{𝟏𝟔.𝑲𝒂𝒑𝒊𝒕𝒆𝒍} 𝑺𝒕. 𝑷𝒂𝒕𝒓𝒊𝒄𝒌'𝒔 𝑫𝒂𝒚

Am nächsten Tag war das Wetter noch schöner als am Tag zuvor. Es war kurz nach elf, als sie sich auf den Weg in die Innenstadt machten, und die Straßen quollen über vor Menschen. Es stimmte wohl, was man so über die irischen Traditionen sagte, alle schienen nur auf den St. Patrick's Day gewartet zu haben. Sie hatten sich nicht verkleidet, sie wollten sich einfach nur unter die Menge mischen, etwas trinken und Spaß haben. Jan schien seit gestern etwas losgelöster zu sein, sie waren abends noch feiern gewesen und anscheinend hatte es ihm wirklich geholfen, mal kurze Zeit von etwas schönem abgelenkt zu werden. Er musste lächeln, wenn er an den Moment zurückdachte, wie glücklich er ausgesehen hatte. Das war alles, was er wollte. Dass Jan glücklich war, für immer.

Überall war Musik in den Straßen zu hören. Sie waren auf dem Weg zum Fluss um rechtzeitig gegen Mittag beim Parnell Square zu sein und die Parade mitverfolgen zu können. Tim war etwas müde, weil sie dafür, dass sie erst gegen halb vier im Bett gewesen waren, ziemlich früh hatten aufstehen müssen und rieb sich immer wieder die Augen.
„Ich bin wirklich gespannt", sagte er dann, als sie sich von der Menge durch die vollen Straßen tragen ließen. Sie kamen vorbei an Tanzgruppen und Leuten, die mit grünen Hüten über die Geschichte Dublin's erzählten. Gerne hätte er die Zeit gehabt, stehen zu bleiben und zuzuhören, aber er tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie das auch immer noch heute Nachmittag machen konnten. Jan nickte.
„Ich auch. Ich will nachher unbedingt noch ins Guinness Storehouse. He. Arschloch. Anscheinend sind die Führungen heute billiger und außerdem schenken sie da kostenlos aus."
„Können wir machen", erwiderte er und Gisela begann lautstark „Saufen, morgens, mittags, abends, ich muss saufen" zu singen. Tim stimmte lachend mit ein und es war ihm egal, dass die Leute sich nach ihnen umdrehten und sie seltsam ansahen. Alles was er Jan gestern gesagt hatte, war hundertprozentig wahr. Er würde sich niemals für einen Tic oder irgendetwas sonst an seinem Freund schämen.

Stattdessen würde er von nun an jeden Moment mit ihm genießen. Tim hatte das Gefühl, dass sie sich vielleicht wirklich zu sehr in etwas reingesteigert hatten. Natürlich hatte der Anfall in Strandhill sie sensibilisiert, aber es hatte keinen Sinn, sich deshalb verrückt zu machen. Kleine Anfälle waren sowieso viel häufiger und meistens folgte darauf gar nichts.
Ohne ein Wort zu sagen blieb er stehen und zog Jan an sich. Die Menge teilte sich um sie, als er ihn küsste, aber es war ihm egal, dass sie im Weg standen. Es war endgültig Zeit zu genießen, dass sie zusammen waren.
„Wofür war das denn?, fragte Jan mit einem Lächeln und Tim zuckte nur mit den Schultern.
„Einfach so."

Er sah ihn verwirrt an. „Bist du dumm?", fragte Gisela ihn laut und Tim brach in Gelächter aus.
„Naja, nicht dümmer als du", sagte er und grinste breit, woraufhin Jan nur den Kopf schüttelte.
„Das würde ich jetzt aber so nicht unterschreiben."
„Hallo?", gespielt entgeistert sah er ihn an und Gisela wiederholte das Wort natürlich sofort. Sie mussten beide lachen und Tim griff wieder nach Jans Hand. Es würde ein großartiger Tag werden.

Am Fluss angekommen gingen sie eine Weile die Straße am Ufer entlang, bis sie bei der bekannten weißen Brücke ankamen. Es war viel Verkehr und an den Fenstern der Autos wehten kleine irische Flaggen. Tim war fasziniert, als Jan die Brücke nicht nur benennen konnte, sondern auch noch wusste, wann sie gebaut wurde.
„Sie wurde erst 2009 fertiggestellt", erklärte er und Tim sah ihn dabei an. Er musste lächeln, als er seinen konzentrierten Gesichtsausdruck sah, „Man hat sie nach dem irischen Schriftsteller Samuel Beckett benannt."
„Ist das die, die sich drehen kann?", fragte er mit einem Lächeln und Jan nickte. Als sie sie überquerten, holte Tim sein Handy heraus und machte ein paar Fotos. Sobald Gisela die Kamera bemerkte, zog sie Grimassen und versuchte sich ins Rampenlicht zu stellen. Tim schüttelte belustigt den Kopf.

