{𝟏𝟗.𝑲𝒂𝒑𝒊𝒕𝒆𝒍} 𝑨𝒎𝒏𝒆𝒔𝒊𝒂

Jans Kopf fühlte sich seltsam an. Er hatte nicht nur unfassbare Schmerzen, sondern vor allem war es eigenartig zu wissen, dass fast zwei Tage vergangen waren, an die er sich nicht mehr erinnern konnte. Es war nicht wie normalerweise nach den Anfällen, ein dumpfes Gefühl, so als würde man gegen eine Wand denken, bei der man kurz davor war, sie zu durchbrechen. Meistens gelang ihm das dann nach ein paar Stunden und ihm fiel alles bis auf der Anfall selbst wieder ein. Aber diesmal war es anders, er hatte nicht das Gefühl, dass sein Gehirn irgendwas vor ihm verbarg. Vielmehr war es, als wäre da gar nichts gewesen, ein beunruhigender Gedanke. Zwei Tage fehlten einfach. Ausgelöscht, vielleicht für immer.

Und dann war da noch Tim. Er verhielt sich so eigenartig, war so aufgelöst, wie Jan ihn noch nie erlebt hatte. Zwar konnte er es verstehen, aber der Gedanke, dass er fast gestorben wäre, und Tim deshalb so fertig war, war trotzdem einfach noch zu surreal. Zu viele Informationen drangen auf ihn ein und er war zu erschöpft, um ihnen gerecht zu werden. Um Tim gerecht zu werden, der ihn brauchte. Und trotzdem versuchte er gleichzeitig, seinen Kummer zu verbergen, für ihn stark zu sein.
Er war wirklich der beste Freund, den er sich je hätte wünschen können. Auch wenn der Gedanke ein seltsames Gefühl in ihm auslöste. So als wäre etwas zwischen ihnen passiert.

Und natürlich war da die Tatsache, dass er immer noch mehr für ihn fühlte als er sollte. Wenigstens das war ihm geblieben. Mit einem Seufzer schüttelte er es ab, versuchte sich auf die Realität zu konzentrieren. Er musste mit Tim und mit einem Arzt sprechen. Und sobald wie möglich seine Mutter anrufen.
Langsam setzte er sich im Bett auf und als er es geschafft hatte, öffnete sich die Tür und Tim trat gemeinsam mit einem grauhaarigen Mann herein. Er lächelte ihn sanft an und zog die Tür hinter sich zu.

„Es freut mich, dass sie schon so schnell wieder wach geworden sind, Herr Zimmermann", begrüßte er ihn und kam zum Bett herüber, reichte ihm die Hand. Jan schüttelte sie zwar, aber sein Blick ruhte dabei auf Tim, der sich an die gegenüberliegende Wand gelehnt hatte. Er schien sich wieder gefasst zu haben, lächelte ihm ruhig zu. Aber Jan kannte ihn gut genug, um in seinen blauen Augen zu sehen, wie aufgewühlt er war. Auch wenn er wissen wollte, wie es um ihn stand, wollte er gleichzeitig am liebsten sofort wieder mit Tim allein sein. Er wollte immerzu mit Tim alleine sein, so wie in Strandhill am Strand. Möglichst nah. Und nach allem, was jetzt passiert war, war dieses Gefühl nahezu unbezwingbar stark.

Der Arzt setzte sich und erklärte ihm in Ruhe, was vorgefallen war. Er erfuhr, warum er Deutsch sprach und dass sie ein paar Tests gemacht hatten, aber noch keinen MRT. Dass seine Tabletten aus irgendwelchen Gründen nicht gewirkt hatten und er neu eingestellt worden war. Dass er ohne Tim wahrscheinlich gestorben wäre. Zwar wurde es dadurch, dass der Arzt es sagte, ein Wenig realer, aber trotzdem fühlte er sich immer noch irgendwie teilnahmslos. Als würde man über jemand anderen sprechen, als ginge es gar nicht um ihn.
„Sie haben wahnsinniges Glück gehabt, so viel steht fest. Wir müssen heute noch einen MRT machen, in einer Stunde werden Sie dafür abgeholt. Den Rest der Zeit ruhen sie sich am besten aus." Er sagte das ohne einen bösen Ton.

