{𝟐.𝑲𝒂𝒑𝒊𝒕𝒆𝒍} 𝑨𝒓𝒓𝒊𝒗𝒂𝒍
Ziemlich erschöpft lehnte Jan sich im Flugzeugsitz zurück. Auf sie wartete ein knapp zweistündiger Flug nach Sligo, eine Stadt im Norden von Irland, und jetzt, wo sie endlich saßen, hatte Gisela sich einigermaßen beruhigt. Er war immer wieder erstaunt darüber, wie sehr sich sein Tourette selbst übertreffen konnte, aber wenigstens war trotz seiner unzähligen terroristischen Äußerungen alles reibungslos abgelaufen. Am Morgen hatte Tim ihn abgeholt und sie waren gemeinsam zum Flughafen gefahren, beide guter Laune, auch wenn er etwas angespannt gewesen war. Tim hatte das natürlich gemerkt und hatte immer wieder versucht, ihn aufzumuntern, was aber nicht wirklich funktioniert hatte und so hatte er es bald gelassen. Sie hatten vereinbart, dass er sich ab und zu für einen zukünftigen Vlog filmen lassen würde, aber auch wenn die Kamera aus war, war es nicht viel besser. Umso froher war er jetzt, endlich im Flugzeug zu sitzen und nicht mehr dauerhaft böse Blicke zu ernten.
„Hey, willst du nen Film schauen?", fragte Tim, der rechts neben ihm am Fenster saß. Das Flugzeug war gerade dabei, abzuheben und dankbar für den Vorschlag und die Möglichkeit zur Ablenkung, steckte er seine In-Ears in die Ohren und ließ sich zurücksinken. Tim öffnete Netflix, und wählte „Der Marsianer" aus, einer von drei Filmen, die sie sich vorab heruntergeladen hatten. Immer wieder rieb Jan sich übers Gesicht, und obwohl er versuchte, sich auf das Tablet in Tims Händen zu konzentrieren, gelang es ihm schon nach kurzer Zeit nicht mehr wirklich. Eigentlich hatte er in der Nacht genug geschlafen, aber das Einchecken und die ganze Zeit im Flughafen, während sie auf das Boarding gewartet hatten, war furchtbar erschöpfend gewesen. Die leichten motorischen Tics wurden bald weniger, und es dauerte nicht lange, dann verschwammen die Aufnahmen des roten Planeten vor seinen Augen und er fiel in einen unruhigen, traumlosen Schlaf.
Als er wieder aufwachte, schmerzte sein Nacken unangenehm. Irgendwann hatte er sich wohl gegen Tims Schulter gelehnt und als er verschlafen die Augen aufschlug merkte Jan, dass der inzwischen vom Film auf eine Serie gewechselt hatte.
„Guten Morgen", begrüßte ihn der Größere mit einem Lächeln und Jan hob den Kopf, dehnte seinen Nacken kurz in beide Richtungen, „Wir sind in zehn Minuten da. Also bald überstanden."
Erleichtert fuhr er sich durch die plattgedrückten Haare, und obwohl sie auch noch durch den irischen Flughafen mussten, machte sich Vorfreude in ihm breit.
„Hast du inzwischen die Mail von der Leihwagen-Firma bekommen?" Bereits am Morgen hatten sie sich gewundert, weil sie eigentlich noch vor dem Flug eine Nachricht mit einer erneuten Bestätigung hätten erhalten sollen.
„Ich weiß nicht, wie ich im Flugzeug meine Mails abrufen soll, aber gut", erwiderte Tim lachend und setzte sich gerade hin, streckte sich in dem kleinen Sitz so gut es ging. Anscheinend hatte er die ganze Zeit in einer ziemlich zusammengekauerten und unangenehmen Position gesessen, während Jan an ihm gelehnt hatte. Warum hat er nicht einfach was gesagt?
„Der Tim hat doch eh eine Bombe mit dabei.", gab Gisela ihre Meinung dazu, bevor er weiter darüber nachdenken konnte, zum Glück aber nicht besonders laut. Nur die Frau vor ihnen drehte sich kurz um. Tim grinste unbeirrt weiter.
„Auch mit der hab ich hier kein Internet."
