{𝟏𝟖.𝑲𝒂𝒑𝒊𝒕𝒆𝒍} 𝑩𝒍𝒂𝒄𝒌𝒐𝒖𝒕
Das Zimmer lag vor ihm, klein und steril. Der Rollladen war heruntergelassen, so dass nur Streulicht hereinfiel und einzelne Flecken auf das Bett und Jans reglosen Körper warf. Er war an ein EKG angeschlossen, und zumindest seine Herztöne klangen gleichmäßig. Trotzdem fühlte Tim sich nicht beruhigt. Stattdessen schlug sein Herz noch schneller als er den Rucksack abstellte und sich einen Stuhl heranzog. Traurig musterte er Jans Gesicht, seine Augen waren geschlossen und alles an ihm war reglos. Mehr als je zuvor wünschte er sich irgendein Lebenszeichen, zumindest von Gisela.
Stockend holte er Luft und versuchte sich zu sammeln, die Tränen zurückzuhalten. Dann griff er nach Jans Hand. Sie war warm, aber leblos, er verschränkte ihre Finger. Es kostete etwas Kraft, aber danach hatte er das Gefühl, ihm ein Stück näher zu sein.
„Hey, Jan", sagte er leise, seine Stimme schwer von Wehmut, „Ich bin jetzt da. Du bist nicht mehr allein."
Seine Worte kamen ihm lächerlich vor, aber trotzdem hörte er nicht auf zu reden. Ansonsten war nur das Fiepen des EKGs zu hören, seltsam beruhigend. Wenigstens schlug sein Herz noch. Hoffentlich schlägt es auch noch für mich, und er hat nicht alles vergessen, dachte er traurig. Aber konnte man Liebe so einfach vergessen?
„Ich hoffe du wachst bald auf und alles ist gut", hauchte er matt und merkte, wie etwas in ihm brach. Mit Jan zu reden ohne eine Antwort zu bekommen, schmerzte mehr als alles, was er bisher an diesem Tag erlebt hatte. Es fühlte sich an, als würde jemand sein Herz zertrümmern.
„Ich brauch dich, okay? Und selbst wenn irgendwas passiert sein sollte, wenn du dich nicht erinnerst oder irgendwas kaputt ist, ich steh das mit dir durch. Wir kriegen das hin. Schließlich sind wir ein Team."
Er lachte traurig auf und im selben Moment rannen wieder Tränen seine Wangen hinab. Jan würde nicht antworten. Vielleicht würde er nie wieder antworten, weil er nicht mehr richtig sprechen konnte. Es war so ungerecht. Er hatte doch schon genug zu tragen, wieso wurde ihm jetzt vielleicht noch eine weitere Last auferlegt?
„Du willst das nie hören, aber ich würde dir sofort alles abnehmen, wenn ich könnte", seufzte er, „Ich liebe dich, Jan. So wie du bist. Mit Gisela und deiner Epilepsie und ich werde dich auch mit allem lieben, was sonst noch kommt. Mir scheißegal, ob das kitschig ist, es ist wahr. Ich hab dir ein Für Immer versprochen und das wirst du bekommen."
Einen kurzen Moment erlaubte er es sich, seinen Kopf auf dem Bett zu vergraben, kuschelte sich in die warme Armbeuge seines Freundes. Er umklammerte seine Hand, als wäre es ihre letzte bestehende Verbindung und ließ den Tränen freien Lauf. Sein Geruch umhüllte ihn, erzählte von Wärme und Geborgenheit. Von Lachen und Liebe.
Aber irgendwann öffnete er die Augen und setzte sich auf, musste sich der Kälte und Einsamkeit des Krankenhauszimmers stellen.
Erschöpft stand er auf und beugte sich über Jan, hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. Die Übelkeit war verschwunden, jetzt spürte er nur noch eine drückende Trauer, die wie eine schwarze Wolke über ihm schwebte.
„Ich werde jetzt mal kurz deine Mutter anrufen", sagte er leise und zog dann sein Handy heraus. Er hatte hier drin so wieso kein Netz also konnte er sich auch kurz einen Kaffee holen gehen. Mit langsamen Schritten macht er sich zurück auf den Weg nach draußen. Die alte Frau war verschwunden, und jetzt, wo er wieder etwas klarer denken konnte fragte er sich, ob auch einem ihrer Lieben etwas zugestoßen war. Hoffentlich ging es demjenigen gut.
In der Notaufnahme fand er einen Kaffeeautomat und auch wenn er grauenhaft schmeckte, war er dankbar für das Bisschen Wärme. Er ging vor die Tür, raus in den warmen Frühlingstag und setzte sich auf die Mauer vor dem Eingang. Bevor er zögern konnte, wählte er Marions Nummer. Sie hob sofort ab.
„Hallo, Tim. Weißt du schon etwas neues?"
