{𝟐𝟏.𝑲𝒂𝒑𝒊𝒕𝒆𝒍} 𝑩𝒍𝒖𝒏𝒅𝒆𝒓

Der Abend war schwül. Die Luft roch nach Frühling und warmem Regen, auch wenn bisher noch kein Tropfen vom Himmel fiel. Vermutlich würde es in der Nacht gewittern. Tim war gerade auf dem Weg zur Temple Bar, und weil es nicht weit vom Hotel war, und er ja vorhatte zu trinken, hatte er beschlossen zu laufen. Die Straßen waren nicht mehr so voll wie gestern, auch wenn er sich an den Abend kaum noch erinnern konnte. Irgendwann war er zurückgefahren, weil die Ärzte ihn weggeschickt hatten und die restliche Zeit war er im Hotel gewesen. Um ehrlich zu sein war er froh darum, denn er wollte jetzt ausnahmsweise mal keine Sorgen haben, nicht darüber nachdenken, was passiert war. Es war sein vorletzter Abend, und wenigstens den wollte er einfach nur genießen. Dass sie ihren Urlaub abbrechen mussten machte ihn trauriger, als er vor Jan zugegeben hatte, auch wenn er ihm niemals die Schuld dafür geben würde. Und da war noch die Tatsache, dass alles kein Bisschen so gelaufen war, wie sie es sich vorgestellt hatten. Dass jeder Tag von irgendetwas überschattet gewesen war.

Schnell verdrängte er die Gedanken und ging weiter. Konzentrierte sich auf die Musik, die in seinen Ohren dröhnte. Trotzdem fehlte Jan ihm bei jedem Schritt an seiner Seite, egal ob er an Menschen vorbeiging oder durch leere Straßen, immerzu spürte er seine Abwesenheit so deutlich, wie das Loch in seinem Herzen, das mit jeder Minute, die die Amnesie anhielt, wuchs.
Es war Zeit das alles zu vergessen, Zeit zu feiern. Er würde den ganzen Abend eine fremde Sprache sprechen, in einer fremden Sprache denken, Abstand gewinnen. Nur heute. Und morgen würde er Jan abholen, als wäre nie etwas gewesen, und sie würden weitermachen.

Als er die berühmte Straße betrat zog er sich die Kopfhörer aus den Ohren und steckte sie weg, drängte sich durch die Menge aus Menschen, die die Feiertage ausklingen ließen. Eigentlich sollten sie gemeinsam hier sein, eigentlich. Aber jetzt war es nun mal anders gekommen.
Er seufzte auf als die Bar in Sicht kam, die roten Buchstaben leuchteten ihm von der Seite des Gebäudes entgegen. Es war ein schönes, altes Backsteinhaus vor dem sich die Menschen drängten, und aus der Menge hob sich eine Hand, winkte in seine Richtung.

„Hey, Tim, we're here!", rief Sam ausgelassen. Auf seinen blonden Haaren saß ein grüner Hut und er grinste ihn an. Wieder wirkte er, als hätte er bereits ein oder zwei Becher intus und Tim fragte sich, ob das vielleicht einfach nur seine Art war, als er ihn lachend begrüßte.
„Hey, guys. Thank you for inviting me."
„No biggie", erwiderte er grinsend und reichte ihm einen Becher, der verdächtig nach Bier roch. Er lächelte dankend und nahm direkt einen Schluck. Unter den fremden Leuten fühlte er sich wie elektrisiert.
„How's Jan?", fragte Michael dann und für ihn und die anderen erzählte er die ganze Geschichte nochmal kurz, auch wenn ihm speiübel dabei wurde. Er wollte nicht darüber reden und erstickte weiteres Nachfragen, indem er vom Thema ablenkte.

„What's the plan for tonight?" Das rothaarige Mädchen – ihren Namen hatte er vergessen – lachte laut und warf ihm einen Blick zu.
„I wouldn't say we have a plan besides partying. It's the best time of the year for that and you've already missed enough!" Sie lächelte ihm zu aber trotzdem löste ihr Kommentar ein schlechtes Gefühl in ihm aus. Er wandte für einen Moment den Blick ab und sah auf sein Handy. Keine neuen Nachrichten.
Dann ärgerte er sich über sich selbst und steckte es weg, ließ sich stattdessen von den anderen mit nach drinnen tragen. Du bist hier um Spaß zu haben und nicht, um auf dein Handy zu starren.

