{𝟏𝟕.𝑲𝒂𝒑𝒊𝒕𝒆𝒍} 𝑹𝒐𝒄𝒌 𝑩𝒐𝒕𝒕𝒐𝒎
Tim fühlte sich hundeelend als er das Gespräch mit Marion beendet hatte. Sie war völlig außer sich gewesen, hatte versucht, ihn zu beruhigen und ihm mindestens fünfmal gedankt, dass er bei Jan gewesen war und so gut reagiert hatte. Trotzdem war sein Herz nur noch ein schwerer, schmerzender Klumpen in seiner Brust. Der Weg zurück durch die Stadt war wie Folter, weil er immer wieder daran denken musste, wie sie zusammen hier gewesen waren. Dass sie zusammen zurücklaufen sollten.
Als er dann an der Brücke ankam, stellte er mit einem schmerzhaften Stich im Herzen fest, dass er es nicht mal geschafft hatte, sich ihren Namen zu merken, und das obwohl Jan ihm so genau etwas darüber erzählt hatte. Erinnerungen zerrissen ihn, daran wie sie noch vor gut zwei Stunden glücklich hier entlanggelaufen waren, gelacht hatten. Gisela hatte Grimassen für die Kamera geschnitten. Und jetzt war Jan im Krankenhaus, allein. Er musste so schnell wie möglich zu ihm, denn er würde keine Erinnerungen daran haben, was passiert war, wenn er aufwachte, nicht wissen wo er war.
Wenn er aufwacht, flüsterte eine leise Stimme in seinem Kopf und trieb ihm wieder die Tränen in die Augen. Schnell wischte er sie fort. So durfte er nicht denken, natürlich würde er aufwachen. So wie immer.
Aber er konnte nicht damit aufhören. Immer wieder sah er den ernsten Gesichtsausdruck des Sanitäters vor sich. Es war ein alter, erfahrener Mann gewesen, kurz vor der Rente. Er hatte gewusst, was er tat, das war vermutlich sein tausendster Epilepsie-Patient gewesen. Und genau das war es, was ihm solche Angst machte.
Er verdrängte die Gedanken, weil er endlich das Hotel erreicht hatte. Schnell sprintete er die Treppen hoch, nahm immer zwei Stufen auf einmal. Oben angekommen leerte er außer Atem den Rucksack auf dem Bett aus. Ihrem Bett. Er spürte wieder Tränen in seinen Augen brennen als er an gestern zurückdachte.
Lass es mich einfach vergessen. Und wenn es nur für einen kurzen Augenblick ist, hallte Jans Stimme in seiner Erinnerung nach. Sein Gesichtsausdruck war so verletzlich und schutzlos gewesen. Er ballte die Hände zu Fäusten. Es war so verdammt ungerecht. Warum musste Jan immer so was passieren? Er hatte nie irgendwem etwas böses getan.
Geistesabwesend packte er ein paar Klamotten zusammen, und legte nicht nur T-Shirts von Jan in den Rucksack, sondern auch zwei seiner Hoodies. Er wollte das Gleiche für ihn tun, was er getan hatte, ihm Geborgenheit geben. Dabei wusste er immer noch nicht, ob es bewusst geschehen war. Und jetzt kann ich ihn vielleicht nicht mehr fragen.
Dieser Gedanke war endgültig zu viel. Mit zitternden Händen fuhr er sich durch die Haare und brach zusammen, ließ sich aufs Bett fallen, weil seine Beine ihn mit einem Mal nicht mehr tragen wollten. Er starrte auf Jans eigentlich ordentlichen Koffer, der jetzt vollkommen durchwühlt war. Und dann sah er auf ihr Bettzeug, das Nachtkästchen, wo Jans Bürste lag. Das hier war einfach nur ein Zimmer, ein Zimmer in dem in ein paar Tagen jemand anderes wohnen würde. Aber trotzdem schrie alles Jans Namen, erinnerte an ihn oder an einen Moment, den sie gemeinsam verbracht hatten. Ihre Leben waren so stark miteinander verwoben, dass er sich eine Welt ohne ihn nicht vorstellen wollte. Und erst recht nicht konnte.
„Reiß dich zusammen, Tim", herrschte er sich selbst an und seufzte laut auf, zwang sich aufzustehen, „Noch weißt du überhaupt nichts. Also gibst du ihn auch nicht auf."
Danach griff er sich nur noch den Autoschlüssel vom Schreibtisch und stürmte wieder nach unten. Er würde ihn niemals aufgeben.
Am Krankenhaus angekommen konnte er sich an die Fahrt kaum noch erinnern, war nur erleichtert, dass er vorhin nicht viel getrunken hatte. Der Schlüssel rutschte ihm durch die Finger, als er abschloss, und fluchend hob er ihn wieder auf. Auf dem Weg nach drinnen war ihm speiübel. Er meldete sich in der Notaufnahme an, fragte nach Jan, aber das Einzige, was von dem Gespräch hängenblieb waren die Worte intensive care unit. Dort musste er hin. Die Intensivstation.