Eine Weile später waren sie dann am Parnell Square angekommen, der zu ihrer Überraschung kein Platz, sondern eine Straße war. Überall wimmelte es von Menschen jeglichen Alters und es dauerte eine Weile, bis sie sich einen Weg durch die Menge zu einem Getränkestand gebahnt hatten. Tim bestellten ihnen ein Bier. Es war noch zu früh, um Whiskey zu trinken.
Sie liefen eine Zeitlang etwas verloren herum, unsicher, wo sie sich hinstellen sollten, um überhaupt irgendwas zu sehen, als sie plötzlich sahen, wie ein großer, blonder Junge winkte.

„Hey, you wanna join us?", rief er durch die Menge und lächelte ihnen zu, „You look lost."
Tim warf Jan kurz einen Blick zu und als der nur mit den Schultern zuckte, drängten sie sich nach vorne durch. Der Junge gehörte zu einer Gruppe von Leuten in ihrem Alter und alle begrüßten sie offenherzig. Das war das, was Tim am Reisen am meisten liebte. Man konnte so leicht neue Menschen kennenlernen.
„I'm Sam", stellte sich der Blonde vor und reichte ihm die Hand. „And these are Ashley, Emma, Michael and Freddy." Er zeigte nacheinander auf ein dunkelhaariges und ein rothaariges Mädchen, und auf zwei schwarzhaarige Jungs. Ashley wirkte schüchtern, aber alle anderen sahen sie an, als wäre es etwas völlig normales, fremde Leute auf der Straße zu seiner Gruppe zu holen. Sie alle trugen irgendeine Form von grünen Accessoires, und Emma hatte sich sogar Kleeblätter auf die Wangen gemalt.

„I'm Tim and this is Jan", erwiderte er und winkte in die Runde. Er sah zu seinem Freund, dessen Gesicht zuckte, bevor er sie ebenfalls begrüßte.
„So, where are you from?", fragte Freddy, der kleinere der beiden anderen Jungs und lachte, „Your accent is so strong."
„We're from Germany. And for us, your accent is strong." Jan lachte und leise Musik ertönte in der Ferne.
„That's how it is", Sam hob seinen Becher, er war eindeutig schon ein Bisschen angetrunken, „They're coming! Cheers, my friends! Sláinte!"

Sie stießen an und Jan sah zu ihm auf, griff nach seiner Hand. Tim beugte sich kurz zu ihm runter und küsste ihn, er hatte nicht das Gefühl, dass Sam und die anderen ein Toleranzproblem hatten, sonst hätten sie wohl kaum einfach fremde zu sich gerufen.
Die Parade begann und vorneweg lief ein kleiner Mann, der als Kobold verkleidet war und etwas über die Geschichte Dublins erzählte. Dann rief ein paar Mal laut „Happy St. Patrick's Day!" und die Menge antwortete, teilweise mit etwas unverständlichem, was wohl Irisch war. Tim trank sein Bier in großen Zügen und es dauerte nicht lange, bis der Alkohol ein Bisschen Wirkung zeigte. Sie hatten ja auch nur eine Kleinigkeit gefrühstückt.

Trotzdem ließ er sich von Michael Gin einschenken, der zwei Flaschen dabei hatte, während die Parade vor ihren Augen die Straße herunterlief. Es war unglaublich, was die Leute auf die Beine gestellt hatten, teilweise hatten sie riesige Wägen. Ein feuerspeiender Drache war dabei, ein Schiff mit Kanonen, aus denen es dampfte, und Unmengen lachender und grölender Tänzer. Es war wie Karneval nur in hundertmal größer und ohne Süßigkeiten. Stattdessen drückten die Leute einem Becher in die Hand oder schwenkten Fahnen.
Jan war während des Ganzen ungewöhnlich ruhig, aber er lächelte immer, wenn Tim sich zu ihm drehte. Die Parade war fast zu Ende, als er es nicht mehr ertrug. Unauffällig beugte er sich zu ihm herunter, er war inzwischen leicht angetrunken. „Ist alles okay?"
„Ja, alles gut. Ich fühl mich nur irgendwie ein Bisschen komisch."

Sofort fühlte er sich wieder alarmiert, zwang sich aber ruhig zu bleiben. „Was ist los?"
„Ich weiß auch nicht, mir ist irgendwie schlecht und – Fotze – ich hab das Gefühl, dass..."

Er verstummte plötzlich, und Tim spürte, wie der Druck auf seine Hand sich so verstärkte, dass Schmerz seinen Arm hochschoss. Wie in Zeitlupe sah er, dass Jans Gesicht sich verzerrte, und das nicht durch einen Tic. Seine Augen wurden ausdruckslos, er begann zu zittern, und kippte zur Seite. Reflexartig fing Tim ihn ab, nur dass er sich diesmal nicht an seine Brust klammerte. Nein – diesmal bekam er es gar nicht mit. Sofort war er wieder nüchtern, konzentriert. Ohne darüber nachdenken zu müssen ließ er Jans Körper zu Boden sinken und als er unkontrolliert zuckte, bekam er einen Schlag gegen die Schulter ab, den er jedoch kaum spürte.