Er kippte das Bier herunter und holte sich einen Drink an der Bar. Es war ein schöner Pub, über dem Barkeeper hingen Flaschen an der Wand und alles war mit grünen Girlanden und Kleeblättern geschmückt. Kitschig, aber passend und er wünschte sich mit einem Mal, er hätte auch irgendwas grünes dabei. Nicht mal seinen neuen Pullover hatte er angezogen – stattdessen war er komplett schwarz gekleidet. Aber andererseits stach er auch nicht wirklich aus der Menge hervor, es gab viele Leute die einfach nur schlichte Sachen trugen. Und eigentlich interessierte es ihn auch nicht wirklich.
Jan würde ein Hemd tragen, wenn er hier wäre, schoss es ihm durch den Kopf, Vielleicht wieder sein schwarzes oder eins der karierten. Schnell verdrängte er die Gedanken. Er brauchte mehr Alkohol.

In der nächsten Zeit setzte er sich zu der Gruppe dazu und versuchte sich zu integrieren, während sie über das College und Abschlussprüfungen sprachen und Begriffe fielen, die er nicht verstand. Er erzählte von ihrem Youtube-Kanal und Jans Tourette, als er darauf angesprochen wurde, was er machte, und Freddy erwähnte, dass er sogar schon mal ein paar ihrer Videos vorgeschlagen bekommen hatte. Während all dem gab er viel zu viel Geld für Drinks aus.

Als er gerade mal wieder aufgestanden war, um an der Bar etwas neues zu holen, stand Sam ebenfalls auf und begleitete ihn.
„This one's on me, bro", ging er dazwischen, als er gerade nach seinem Geldbeutel suchte, „Seems like you need more of the Black Stuff."
Er bezahlte den Guinness und ließ sich dann auf einen Hocker fallen. Tim setzte sich neben ihn, dankbar, für eine kurze Zeit von der Gruppe wegzukommen. Die Rothaarige – Emma, wie er inzwischen erfahren hatte – versuchte schon die ganze Zeit, ihm schöne Augen zu machen und langsam wurde es anstrengend, sie zu ignorieren.
„Listen man, I think you don't wanna talk about it, but I'm just too curious. Are you two together or just friends? I wasn't sure at the parade."

Er brauchte einen kurzen Moment bis sein Gehirn schaltete. Inzwischen vernebelte ihm der Alkohol ganz schön die Sinne, ließ aber gleichzeitig auch zu, dass er sich das erste Mal seit langem wieder leicht fühlte. Dann wurde ihm klar von wem er sprach und alles in ihm zog sich zusammen.

„We are, – or better said were – together", wie immer, wenn er trank, ging seine Hemmschwelle herunter, ließ ihn Dinge sagen, die er vielleicht in nüchternem Zustand nicht ausgesprochen hätte. Aber an Jan erinnert zu werden schmerzte so sehr, dass es ihm die Luft abschnürte. Er musste es einfach loswerden. Vielleicht konnte er dann endlich wieder freier atmen, „We didn't even have two days. Then he got the seizure and now he has amnesia." Er musste lachen, weil es sich reimte.

„Man, that sounds murder", erwiderte Sam und schüttelte den Kopf. Seine blonden, hochgestylten Haare bewegten sich schnell und verschwommen vor Tims Augen. Er starrte auf seine Finger, die Musik dröhnte laut in seinem Kopf. Alles wirkte seltsam und unklar, als der Kummer ihn überrollte.
„Murder? Yeah, that's what it feels like", er schüttelte den Kopf und hob die Hand um noch einen Drink zu bestellen. Eine leise Stimme wollte ihn daran erinnern, was in Galway passiert war, als er zu viel getrunken hatte, aber er erstickte sie, in dem er den letzten Schluck von dem Guinness nahm.

„Slow down, man. I think you had enough", versuchte Sam ihn zu bremsen, aber er schüttelte den Kopf. So lange er den Schmerz noch fühlte, war er auch nicht zu betrunken.
Sobald der neue Becher voll vor ihm stand, nahm er ihn und stand auf. Auf einmal hatte er das Gefühl, dringend an die frische Luft zu müssen.
„Whoa bro, I don't think you're going anywhere alone", sagte Sam und er spürte seine Hand auf der Schulter, im nächsten Moment war sie allerdings schon wieder fort.

„I can accompany him", hörte er stattdessen plötzlich eine süße, helle Stimme und sah wieder das rothaarige Mädchen vor sich. Sie lächelte, aber es war irgendwie verzerrt, gefiel ihm überhaupt nicht.
„I'm good", brummte er, war sich aber nicht sicher, ob es jemand gehört hatte. Alles um ihn drehte sich, als er sich einen Weg nach draußen bahnte. Ihm war so heiß, er schwitze so und hier waren so viele Menschen. Er klammerte sich an seinen Becher, als er sich durch die Menge drängte.
„Hey, wait", rief ihm Emma nach, aber er wartete nicht. Erst als er vor der Tür war, blieb er stehen. Er lehnte sich an die Wand der Bar und mit einem Mal war ihm übel. Er wollte zurück ins Hotel, aber gleichzeitig auch nicht, weil Jan nicht dort sein würde. Noch eine Nacht alleine in diesem Bett zu schlafen, kam ihm wie Folter vor.