„Hallo, Marion. Ja, ich konnte inzwischen mit einem Arzt sprechen und war auch bei Jan, er schläft aber noch." Er hörte wie sie erleichtert ausatmete und holte tief Luft, schloss für einen Moment die Augen und begann dann zu erzählen. Alles, was der Mann gesagt hatte. Sie hörte einfach zu, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen, aber ganz am Ende seines Berichts hörte er dann doch ein Schluchzen, „Ich wünschte du wärst hier, bei ihm", sagte er dann, „Alleine der Gedanke, dass er nicht mehr derselbe ist, nicht mehr reden kann oder sich nicht an mich erinnert, zerreißt mir das Herz. Wer soll ihm dann Halt geben?"
Abwesend warf er den Kaffeebecher in den Müll und starrte in die Ferne über den Parkplatz. Er konnte den Mietwagen sogar von hier sehen. Seine Gedanken wanderten zurück zu ihrer Fahrt nach Galway, wie Jan zu dem Lied von SXTN mitgesungen hatte und er musste lächeln.
„Tim, ich weiß, wie nahe ihr euch steht, und wie unfassbar schwer das für dich sein muss. Es tut mir so leid, dass euer Urlaub von diesen ganzen Sachen überschattet wird. Erst bist du im Krankenhaus und jetzt er."
Tim schnaubte, schüttelte unbewusst den Kopf. „Naja, ich war immerhin selbst schuld. Jan hingegen...er kann nichts dafür."
„Mach dir keinen Vorwurf, für nichts Tim. Du bist der beste Freund, den ich mir für Jan hätte wünschen können und ihm geht das nicht anders, das weiß ich."
Er seufzte matt und sie beendeten das Gespräch. Alles in ihm fühlte sich schwer und düster an. Wie lange würde es dauern, bis Jan aufwachte? Wie lange, bis er erfahren würde, was sie sich jetzt stellen mussten?
Kurz überlegte er, dann wählte er mit zitternden Fingern die Nummer seiner Mutter. Wann immer er nicht mit Jan sprechen konnte, war sie es, die ihn am besten auffangen konnte. Er musste ihr sagen, wie er sich fühlte. Es lag nicht an ihm, Marion von ihrer Beziehung zu erzählen, aber seiner eigenen Mutter konnte er es anvertrauen, auch wenn er es ursprünglich mit Jan gemeinsam und persönlich hatte machen wollen.
„Tim? Wie geht es dir?", fragte sie sanft in den Hörer und daraus schloss er, dass sie bereits Bescheid wusste.
„Tut mir leid, dass ich mich erst jetzt melde", erwiderte er leise und seufzte, „Ich bin jetzt im Krankenhaus, war gerade bei Jan." Zum zweiten Mal erzählte er, was er erfahren hatte. Als seine Mutter versuchte ihn zu trösten, sackte er zusammen, stützte die Hände ins Gesicht.
„Ich habe es Marion nicht gesagt, weil ich glaube, Jan möchte das selbst tun, aber wir sind vorgestern zusammengekommen. Und jetzt habe ich das Gefühl, meine Welt bricht gleich doppelt zusammen. Nicht nur mein bester Freund ist vielleicht noch stärker eingeschränkt als eh schon, sondern auch noch der Junge, den ich liebe. Er hat das doch nicht verdient."
„Ach Tim", seufzte sie leise, „Ich habe es geahnt, dass da mehr zwischen euch ist. Schon seit einer Weile. Es freut mich sehr und gleichzeitig macht es mich unfassbar traurig, dass ihr gerade dann jetzt so viel Pech habt. Aber gib ihn nicht auf. Vielleicht geht es ihm gut, vielleicht kann er sich nur an ein paar Dinge nicht mehr erinnern."
Die Tränen bahnten sich wieder den Weg seine Wangen hinab, als er seine Angst aussprach. Natürlich wäre die Amnesie noch das Kleinste Übel, aber trotzdem fürchtete er sich davor. „Was, wenn er nicht mehr weiß, was zwischen uns passiert ist, Mama?"
„Dann musst du es ihm zeigen, Tim. Ihn zu seinen Erinnerungen zurückführen. Selbst wenn er momentan keinen Zugriff auf sie hat, sind sie vielleicht nicht für immer verloren."
Eine Weile redeten sie noch und sie sprach ihm gut zu, dann verabschiedete er sich und stand schnell auf, ging wieder zurück. Er war sowieso schon viel zu lange weg gewesen. Trotzdem fühlte er sich jetzt wenigstens ein Bisschen leichter.
Die Leichtigkeit verschwand jedoch wieder, als er erneut das Zimmer betrat. Er war sich nicht sicher, ob er enttäuscht oder erleichtert sein sollte, als er sah, dass Jan immer noch schlief.
Wieder setzte er sich auf den Stuhl und griff nach seiner Hand, malte mit dem Daumen Kreise auf die Innenfläche.
„Ich bin wieder da", sagte er traurig. Er sah Jan an, beobachtete wie sein Brustkorb sich gleichmäßig hob und senkte. Irgendwann übermannte ihn die Erschöpfung endgültig, er lehnte sich mit einem Seufzer im Stuhl zurück und konnte nicht mehr verhindern, dass seine Augen zufielen. Langsam driftete er in einen unruhigen Schlaf, träumte davon, dass Jan in einen Abgrund fiel und er ihn nicht festhalten konnte.