Eine dreiviertel Stunde später standen sie endlich bei den Bushaltestellen des Flughafens, und Jan konnte ein Wenig aufatmen. Er merkte regelrecht, wie die Anspannung mit der frischen Luft von ihm abfiel, als sie gemeinsam an den Haltestellen, an denen bereits fast alle restlichen Mitreisenden warteten, vorbei nach Süden, in Richtung der Leihwagenfirma, gingen. Sie war nicht weit entfernt und weil Tim noch immer keine Nachricht erhalten hatte, wollten sie vorbeigehen und das abklären. Zwar könnten sie theoretisch auch nach Strandhill laufen, aber keiner von ihnen war besonders scharf darauf. Die Räder der Koffer ratterten leise auf dem Beton, und bis auf ein paar wenige Häuser um den Flughafen herum, waren nur Felder und der Wald zu sehen, der das Dorf verbarg. Heute und morgen wollten sie am Meer verbringen, bis es weiter nach Süden ging, Richtung Galway. Leider war es kühl und Jan fröstelte in seinem T-Shirt ein Wenig, aber trotzdem war er wie immer, wenn er in einem neuen Land ankam, überwältigt von den ganzen Eindrücken und vor allem der Natur um sie herum. Zum Glück war der Weg nur kurz und schon ein paar Minuten später standen sie vor einem Haus, das im Gegensatz zu den anderen Landhäusern recht modern und irgendwie fehl am Platz wirkte. Auf dem Parkplatz vor ihnen standen ziemlich viele, ziemlich teuer aussehende Autos.
Tim betrat das Gebäude vor ihm und strich seinen Tommy Jeans Pullover glatt.
„Hallo", rief er auf Englisch in den Laden und ein Mann kam hinter einem kleinen Schreibtisch hervor. Gisela konnte sich nicht ganz zurückhalten, der Mann bekam ein freundliches „Fotze. Arschloch." an den Kopf geworfen, woraufhin Jan einen verwirrten Blick erntete. Möglichst freundlich erklärte er ihm auf Englisch, dass er das Tourettesyndrom hatte, woraufhin er nur mit den Schultern zuckte.
Der Mann konnte sich selbst nicht erklären, warum sie keine E-Mail bekommen hatten, aber im Endeffekt spielte es auch keine Rolle. Eine halbe Stunde später war trotzdem alles abgewickelt und Tims Grinsen wurde von Sekunde zu Sekunde breiter, während er den Schlüssel zu einem neuen silbernen Mercedes Benz Glc in der Hand zwischen den Fingern baumeln ließ. Aufgeregt luden sie ihre Koffer ein, auch wenn Jan sich vor allem auf das Hotel und ein wenig Ruhe freute.
„Ich kanns gar nicht erwarten, ihn auszuprobieren", rief Tim hingegen und der Touretter musste lachen. Der Größere stolperte fast, als er einstieg und für einen kurzen Moment überkam ihn Trauer, weil er sich nicht zu ihm nach vorne setzen konnte.
„Hier stinkts nach Nutten", kommentierte Gisela den strengen Geruch im Auto und Tim sah ihn entgeistert an, so als hätte sie gerade ihn tödlich beleidigt. Schmunzelnd schüttelte Jan nur den Kopf und konzentrierte sich schnell darauf, wie glücklich es ihn machte, dass Tim das Auto so gut gefiel. Schließlich musste er es die nächsten zwölf Tage auch fahren.
„Na dann schauen wir doch mal, was die Karre so draufhat", sagte Tim euphorisch, während er den Motor startete.
„Ich glaub nicht, dass du auf der kurzen Fahrt schon Möglichkeit haben wirst, das auszuprobieren", warf er ein, aber Tim tat so, als hätte er ihn nicht gehört. Stattdessen startete er den Motor und parkte aus.
„Ist eigentlich alles okay bei dir?", fragte er, sobald sie auf der Landstraße waren, mit einem Mal ernst, und Jan spürte ein unangenehmes Kribbeln im Magen. Natürlich merkte Tim, dass der Vormittag anstrengend für ihn gewesen war, aber trotzdem wollte er nicht, dass das jetzt die Stimmung dämpfte. Also nickte er und rang sich ein Lächeln ab.