So schnell er konnte hastete er durch die Gänge, versuchte den Schildern zu folgen, denn er wollte niemanden nach dem Weg fragen, obwohl sich alles drehte und gleich aussah. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als er dann nach einer gefühlten Ewigkeit durch eine schwere Doppeltür trat und sich auf der richtigen Station befand. Er wollte um alles in der Welt endlich wissen, wie es Jan ging. Ob er es unbeschadet überstanden hatte, vielleicht sogar schon wieder wach war. Und gleichzeitig spürte er wie die Angst vor genau diesen Fragen ihm die Luft abschnürte.
Allzu bald sollte er aber noch keine Antworten bekommen. Es folgte zuerst ein weiteres Gespräch, von dem er kaum etwas mitbekam, und dann wurde er in einen Wartebereich geschickt. Angespannt nahm er auf einem Gang Platz, der bis auf eine ältere Frau leer war. Gegenüber von ihnen waren mehrere weiße Türen. Nervös knetete er seine Finger und versuchte einzuschätzen, wie lange der Anfall mittlerweile her war, merkte aber schnell, dass er jegliches Zeitgefühl verloren hatte. Irgendwann nahm er dann sein Handy heraus und scrollte durch seine Fotos, lieferte sich dem Schmerz aus, der beim Betrachten der Bilder sein Herz zerriss. Unzählige Male lachte ihm Jan entgegen, oder Gisela machte irgendetwas komplett verrücktes. Er fuhr sich übers Gesicht, versuchte sich zu sammeln, aber er schaffte es nicht. Was, wenn wir solche Momente nie wieder haben können?
„Are you okay?", fragte ihn die ältere Frau sanft und er drehte sich zur Seite, wischte sich die Tränen aus den Augen. Eigentlich hatte er keine Lust mit irgendwem zu reden und deshalb nickte er einfach nur. Danach herrschte wieder Stille, eine endlose, quälende Stille, in der er es kaum schaffte, seine Gedanken zu bändigen.
Dann, irgendwann öffnete sich die Tür und endlich wurde er gerufen. Er war so durcheinander, dass er es nicht mal ungewöhnlich fand, als ihn der große Mann in den Fünfzigern auf Deutsch ansprach.
„Herr Lehmann? Kommen Sie rein."
Sofort schnellte er hoch und Schwindel überkam ihn, die Übelkeit war inzwischen so intensiv, dass er nicht sicher war, ob er sich nicht vielleicht gleich übergeben musste. Der Moment der Wahrheit war gekommen.
Der Arzt reichte ihm die Hand und stellte sich vor, schloss dann die Tür. Den Namen hatte er sofort wieder vergessen. Er wünschte sich um alles in der Welt seine Mutter oder Marion herbei, als er sich an den Tisch vor dem Computer setzte. Wenigstens Henry. Irgendjemanden, der ihm beistehen würde.
„Setzen Sie sich erst mal, bevor Sie mir umkippen", die Stimme des Mannes war sanft und Tim merkte, wie müde er aussah. Erst jetzt kam es ihm komisch vor, dass er Deutsch sprach, „Möchten Sie ein Glas Wasser?"
„Nein, danke", erwiderte er mit rauer Stimme und setzte sich hin. Immer noch drehte sich alles, die Lichter waren viel zu hell, „Warum sprechen Sie Deutsch?"
Der Mann strich seine grauen Haare glatt und lächelte mild. „Meine Familie ist vor fünf Jahren nach Irland ausgewandert. Ich dachte mir, dass es besser und leichter ist, wenn ich Deutsch mit Ihnen spreche. Meine Tochter verfolgt Ihre Videos, daher hab ich Sie erkannt."
Hätte er sich nicht so schrecklich gefühlt, hätte er vermutlich gelacht, weil das ein ziemlicher Zufall war. Aber so erzwang er einfach nur ein Lächeln. „Dann sagen Sie ihr liebe Grüße."
„Das werde ich. Aber zuerst möchte ich mit Ihnen über den Zustand Ihres Freundes sprechen, dem Sie heute durch ihre schnelle und richtige Reaktion das Leben gerettet haben."
Das Leben gerettet. Erleichterung überschwemmte ihn, aber trotzdem umklammerte er sein Handy angespannt.
„W...wie geht es ihm?", fragte er dann heiser, „Sein Anfall heute war irgendwie seltsam, so als hätte die Tablette nicht richtig gewirkt."
„Ihre Beobachtung ist richtig", antwortete der Arzt ruhig, „Das Medikament hat nicht so angeschlagen, wie es eigentlich sollte. Die genaue Ursache dafür konnten wir bisher noch nicht feststellen, aber wir haben Ihren Freund wieder eingestellt."
Er sah den Arzt einfach nur weiter an. Sein Herz pochte, hämmerte gegen seinen Brustkorb.
„Heißt das, es geht ihm gut?"
Der Mann hob den Kopf und tippte etwas in seinen Computer, sah ihm dann in die Augen. Und da war er wieder: Der Blick. Sein Herz zog sich zusammen und obwohl er die Nachricht noch nicht gehört hatte, konnte er die Tränen jetzt endgültig nicht mehr zurückhalten. Langsam liefen sie seine Wangen hinab, er machte sich nicht mehr die Mühe, sie fortzuwischen.