Dann, plötzlich, spürte er, wie seine Hand gedrückt wurde. Zuerst dachte er, er würde träumen, aber als er die Augen aufschlug, passierte es noch einmal. Jan drückte seine Hand.
Tim ließ seinen Blick nach oben wandern, sah wie sein Gesicht sich bewegte. Und dann, nach einigen quälenden Sekunden, schlug er die braunen Augen auf. Sofort verlor er sich in ihnen und spürte, wie sich ein sanftes Lächeln auf sein Gesicht schlich. Mit klopfendem Herzen schloss er sanft die Finger um seine Hand.
„Guten Morgen."
Jan sah ihn aus trüben roten Augen an, wirkte verwirrt. Tims spürte einen Kloß im Hals, aber trotzdem versuchte er, Ruhe nach außen auszustrahlen. Er wollte Jans Fels in der Brandung sein.
„Tim...Was ist passiert? Wo bin ich?", er drehte den Kopf zur Seite und zuckte dann zusammen. Erleichterung überschwemmte Tim, weil er redete. Er redete ganz normal.
„Du bist im Krankenhaus", erwiderte er sanft und rieb sich mit der freien Hand den Schlaf aus den Augen, „Du hattest einen Grand Mal-Anfall. Wie geht es dir?"
Der Blick seines Freundes war ausdruckslos und er ignorierte seine Frage. „Wie schlimm war es?", wollte er stattdessen wissen und Tim schluckte. Das war immer das Schlimmste. Jan wollte sofort alle Fakten haben, erfahren, wie ernst die Situation gewesen war. Und er wusste, dass es keinen Wert hatte, zu versuchen ihm etwas zu verschweigen. Es war sein gutes Recht danach zu fragen, aber trotzdem hatte er einen Kloß im Hals.
„Wir waren auf der Parade heute morgen", begann er also und sein Herz schlug so schnell gegen seine Brust, dass er sich fragte, ob Jan es hören konnte. Sein Freund wirkte erschöpft und desorientiert und Tim hatte immer mehr das ungute Gefühl, dass doch nicht alles in Ordnung war, „Soll ich nicht lieber zuerst einen Arzt holen?"
„Nein, erzähl es mir bitte gleich", erwiderte er und sah ihn mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen an.
Also seufzte er nur auf und erzählte dann die ganze Geschichte. Mit jedem Wort wurden Jans Augen dunkler, er wurde stiller und zog sich merklich zurück. Irgendetwas stimmt ganz und gar nicht, dachte Tim panisch und als Jan dann auch noch seine Hand wegzog, stockte sein Herzschlag. Er wandte sich ab und hustete, um die Tränen in seinen Augen zu verbergen.
„Das erklärt so einiges", Jans Stimme war immer noch so seltsam ruhig, fast schon monoton, „Das letzte woran ich mich nämlich erinnern kann ist, wie ich im Hotel in Galway schlafen gegangen bin, nachdem ich dich im Krankenhaus besucht habe."
Bei diesen Worten konnte Tim sich nicht mehr zurückhalten. Er schnappte nach Luft, zu schockiert um irgendwas zu fühlen sah er Jan an, fuhr sich mit zitternden Händen durch die Haare.
„Du erinnerst dich nicht?", fragte er und wünschte sich, er würde aus diesem Alptraum aufwachen. Das, wovor er sich so gefürchtet hatte, war eingetreten und obwohl er damit gerechnet hatte, war er kein Bisschen darauf vorbereitet. Ohne etwas dagegen tun zu können stand er auf. Er brauchte Abstand, weil er Jan nicht nah sein konnte. Denn der erinnerte sich nicht. Ihre Nacht in Galway, dieser wundervolle Abend, das existierte für ihn einfach nicht mehr.
Eigentlich hatte er gefasst bleiben wollen, aber die Erkenntnis war zu schwer. Ohne sich aufhalten zu können sprang er auf. „Ich gehe einen Arzt holen", hauchte er und war schon fast bei der Tür. Er hörte noch, dass Jan ihm verwirrt hinterherrief, aber er drehte sich nicht nochmal um. Sobald die Tür hinter ihm zugefallen war, schlug er einmal frustriert gegen die Wand und brach dann in Tränen aus.
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So, das wars mal wieder. ^^ Ich hoffe es hat euch gefallen, es ist schon wieder viel zu lang, aber ich wollte Tims Gefühle nicht zu sehr rauskürzen. Ich hoffe ihr freut euch darüber :D Was denkt ihr darüber, dass Jan so abweisend ist? Und über Tims Reaktion?
Vielen Dank wie immer an alle, die kommentieren und Voten. Das ist unglaublich motivierend. Mittlerweile sind wir bei über 1700 Aufrufen, womit ich nie gerechnet hätte. Lasst mir gerne euer Feedback da. ^^
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