{𝟐𝟎.𝑲𝒂𝒑𝒊𝒕𝒆𝒍} 𝑳𝒆𝒂𝒇

Am nächsten Morgen wachte Tim alleine in dem Bett des Hotelzimmers auf – ein seltsames Gefühl. Irgendwie fühlte es sich einfach so falsch an, ohne Jan diesen wundervollen Ausblick zu genießen. Er blieb noch eine Weile liegen, nahm sich sein Handy und checkte seine Nachrichten. Gestern noch hatte er einen Flug gebucht und das Hotelzimmer verlängert, allerdings hatte er erst einen bezahlbaren für übermorgen gefunden, was vermutlich gar nicht so schlecht war, weil sie dann zumindest noch einen Tag in Dublin verbringen konnten. Er fühlte sich elend als er aufstand, und noch immer keine Nachricht von Jan bekommen hatte. Mindestens genauso sehnsüchtig wie er, wartete er auf das Ergebnis des MRTs. Und er wollte ihn unbedingt besuchen.

Den Morgen über schnitt er die restlichen Sachen zusammen, die sie gefilmt hatten und die er nicht ins Video gepackt hatte, damit sie den Zuschauern wenigstens noch ein kleines „Best of" zeigen konnten. Er war sich nicht sicher, ob Jan ihnen sagen wollte, was passiert war, seine Frage erübrigte sich aber, als er wieder auf Insta ging. Jan hatte ein Bild von sich im Krankenhausbett sitzend in seine Story gepostet und dazugeschrieben Wenn die Epilepsie dir bei der Urlaubsplanung einen Strich durch die Rechnung macht. Übermorgen geht's wieder nachhause.
Jetzt konnte er nicht mehr anders, er schrieb ihm eine Nachricht. Ein paar Minuten später rief Jan ihn an.

„Wieso postest du das?", fragte Tim ihn nochmal, leicht aufgebracht. Normalerweise ließen sie die Zuschauer nicht direkt wissen, wenn Jan Anfälle hatte und dass er das jetzt einfach hochlud, ohne ihm was zu sagen, tat irgendwie weh. Zumindest bis er sich daran erinnerte, dass Jan nicht mehr wusste, dass sie zusammen waren.
„Wie hättest du denn sonst erklären wollen, dass wir fast eine Woche früher heimfliegen? Ins World Trade Center.", erwiderte sein Freund am Telefon. Mit einem Stich im Herzen erinnerte er sich auch daran, dass sie jetzt nur noch beste Freunde waren. Jan klang angespannt und gereizt, was er ihm nicht verübeln konnte. Es brachte ja ihn selbst schon total an seine Grenzen, dass er sich nicht mehr erinnern konnte, da wollte er sich gar nicht erst vorstellen, wie das für ihn sein musste.

„Ja, du hast schon recht. Es kam nur etwas unerwartet", nachdenklich sah er auf seine Finger und klappte den Laptop zu, „Wieso hast du eigentlich Netz?"
„Ich wurde umverlegt und die Schwester hat gesagt, es spricht nichts dagegen wenn ich mich ein Bisschen in den Krankenhauspark setze. Ficken. Der MRT sah gut aus."
Erleichtert seufzte Tim auf. „Immerhin eine gute Nachricht." Obwohl Jan nichts anzumerken gewesen war, hatte er doch die ganze Zeit Angst gehabt, dass er vielleicht doch irgendwelche Schäden davongetragen hatte.
„Soll ich dich dann nachher besuchen kommen? Ich kann dir was zu Essen mitbringen."
Jan stimmte zu, klang aber immer noch abweisend. Tims Herz wurde schwer. Was konnte er tun, um ihn zu seinen Erinnerungen zurückzuführen? Es waren doch nur zwei Tage, so schwer konnte das doch nicht sein.

Sie verabschiedeten sich und er ging etwas frühstücken – allein. Er hatte keine Ahnung, was er heute machen sollte. Einen ganzen Tag in einem fremden Land ohne Jan zu verbringen war seltsam. Die Besuchszeit im Krankenhaus ging nur zwei Stunden – den Rest der Zeit würde er so totschlagen müssen.
Weil er keine Lust hatte, sich ein schönes Café zu suchen, frühstückte er im Hotelrestaurant. Er hing am Handy und trank seinen Kaffee, fühlte sich alleine und haltlos. Dabei war das Wetter wieder wirklich gut und draußen wurde immer noch der St. Patrick's Day gefeiert. Und er saß hier drinnen und die einzige Sache, die ihn hielt war, dass er Jan nachher sehen würde. Zwei Stunden noch, dann konnte er zu ihm.
Er hatte gerade bezahlt, als er eine Nachricht bekam.

13:03 Uhr
Hi, Tim. It's Sam. I hope it's alright that I write you. I've been wondering how Jan is doing. It was quite a shock what happened at the parade. Hope he's better now. Btw I found an article about his seizure.