„What the hell? What's wrong?", hörte er plötzlich einen der Leute, die sie gerade kennengelernt hatten, schreien, aber er hätte nicht mal sagen können, ob es ein Junge oder ein Mädchen gewesen war. Die Menge um sie geriet in Panik, alle sprachen auf ihn ein, aber Tim nahm es nicht wirklich wahr.
„Give me your scarf!", herrschte er Ashley an und suchte währenddessen nach seinem Geldbeutel. Zuerst griff er in die falsche Hosentasche, aber dann fand er ihn schließlich. Seine zitternden Finger rutschten ab, als er versuchte das Münzfach zu öffnen. Beim zweiten Mal schaffte er es aber dann und zog schnell die kleine Tube mit der Tablette heraus, öffnete sie.
Es waren alles gewohnte Handgriffe, schließlich war das nicht das erste Mal, dass er es machen musste. Aber trotzdem war ihm übel, sein Magen drehte sich um vor Angst. Als er ihm das Medikament in die Backentasche verabreicht hatte, bettete er Jans Kopf auf den Schal und zwang sich, nicht panisch zu werden, Ruhe zu bewahren. Es ist nur ein Anfall. Du hast schnell reagiert. Alles ist gut.

„Es ist alles gut. Alles wird gut", sagte er dann leise immer wieder zu Jan und versuchte sich an diese Worte zu klammern. Aber trotzdem hörte Jan nicht auf zu krampfen. Er hörte einfach nicht auf, obwohl er seine Tablette bekommen hatte.
„Call an ambulance", rief er Sam zu und der nickte. Entfernt nahm er wahr, dass ein Mädchen rief, dass sie es schon getan hatte.
Er blieb neben Jan in der Hocke, sprach weiter ruhig auf ihn ein und wartete, dass er aufhörte zu krampfen und der Krankenwagen kam. Schaum bildete sich vor seinem Mund und irgendwann war es dann soweit, die Muskeln entspannten sich wieder, der Anfall hörte auf und Tim legte ihm mit geübten Handgriffen in die stabile Seitenlage. Aber es hatte viel zu lange gedauert.

Nach einer weiteren gefühlten Ewigkeit hörte er endlich Sirenen. Es fühlte sich an wie eine riesige Erleichterung, aber sein Kopf hörte trotzdem nicht auf sich zu drehen. Jan hatte recht gehabt, er hatte es die ganze Zeit gespürt. Er hätte sich schlagen können dafür, dass er noch vor ein paar Stunden geglaubt hatte, dass seine Angst unbegründet gewesen war.
Aber er tat es nicht. Stattdessen erklärte er den Sanitätern so ruhig wie möglich, was passiert war, und alles, was es wichtiges zu Jans Epilepsie zu wissen gab. Stattdessen akzeptierte er, dass er nicht direkt mit ins Krankenhaus fahren durfte, obwohl es ihm das Herz zerriss. Stattdessen erklärte er wie in Trance Sam und den anderen, was es mit dem Anfall auf sich hatte, gab Ashley ihren Schal zurück und speicherte Handynummern ein, weil sie auf dem Laufenden gehalten werden wollten.

Als er sich dann seinen Weg aus der Menge bahnte, und auf Google Maps nachsah, wo das Krankenhaus war, wich das Adrenalin langsam aus seinen Adern und nur noch ein dumpfes, beunruhigtes Gefühl blieb zurück. Während er sein Handy herausholte, um Marion anzurufen, konnte er nur an den Blick des Sanitäters denken, als er ihm erzählt hatte, wie ungewöhnlich lange Jan nachdem er die Tablette bekommen hatte noch gekrampft hatte.

Er kannte diesen Blick, hatte ihn schon unzählige Male gesehen, wenn er in Rettungswägen mitgefahren war. Es war der Blick mit dem man Leute professionell ansah, wenn etwas wirklich schlimmes passierte.
Und das machte ihm Angst, es machte ihm so große Angst, dass ihm Tränen in die Augen stiegen.

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So, Leute, das wars. ^^ Heute mal wieder mit ein Bisschen Überlänge. Ich hoffe es hat euch gefallen und würde mich sehr darüber freuen, wenn ihr mir Feedback dalasst. Ich habe selbst mal einen epileptischen Anfall miterlebt und habe versucht mich daran und an dem Video der Jungs zu orientieren.

Trotzdem nöchte ich natürlich anmerken, dass ich keine Ahnung hab, ob Tim sich wirklich richtig verhält in meiner Geschichte. Falls ich also etwas falsch dargestellt habe, tut es mir leid. Und natürlich wünsche ich Jan unter keinen Umständen, dass ihm so was passiert.
Stattdessen wünsche ich euch noch einen schönen Tag und danke für jeden Kommentar, Vote und Aufruf. ^^

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