„Aber wie ist das jetzt mit der Amnesie?", Inzwischen war Gisela zum Glück auch wieder aufgewacht, und auch wenn er nur wenige Tics hatte, ließ sein Tourette in ab und zu mit dem Kopf zucken. Jedes Mal pulsierten rasende Schmerzen über seinen Hinterkopf, „Was ist mit meinen Erinnerungen...soweit ich das verstehe - Fotze - fehlen mir fast zwei Tage."
„Vermutlich handelt es sich um eine leichte Form der retrograden Amnesie", erwiderte der Arzt, „Bei Epilepsie ist das nicht ungewöhnlich, das kennen sie also wahrscheinlich schon", Jan nickte, „Ich gehe davon aus, dass es damit zusammenhängt, dass der Krampfanfall so ungewöhnlich lange gedauert hat."

„Aber werden die Erinnerungen wiederkommen?" Jan war etwas überrascht, als er Tims Stimme hörte, denn er hatte das ganze Gespräch über einfach nur zugehört. Er sah zu ihm auf und merkte, wie er in seinen Augen zu versinken drohte. Das Meer in ihnen war immer noch stürmisch, die Wellen unruhig und dunkel. Das Meer. Irgendwie hatte das eine Bedeutung, aber er wusste nicht mehr welche. Sein Herz zog sich zusammen. Er wollte sich erinnern. Es machte ihn wahnsinnig, dass er es nicht konnte.
„Ja, ich gehe davon aus dass in ein paar Tagen, spätestens aber in einem Monat, das Meiste wieder da sein sollte. Vielleicht kann ihr Freund Ihnen ja etwas auf die Sprünge helfen, wenn Sie sich wieder an ein paar Sachen erinnern."

Tim nickte, aber Jan merkte, dass er angespannt war. Verzweifelt suchte er in seinem Kopf danach, was los war. Warum war Tim so anders? Was war passiert? Hatte er irgendetwas dummes getan? Hing es mit dem Abend in der Bar und seinem Aufenthalt im Krankenhaus zusammen? Für einen Moment schloss er die Augen, versuchte das Krankenhauszimmer wieder vor seinem inneren Auge entstehen zu lassen. Kurz bevor er gegangen war, hatte er sich auf die Bettkante gesetzt, mit dem Rücken zu Tim und zerfressen von Schuldgefühlen. Und deswegen hatte er einen dummen Entschluss gefasst. Da ist noch etwas, worüber wir reden müssen.
Schnell öffnete er die Augen wieder, sah zu Tim und schließlich auf seine Hände. Er hatte ihm seine Gefühle gestehen wollen. War das der Grund, warum Tim sich so seltsam benahm? Hatten sie sich daraufhin gestritten, weil er nicht das Selbe empfand?

Erst jetzt merkte er, dass Tim ihn anstarrte. Vielleicht war er so angespannt weil er gar nicht wollte, dass er sich erinnerte. Vielleicht war es besser, dass er vergessen hatte, was passiert war, weil sie dann so tun konnten als wäre nichts geschehen.
„Wann kann ich denn wieder gehen?", fragte er mit heiserer Stimme und versuchte diese Gedanken zu verdrängen. Eigentlich war die Wahrheit immer besser, als sie nicht zu wissen, aber jetzt war er unsicher. Lieber wusste er nichts mehr, als Tim als Freund zu verlieren.
„Ich denke, übermorgen, wenn alles gut läuft. Dann haben wir die Ergebnisse des MRTs ausgewertet und können uns den EKG anschauen."