„You look wasted", sagte das Mädchen zu ihm und zog eine Schachtel Zigaretten aus ihrer Jacke, „Want one?"
Einen kurzen Moment zögerte er, dann nickte er. In seinem ganzen Leben hatte er erst zweimal eine Zigarette geraucht, und eigentlich war es absolut ekelhaft, aber heute war ihm danach. Er nahm sie sich und schaute zu, wie die glimmende Flamme aus ihrem Feuerzeug sie entzündete. Bereits nach dem ersten Zug bereute er es und musste husten.
„We can also share a kiss if you like that better", fügte sie lachend hinzu und es dauerte einen Moment, bis er verstand, was sie da sagte. Ihm wurde speiübel.

„Why don't you just leave me alone? Do you really think I'd go for your cheap behaviour?"
„Listen, why don't you just call him? Tell him why you're getting so drunk. Talk about it. Drinking it away doesn't help, trust me."
„You don't know anything about me or him", machte er sie an. Er wollte nicht mit ihr reden. Ihm war absolut klar, was sie von ihm wollte. Trotzdem brannte sich ihr zweiter Vorschlag in seinen Kopf hinein. Ihn anzurufen würde heißen, dass er seine Stimme hören konnte. Dass er mit ihm sprechen konnte. Er wollte ihm sagen, dass er ihn liebte. Er wollte ihm sagen, wie sehr er ihn brauchte. Dass ohne ihn auch ein spaßiger Abend nicht spaßig war, sondern einfach nur langweilig und traurig.

Ohne sie weiter zu beachten schmiss er die stinkende Zigarette auf den Boden und trat sie aus, ging ein Stück zu Seite.
Dann zog er sein Handy hervor, auch wenn er nahezu nichts darauf lesen konnte. Er hatte irgendwelche Nachrichten, aber keine von Jan. Er schaffte es gerade so seine Nummer zu wählen, hielt es sich ans Ohr.

Hey, Arschloch. Wenn du das hier hörst, bin ich gerade nicht erreichbar. Captain Obvious. Lass mir einfach eine Nachricht da und ich ruf dich zurück."

Seine Stimme war wie Musik in seinen Ohren, und er lachte, als er seine Tics hörte. Er kannte diese Nachricht, hatte sie schon tausendmal gehört, aber trotzdem war sie in diesem Moment irgendwie besonders. Die nächsten paar Minuten redete er einfach vor sich hin, und sobald er etwas gesagt hatte, hatte er es bereits wieder vergessen. Irgendwann war der Becher in seiner Hand leer und dann war er plötzlich weg. Alles war verschwommen und drehte sich. Er torkelte zu einer Wand, stützte sich ab, er sah rote Haare und dann blonde. Hörte eine Stimme, die ihm bekannt vorkam.

„Shit, I'm bringing him back", sagte jemand aber er konnte nicht zuordnen, wer es war. Sie liefen irgendwohin, aber so wirklich bekam er nichts mit. Alles war weit weg. Er merkte, wie jemand seinen Geldbeutel aus seiner Tasche zog und lachte auf.
„Jan, lass das", protestierte er leise, tat aber nichts dagegen.
„Wo gehen wir hin?", fragte er matt, bekam aber keine Antwort.
Er begriff nicht, was passierte, aber merkte auch, dass es ihm egal war. Irgendwann standen sie dann vor einer Tür, er hörte ein Surren und sie wurde aufgestoßen.

Das Letzte, was er mitbekam, war wie Jan die Tür hinter ihm schloss und ihn zum Bett führte. Irgendwas war seltsam und es dauerte kurz, bis er begriff, dass es seine Haare waren. Sie waren blond und nicht schwarz, aber der Gedanke verschwand sofort wieder in den Tiefen seines Bewusstseins, so wie alles andere auch.  

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Ach Tim, was machst du nur? Wir befinden uns kurz vor dem großen Knall, und dann der Auflösung.
Ich bin allen sehr dankbar die lesen, kommentieren und voten.
Das Kapitel hat mir sehr viel Spaß gemacht, ich hoffe euch hat es auch gefallen. Lasst mir gerne euer Feedback da. Ich hab irgendwie in letzter Zeit das Gefühl, dass die Geschichte nicht mehr so gut ankommt und würde gerne eure Meinung wissen, falls euch etwas stört. ^^

Und natürlich habe ich keine Ahnung, ob Tim raucht/rauchen würde. Die Charaktere handeln hier nur so, wie ich es mir in gewissen Situationen vorstelle.

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