Anbei sendete er ihm noch einen Link. Mit einem unguten Gefühl im Magen stand Tim auf und las sich auf dem Weg nach draußen den Artikel durch. Dann sendete er ihn nach kurzem Zögern an Jan weiter. Es stand nichts schlimmes darin und er wollte es ihm nicht vorenthalten.
Draußen angekommen blieb er neben der Tür stehen und schrieb Sam zurück. Es freute ihn, dass er sich gemeldet hatte, sie hatten alle echt nett gewirkt und wenn die Dinge anders gekommen wären, wären sie bestimmt noch gemeinsam weitergezogen. Knapp beschrieb er ihm, was passiert war und konnte nicht anders, als sich von der Seele zu schreiben, dass er den heutigen Tag fast komplett allein verbringen würde. Von der Amnesie sagte er nichts.
Fast sofort wurden die Häkchen blau. Anscheinend war er wirklich ernsthaft besorgt.

13:07 Uhr
I'm glad to hear he's okay. Sucks that you have to go home, though. An evening alone? Not for you, bro. Come to the Temple Bar tonight, we've got a reservation and Ashley got sick. The girl drank too much, lol.

Tim spürte, wie sich ein erleichtertes Lächeln auf sein Gesicht legte. Natürlich würde er lieber mit Jan weggehen, aber was brachte es, wenn er den Abend allein im Hotel herumsaß? Davon kam er schließlich auch nicht früher aus dem Krankenhaus.

13:07 Uhr
You're saving my day, man. Thank you.

13:08 Uhr
Always to your service. Be there at 7.

Vorfreude machte sich in ihm breit. Immerhin hatte er jetzt Aussicht auf einen ausgelassenen Abend und nicht nur auf einen wahrscheinlich etwas anstrengenden Krankenhausbesuch. Auch wenn er sich natürlich trotzdem freute, bei Jan zu sein. Es war nur so schwer, seine Gefühle zu verbergen, nach allem was passiert war.

Die restliche Zeit zog er lustlos durch die Straßen, ging in ein paar Läden und kaufte sich Klamotten und Souvenirs für seine Eltern. Er hatte schon die ganze Zeit unbedingt einen Dublin-Hoodie haben und so entschied er sich für einen hellgrünen Pullover und nahm für Jan ein T-Shirt in der gleichen Farbe. Dann machte er sich auf den Weg zurück und fuhr mit dem Auto zum Krankenhaus. Auf dem Weg hielt er noch bei McDonalds und kaufte Jan einen Kaffee und ein Menü. Er selbst hatte irgendwie keinen Hunger.
Jan hatte ihm Station und Zimmernummer geschrieben und jetzt wo er nüchtern war und keine Angst mehr hatte, fand er den Weg auch ziemlich schnell. Trotzdem konnte er nichts dagegen machen, dass er sich nach gestern zurückversetzt fühlte. Jan hatte so viel Glück gehabt. Er hätte ihn für immer verlieren können. Aber du hast es nicht. Also konzentrier dich darauf, seine Erinnerungen zurückzuholen.

Vorsichtig klopfte er an der Tür und trat ein. Jan saß im Bett und war am Handy, sah auf als er das Zimmer betrat. Sein Herz klopfte sofort schneller, als er ihn musterte. Er sah deutlich besser aus als gestern, hatte sogar seine Haare gemacht. Und er trug einen seiner Hoodies, den weißen Apfelerlebnis-Hoodie. Den hatte er in der Story noch nicht angehabt.
„Hi, Tim", Gisela ließ ihn mit den Augen rollen und „Nicht der schon wieder" rufen. Sofort musste er lachen und merkte, wie zumindest ein Teil der Anspannung von ihm abfiel. Es schien ihm wirklich wieder gut zu gehen. Von seiner schlechten Laune am Telefon war nichts mehr übrig.
„Ich hab hier ein Luchpaket für Sie", erwiderte er grinsend und Jan nahm es dankbar entgegen, „Ich glaube da muss sich sogar Gisela darüber freuen, dass ich komme."
Nein", rief sie laut, aber Jan dankte ihm nur lächelnd. Tim zog sich einen Stuhl heran, der genauso aussah, wie der im ICU. Trotzdem wirkte das Zimmer irgendwie heller und freundlicher.

„Und, wie geht's dir?", fragte er möglichst locker, nachdem er sich gesetzt hatte, versuchte zu verdrängen, dass sein Herz in seiner Brust hämmerte, „Kannst du dich schon wieder an irgendwas erinnern?"
Jan sah zu ihm auf und seine braunen Augen verdunkelten sich etwas. Er zögerte einen Augenblick, bevor er in den zweiten Burger biss. „Nein – Frag doch nicht so blöd – bisher noch nicht. Ich hab heute Nacht ein paar seltsame Dinge geträumt, aber nichts, was mich irgendwie weiterbringt."
„Was hast du denn geträumt?" Eigentlich wollte er ihn nicht bedrängen, aber gleichzeitig war er so gespannt, ob er sich vielleicht in seinen Träumen an etwas hatte erinnern können und nur nicht wusste, dass es passiert war. Aber der Kleinere wurde sofort abweisend, seine Haltung spannte sich unmerklich an – Tim bemerkte es nur, weil er ihn schon so lange kannte.
„Nur verschwommene Bilder, nichts weiter", wich er aus und widmete sich dann wieder seinem Essen. Tim seufzte und ließ das Thema fallen. Es würde nichts nützen, ihn mit Fragen zu löchern. Er musste ihm wohl oder übel die Zeit geben, auch wenn es ihm unfassbar schwerfiel.