„Eine Frage hätte ich noch", sagte er vorsichtig und rieb sich kurz die Schläfen, was die Kopfschmerzen allerdings nicht besser machte, „He. Du siehst aus wie ein alter Affe. Entschuldigung. Können wir unseren Urlaub überhaupt noch fortsetzen?"
Er erzählte ihm, was Sie noch geplant hatten, und der Arzt schüttelte dann den Kopf. „Es tut mir leid, aber ich denke es wäre besser, wenn Sie Stress möglichst vermeiden, und vor allem so schnell wie möglich mit Ihrer Neurologin sprechen. Das heißt, sie sollten so bald es geht zurück nach Deutschland fliegen."
Jan spürte einen enttäuschten Stich im Herzen und senkte den Blick. Er konnte Tim nicht ansehen. Sie hatten so lange an diesem Urlaub geplant und der ganze Süden lag noch vor ihnen. Zwei Stopps würden sie einfach verpassen. Sie hatten den St. Patrick's Day verpasst, Tim war einen Tag im Krankenhaus gewesen und an zwei Tage konnte er sich nicht mehr erinnern. Was war das für ein Urlaub?

Abwesend verabschiedete er sich von dem Arzt und als er gegangen war, nahm Tim wieder seinen Platz im Stuhl ein. Sie schwiegen, Jan wusste nicht, was er sagen sollte. Er fühlte sich so schuldig, auch wenn er eigentlich gar nichts dafür konnte. Tim legte seine Hand aufs Bett, in die Nähe von seiner eigenen, griff sie aber nicht wieder. Noch ein enttäuschter Stich. Er wollte, dass er sie wieder nahm, hatte sie vorhin nur weggezogen, weil er nicht wusste, was zwischen ihnen passiert war.
Was, wenn er es Tim gar nicht gesagt hatte? Oder wenn er es ihm gesagt hatte, und danach etwas positives passiert war? Wie sollte er ihn darauf ansprechen, wenn er so vielleicht seine Gefühle verriet, oder - schlimmer noch - dadurch daran erinnern würde, dass sie sich zerstritten hatten. Erschöpft seufzte er auf. Es war einfach zu viel. Alles war zu viel.

„Alles okay, Jan?", brach Tim in dem Moment das Schweigen und sah ihn an. Wärme stand in seinen dunklen Augen, aber gleichzeitig auch Schmerz. Jan bemerkte alles an ihm. Merkte, dass er zitterte und versuchte es zu verbergen. Merkte, dass seine Augen rot waren - er hatte geweint - und das nur wegen ihm. Sein blaues Auge war fast verblasst, und die Schramme auf seiner Wange abgeheilt. Er war wunderschön. Und er liebte sein Lächeln. Seine Gefühle waren jetzt auf einmal so stark, viel stärker als in Galway, „Wenn du irgendetwas wissen willst, frag mich einfach. Ich sage es dir gerne."
Er schluckte schwer. Eigentlich wollte er ihn nicht zurückweisen, aber wie sollte er es nicht tun, wenn er ihm eigentlich nah sein wollte und nicht wusste, ob das okay war?

„Nein", erwiderte er also leise, „Um ehrlich zu sein würde ich mich gerne selbst erinnern. Fick dich. Nicht, weil ich dir nicht vertraue, sondern weil ich einfach denke, dass das besser ist. Du hast den Arzt ja gehört."
Tim nickte langsam, seufzte. „Okay, aber falls du deine Meinung änderst, kannst du mich alles fragen."
Jan zwang sich aufzusehen, sah in seine Augen, fixierte seinen Blick. Alles an ihm war so vertraut. Wie konnte es dann sein, dass gleichzeitig so eine Distanz zwischen ihnen war? Liebst du mich auch?, hätte er ihn am liebsten gefragt, Habe ich dir gesagt, was seit Ewigkeiten in mir vorgeht?

Aber das ging nicht. Zu groß war die Gefahr, etwas kaputt zu machen. Und er hatte schließlich schon genug kaputt gemacht. Nur wegen ihm mussten sie ihren Urlaub abbrechen. Den Urlaub, auf dem sie sich monatelang gefreut hatten.
„Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt erst mal gehst", sagte er schweren Herzens und für den Bruchteil einer Sekunde flackerte Schmerz über Tims Gesicht. Ihm wurde übel, „Wir müssen uns um ziemlich viel kümmern. Es tut mir leid, dass das jetzt alles so gelaufen ist und wir nachhause fliegen müssen. Ins World Trade Center rein."
„Mir auch", erwiderte Tim und Jan hatte das Gefühl, dass seine Stimme ein Bisschen schwankte, „Aber sei nicht traurig. Ich bin einfach nur froh, dass es dir gut geht. Das ist das wichtigste. Alles andere bekommen wir hin. Dann machen wir uns halt eine schöne Zeit in Deutschland. Mach dir keine Sorgen, ich kümmere mich um alles. "

