er wollte doch einfach nur, dass nichts mehr zwischen ihnen stand. Er wollte Tim und seine Reaktionen wieder verstehen. Verzweifelt senkte er den Blick.
Dann, auf einmal, sah er Tim vor sich, seine glasigen Augen. Die Wellen glitzerten, aber trotzdem stand Zuneigung in ihnen.
‚Ich liebe dich halt, weißt du?' Das unmittelbare Gefühl überkam ihn, dass er diese Worte nicht zum ersten Mal aus seinem Mund gehört hatte. Sein Herz raste ungläubig und er sah Tim an, der in sein Handy schaute, nichts mitbekam. Noch mehr Bilder stürmten auf ihn ein, zuerst verschwommen, dann klarer.
Er sah den Fluss. Die rötlichen Strahlen der tiefstehenden Sonne spiegelten sich in ihm. Und er sah das Meer. Tim saß neben ihm, den Oberkörper frei, lächelte ihn an. In seinen blauen Augen stand ein unbeschreiblicher Ausdruck.
„Ich liebe dich", hörte er seine eigene Stimme, und Tim beugte sich zu ihm hinab, küsste ihn.
„Ich dich auch, Jan. Für immer."
Er versuchte das Bild festzuhalten, für den Bruchteil einer Sekunde wurde ihm warm ums Herz. Dann brachen die Wolken und ein lautes Donnergrollen riss ihn aus seinen Erinnerungen.
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So, da wären wir also wieder. ^^ Ich bin zwar ziemlich unzufrieden mit dem Kapitel, aber ich hoffe euch hat es trotzdem gefallen. Ausnahmsweise scheint der Schmetterlingseffekt wohl auf der Seite der Beiden zu stehen.
Vielen Dank an 2500 Aufrufe, alle Votes und Kommentare. Ich freue mich über jedes Feedback und wenn ich sehe, dass nach all der Zeit noch neue Leser dazukommen.
Ihr könnt gespannt auf das Ende der Geschichte sein, das in ein paar Kapiteln kommen wird. ^^
Lasst mir gerne wieder eure Meinung da.
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