Sie unterhielten sich über den Youtube-Kanal und Jan erzählte nochmal genauer, was beim MRT herausgekommen war. Er überredete Tim sogar, sich ein paar Pommes zu nehmen, und als er dann mal angefangen hatte, war er dankbar, denn eigentlich hatte er doch ziemlich Hunger gehabt. Er übergab Jan sein T-Shirt und der bedankte sich lachend, auch wenn er nur den Kopf schüttelte, als er ihm erzählte, dass er sich den dazu passenden Pullover gekauft hatte. Nach einer Stunde gingen sie raus in den Park. Die Nachmittagssonne schien auf sie herab und fast war es, als wäre nie etwas passiert. Die Stimmung war recht angenehm und entspannt – zumindest abgesehen von der Tatsache, dass Tim die ganze Zeit unterdrücken musste, unbewusst nach Jans Hand zu greifen. Aber insgesamt hatte er fast das Gefühl, damit klarzukommen, dass Jan sich nicht erinnerte.

Sie setzten sich auf die Bank gegenüber des Gebäudes. Der Garten war von Hecken umgeben und ein paar ältere Leute waren ebenfalls draußen, insgesamt war es jedoch recht leer. Tim lehnte sich zurück, streckte sich und hielt sein Gesicht in die Sonne.
„Bist du sauer, dass wir übermorgen heimfliegen?", fragte Jan ihn dann auf einmal mit schwerer Stimme. Tim drehte sich wieder zu ihm, sah ihn überrascht an und schüttelte den Kopf.

„Nein, warum sollte ich? Du kannst doch nichts dafür. Und sofern ich die Leihwagenfirma noch erreiche, ist auch alles geregelt."
Jan seufzte, zuckte ticbedingt mit dem Kopf. Irgendwas stimmte jetzt auf einmal nicht mehr, ihm lag etwas auf dem Herzen. „Jan, was ist los?", fragte er deshalb sanft und der Kleinere wandte den Blick ab.
„Naja", begann er dann irgendwann zögernd, „Arschmaus. Im Endeffekt sitzt du jetzt den Tag über nur herum. Haben wir überhaupt etwas angeschaut, außer die Parade?"

Zärtlich legte er ihm eine Hand aufs Knie. Er musste ihn jetzt einfach berühren, und das war keine Geste, die Jan zwangsläufig mit einer Beziehung verband. „Doch, wir haben Sachen angeschaut. Und ich werde nicht den restlichen Tag nur herumsitzen. Du erinnerst dich nicht mehr, aber wir haben bei der Parade ein paar Leute kennengelernt und mit denen gehe ich heute Abend noch was trinken."

Jans Gesicht wirkte für den Bruchteil einer Sekunde gequält, verzerrt. Dann ticte er, es verzerrte sich noch weiter und Tim war sich nicht mehr sicher, ob es etwas zu bedeuten hatte. Er lächelte zwar, aber Tim merkte seine Enttäuschung, weil er nicht dabeisein konnte, deutlich.
„Ist das okay für dich?", er sah ihn an, fixierte die braunen Augen. Ihm war Jans ehrliches Einverständnis unfassbar wichtig. Das Letzte, was er wollte, war dass er den restlichen Abend im Krankenhaus saß und traurig war.
„Ja, ist es", erwiderte er glaubwürdig, „Im Ernst, Tim. Es bringt nichts, wenn du deine Zeit auch noch verschwendest. Ich schaue einfach Youtube oder Netflix."

Erleichtert atmete er auf. Sie waren sich nah, sehr nah und ihn überkam das Verlangen, Jan zu küssen. Ihm zu zeigen, dass er ihn liebte. Und wie sehr. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, in der sie sich einfach nur ansahen und er mit sich selbst kämpfte. Das Braun der Augen war dunkel und warm, wie frische Erde und die Blätter im Herbst. Und genauso haltlos kam Tim sich vor. Denn Jan war es, der ihn normalerweise erdete.

Dann, irgendwann, wandte Jan sich ab und stand auf. „Die Besuchszeit ist gleich vorbei", sagte er und klang traurig. Und Tim fühlte sich genauso. Als würde ihn jemand entzwei reißen. 

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So, das wars mal wieder ^^ Heute mal wieder mit Überlänge, aber ich glaub das ist jetzt einfach die Standartlänge :D Gebt mir dazu gerne Feedback.
Wir haben die 2000 Aufrufe geknackt und ich bin euch wirklich dankbar. Die Geschichte hat sich so krass entwickelt. Lasst mir gerne auch jetzt wieder euer Lob oder eure Kritik da. ^^

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