„Jetzt schon. Das stressigste ist ja geschafft. Und wir brauchen ja nicht lange, bis wir beim Hotel sind." Schon jetzt waren sie fast durch den Wald und konnten das kleine Dorf, das direkt am Meer lag, vor sich sehen. Die bunten Häuser, die wie farbige Tupfen in der Ferne verteilt waren, sahen wunderschön aus.
„Wollen wir die Stadt dann heute noch anschauen? Und zum Strand gehen?", wechselte Tim das Thema und Jan nickte dankbar.
„Ja, klar." Eventuell brauchte er eine kurze Pause, aber andererseits hatte er ja im Flugzeug auch schon geschlafen. Sie waren ja nicht hier, um nichts zu tun, sondern so viel wie möglich zu erleben Und darauf freute er sich schon seit Wochen. So viel Zeit nur zu zweit, beim Gedanken daran stieg freudige Wärme in ihm auf. Er schaute zu Tim nach vorne und lächelte, bevor sich unter einem Tic sein Gesicht verzog.
„Es ist wirklich umwerfend hier", erwiderte Tim dann und Jan ließ seinen Blick wieder aus dem Fenster gleiten, verfolgte die endlosen Felder mit den Augen.
„Ja, das stimmt. Ich kanns kaum erwarten, das Meer zu sehen."
Lange mussten sie nicht darauf warten. In dem Moment wo sie das Ortsschild passierten, konnte Jan das glitzernde Wasser in der Ferne erkennen und spürte, wie sein Herz schneller schlug. Auch wenn der Urlaub auf Madeira noch nicht lange her war, würde das Meer niemals nicht besonders für ihn sein. Sein Blick blieb auf dem strahlenden Blau hängen und erst, als sie vor ihrem Hotel hielten und es zwischen den Häusern verschwand merkte er, dass Tim ihn aus ebenso blauen Augen im Rückspiegel ansah. Sein Blick war eindringlich und voller Zuneigung und Jan fragte sich, was er wohl dachte. Ob er auch nervös war beim Gedanken an die nächsten Tage.
Oder dem an vorletzte Nacht.
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𝐃𝐚𝐬 𝐰𝐚𝐫𝐬 𝐚𝐥𝐬𝐨 𝐦𝐢𝐭 𝐝𝐞𝐦 𝐳𝐰𝐞𝐢𝐭𝐞𝐧 𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥. 𝐈𝐜𝐡 𝐛𝐢𝐧 𝐳𝐰𝐚𝐫 𝐢𝐧𝐬𝐠𝐞𝐬𝐚𝐦𝐭 𝐮𝐧𝐳𝐮𝐟𝐫𝐢𝐞𝐝𝐞𝐧 𝐝𝐚𝐦𝐢𝐭 𝐮𝐧𝐝 𝐞𝐬 𝐩𝐚𝐬𝐬𝐢𝐞𝐫𝐭 𝐚𝐮𝐜𝐡 𝐧𝐨𝐜𝐡 𝐧𝐢𝐜𝐡𝐭 𝐬𝐨 𝐯𝐢𝐞𝐥, 𝐚𝐛𝐞𝐫 𝐢𝐜𝐡 𝐯𝐞𝐫𝐬𝐩𝐫𝐞𝐜𝐡𝐞 𝐞𝐮𝐜𝐡, 𝐝𝐚𝐬𝐬 𝐬𝐢𝐜𝐡 𝐝𝐢𝐞 𝐛𝐞𝐢𝐝𝐞𝐧 𝐢𝐦 𝐧ä𝐜𝐡𝐬𝐭𝐞𝐧 𝐓𝐞𝐢𝐥 𝐚𝐦 𝐌𝐞𝐞𝐫 𝐧ä𝐡𝐞𝐫 𝐤𝐨𝐦𝐦𝐞𝐧. 𝐍𝐚𝐣𝐚, 𝐳𝐮 𝐯𝐢𝐞𝐥 𝐰𝐢𝐥𝐥 𝐢𝐜𝐡 𝐧𝐢𝐜𝐡𝐭 𝐯𝐞𝐫𝐫𝐚𝐭𝐞𝐧, 𝐥𝐚𝐬𝐬𝐭 𝐦𝐢𝐫 𝐠𝐞𝐫𝐧 𝐞𝐮𝐞𝐫 𝐅𝐞𝐞𝐝𝐛𝐚𝐜𝐤 𝐝𝐚. ^^
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