„Tim", sagte der Arzt sanft und legte ihm eine Hand auf den Arm, „Beruhigen Sie sich. Ihr Freund schläft und ist stabil, es besteht keine akute Lebensgefahr mehr."
Tim sah zu ihm auf, spürte, wie Hoffnung in seiner Brust aufkeimen wollte. Aber als der Arzt ihn weiterhin ernst ansah, musste er begreifen, dass das noch nicht alles war.
„Es gibt allerdings ein Problem. Wir können zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen, inwiefern das Gehirn von Herrn Zimmermann Schäden davongetragen hat.Das wird sich erst feststellen lassen, wenn er wieder aufwacht."
„Wovon sprechen Sie?", presste er hervor und fühlte sich wie erschlagen. Seine Stimme bebte.
„Sie wissen vermutlich, dass zu jedem epileptischen Anfall eine Amnesie dazugehört. Es kann sein, dass diese ausgeprägter ist als sonst, weiter zurückreicht. Es kann aber auch sein, dass sein Sprachenzentrum oder sein motorisches Zentrum verletzt wurden. Vielleicht ist aber auch gar nichts passiert. Gerade, weil Ihr Freund auch noch das Tourette-Syndrom hat, fällt es uns schwer, darüber schon Aussagen zu treffen."
Es dauerte kurz, bis er verarbeitet hatte, was er gerade gehört hatte. Sein Kopf schmerzte, drohte zu explodieren. Sollte er Marion anrufen und ihr das erzählen? Dass Jan vielleicht noch eingeschränkter sein würde, als er es sowieso schon war? Nicht mehr er selbst sein würde? Er spürte einen unfassbaren Hass auf die Welt, weil es einfach alles so ungerecht war und fuhr sich übers Gesicht, unterdrückte ein Schluchzen.
„Kann ich bitte zu ihm? Ich will bei ihm sein, wenn er aufwacht. Er braucht ein bekanntes Gesicht." Daran, dass Jan ihn vielleicht nicht erkennen würde, wagte er gar nicht erst zu denken.
Der Arzt nickte und stand auf, legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Sie haben heute unglaublich schnell und besonnen reagiert", sagte er eindringlich, „Herr Zimmermann kann wirklich froh sein, einen Freund wie Sie zu haben. Auch wenn die Tablette nicht wirklich geholfen hat, wäre er ohne ihr Zutun wahrscheinlich nicht mehr am Leben."
Tim fühlte sich dadurch kein Bisschen besser - im Gegenteil. Dass Jan hätte sterben können, traf ihn so schwer, dass er nichts erwidern konnte. Er folgte dem Arzt schweigend aus dem Zimmer und einen Gang hinab, die Frau saß immer noch da und lächelte ihm traurig zu. Während sie liefen fiel sein Blick aus dem Fenster und er sah nach draußen in den wunderschönen Frühlingstag, dachte an all das, was sie heute noch vorgehabt hatten. Jan hatte das Guinness Storehouse sehen wollen. Und jetzt waren sie hier. Das Schicksal hatte ihnen mal wieder einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Sie bogen um eine Ecke und betraten eine ausgestorbene Station. Das Licht des Tages schien nicht so wirklich in den Raum zu dringen, alles wirkte kalt und grau auf ihn und es roch beißend nach Desinfektionsmittel.
„Sie können zu ihm, und können auch bleiben. Ich weiß, dass die Situation für Sie schwer ist. Es wird jede Stunde eine Krankenschwester vorbeischauen und die Geräte werden überwacht, trotzdem melden Sie sich bitte umgehend, wenn er aufwacht oder irgendetwas anderes passiert."
„Natürlich", erwiderte er nur matt und bedankte sich, bevor der Arzt ging. Er starrte auf die Tür. ICU 03 stand daneben und darunter Jans Name. Er musste Marion anrufen, dringend, aber zuerst wollte er Jan sehen. Er wollte sehen, wie er schlief. Sehen, dass er atmete. Ohne Ihr Zutun wäre er vielleicht nicht mehr am Leben.
Er schluckte schwer, zwang sich, einmal tief durchzuatmen bevor er den Arm ausstreckte und nach der kalten, stählernen Türklinge griff. Er musste sie einfach nur nach unten drücken. Trotzdem dauerte es kurz, bis er sich dazu überwinden konnte. Dann fasste er sich ein Herz und stieß die Tür auf, trat in das abgedunkelte Zimmer und versuchte, sich nicht von seinen Gefühlen überwältigen zu lassen.
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So, da wären wir also wieder. ^^ Ich hoffe, es hat euch gefallen, auch wenn Jan noch nicht wieder vorkam. Ich hatte ein Bisschen Schwierigkeiten, weil ich zu viel zu erzählen hatte und zu wenig Platz in dem Kapitel, und habe mich dann wieder für einen etwas gemeinen Cut entschieden :D
Vielen Dank für 1500 Aufrufe und die ganzen Kommentare unter dem letzten Kapitel. Ich freue mich immer sehr, was von euch zu lesen. Lasst mir also gerne wieder euer Feedback da. ^^
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