Er seufzte und sah Tim an. Ihre Blicke trafen sich wieder und für einen Moment konnte er seine Gefühle nicht verbergen. Langsam streckte er seine Hand aus, berührte wie beiläufig Tims Fingerspitzen. Ein elektrisierendes Gefühl durchströmte ihn als er merkte, was er da tat.
„Danke. Wenn ich helfen kann, sag es mir bitte", erwiderte er leise und senkte den Blick, sah auf ihre Hände. Tim machte keinerlei Anstalten, sie wegzuziehen.
„Ich hab dir Sachen mitgebracht", hauchte der Größere mit zittriger Stimme, „Wir wissen ja beide, wie gerne du Krankenhaushemden magst. Dein Handy ist auch im Rucksack."

Wieder bedanke er sich, sah aber jetzt zu ihm auf. Ihre Blicke fanden sich und Braun traf auf Blau. Ein seltsamer Ausdruck stand in Tims Augen, als er plötzlich aufstand, und ihre Verbindung riss.
„Ich bin froh, dass es dir gut geht. Ich hatte heute wirklich Angst, dich zu verlieren", sagte er noch leise, „Mach's gut. Wenn du irgendwas brauchst, schreib mir einfach. Ich komm immer gern vorbei."

Jan konnte nichts mehr antworten. Zu sehr war er verwirrt von seinen Gefühlen und davon, dass Tim die Hand nicht weggezogen hatte. Bestimmt lag es daran, dass er Angst um ihn gehabt hatte, aber sein Herz schlug trotzdem schneller. Ich muss mich erinnern, so schnell wie möglich, dachte er, als die Tür hinter seinem besten Freund zugefallen war. Denn diese komische Stimmung in der man jedes ungesagte Wort spüren konnte, war kaum zu ertragen.

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So, da wären wir also mal wieder. ^^
Wenn euch nur das Special interessiert scrollt vor bis zum nicht-fettgedruckten Teil.

Das Kapitel war zwar sehr viel innerer Monolog und es ist nicht viel passiert, aber ich wollte nachvollziehbar beschreiben, was in Jan vorgeht, bevor er seinen Entschluss fasst.
Ich hoffe es hat euch trotzdem gefallen. Die Geschichte neigt sich langsam dem Ende zu und ich bin sehr dankbar für euer ganzes Feeedback (Das heißt nicht, dass sie jetzt sofort endet).
Wir haben jetzt fast 2000 Aufrufe und über 200 (!) Votes. Das ist irgendwie immer noch schwer zu glauben :D Danke ^^

Ich habe mir um euch etwas zurückzugeben überlegt, ein kleines Special zu machen, bei dem ihr das Ende der Geschichte ein Wenig mitgestalten könnt. Jeder kann mitmachen. Wenn ihr Lust habt, schreibt mir entweder:

- ein Zitat/einen Spruch
- einen Charakter
- einen Ort (z.B. Strand, Wald etc.)
- oder eine Formulierung

Die euch gefällt/gefallen hat und von der ihr euch wünschen würdet, ich würde sie (nochmal) einbauen. Ich werde das dann soweit versuchen, wie es für die Geschichte Sinn macht, also schlagt ruhig 2-3 Sachen vor und seid mir nicht böse, wenn ich etwas nicht berücksichtige. Achja, und schlagt bitte keine Sachen vor, die 1 zu 1 aus einer anderen Fanfiktion kopiert sind, ich möchte niemandem seinen Schreibstil/Ideen klauen, ohne es zu wissen :D

Und jetzt hör ich auf, euch zuzutexten :D Ich hoffe die Idee gefällt euch. Lasst mir gerne euer Feedback da.

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