{𝟏𝟐.𝑲𝒂𝒑𝒊𝒕𝒆𝒍} 𝑮𝒖𝒊𝒍𝒕
Am nächsten Tag fuhren sie einmal quer durchs Land weiter nach Dublin. Jan fand den Gedanken irgendwie seltsam, dass sie innerhalb von knapp drei Stunden von der West- bis zur Ostküste fahren konnten, freute sich dadurch aber umso mehr. Sie würden vier Tage in der Hauptstadt bleiben, um so viel wie möglich von den Feierlichkeiten rund um den St. Patrick's Day mitzunehmen. Seit Monaten freuten sie sich schon darauf und jetzt konnte er es kaum mehr erwarten, anzukommen.
Tim summte vorne auf dem Fahrersitz, obwohl sie gar keine Musik anhatten, was Gisela immer wieder nachäffte und vor den Fenstern zogen wie immer Felder und kleine Dörfer vorbei. Inzwischen hatten sie die halbe Strecke geschafft und Jan bekam langsam hunger. Ein Blick auf sein Handy verriet ihm nicht nur, dass es kurz vor zwölf war, sondern auch dass er unzählige Nachrichten von Zuschauern auf Instagram, und ein paar von Freunden auf Whatsapp hatte.
„Du hättest das echt nicht in deine Story stellen sollen", sagte er leicht vorwurfsvoll nach vorne, „Ich glaub mein Handy explodiert bald vor lauter Nachrichten - Bombe."
Er hörte wie Tim vorne anfing zu lachen, und als Gisela dann auch noch „Alarm, Alarm" schrie, prustete er auch los, weil es einfach so passend war.
„Aber jetzt mal im Ernst", begann er dann nochmal, als sie sich wieder beruhigt hatten, „Wie willst du das jetzt eigentlich erklären mit dem blauen Auge?"
Der Größere warf ihm im Rückspiegel einen Blick zu und Jan spürte, wie ihm warm wurde. Wie gern hätte er vorne bei ihm gesessen.
„Ich hab gestern Abend noch ein Wenig darüber nachgedacht", erwiderte Tim und nahm eine Hand vom Lenkrad, um sich im Nacken zu kratzen, „Ich will eh jetzt dann eine Pause machen, also könnten wir uns was zu essen holen, uns irgendwo gemütlich hinsetzen und eine Erklärung drehen. Ehrlich gesagt fällt mir auch nichts besseres ein, als ungefähr bei der Wahrheit zu bleiben. Vielleicht irgendwas in die Richtung, dass es eine Schlägerei in einer Bar gab oder so."
„Ich weiß nicht", sein Herz wurde schwer, „Meinst du nicht, es wäre schlauer, einfach zu sagen, dass Gisela dich geschlagen oder geschubst hast? Dann würden nicht so viele Fragen kommen." Zwar fühlte er sich nicht wohl damit, die Zuschauer mit seiner Krankheit anzulügen, aber ansonsten würden sie in den nächsten Wochen vermutlich immer weiter auf eine genauere Erklärung drängen.
„Spinnst du? Jan, das können wir nicht machen. Und außerdem will ich nicht, dass die Zuschauer denken, du hast mir wehgetan, obwohl es nicht stimmt. Sagen wir einfach, ein Besoffener hat sein Ziel verfehlt und mich getroffen, da gibt es nichts zu hinterfragen und niemand macht sich Sorgen."
Er zögerte kurz und merkte dann, wie Erleichterung ihn erfasste. Tim hatte recht und so wirklich gewollt hatte er das nicht, was er vorgeschlagen hatte. Irgendwie hatte er einfach das Gefühl, Tim etwas dafür zurückgeben zu müssen, dass er immer so viel für ihn tat.
„Du hast recht", antwortete er, „Tut mir leid - Du hässlicher Arschloch-Fotzen-Ficker. Das war ein blöder Vorschlag."
„Ja war es", sagte er, klang aber nicht wirklich sauer, „Aber ist schon okay."
Trotzdem war die Stimmung seltsam, als sie irgendwann in einem kleinen Ort hielten und ihre Pause machten. Sie holten sich bei einer Raststätte etwas zu essen, und weil so wie überall unendliche Felder das Dorf umgaben, gingen sie ein Stück spazieren und suchten nach einer Bank. Diesmal griff Tim nicht nach seiner Hand, und Jan spürte den Abstand zwischen ihnen, traute sich aber auch nicht, es selbst zu tun.
„Bist du sauer?", fragte er dann vorsichtig, als ein Stück weiter weg eine Bank auf einem Hügel in Sicht kam. Inzwischen hatten sie ihre Semmeln gegessen und er war dankbar dafür, wieder was im Magen zu haben.
„Nein, warum sollte ich?"
„Wegen vorhin, weil ich vorgeschlagen habe, die Fans anzulügen."
Plötzlich blieb Tim stehen und griff sanft nach seinen Händen, zog ihn zu sich heran. Überrumpelt merkte er, wie sein Körper wieder zu Kribbeln begann, spürte Tims Hände und die Wärme, die sie abstrahlten deutlich auf seinem Rücken.
„Ich bin nicht sauer", sagte er nochmal und legte seinen Kopf auf Jans Schulter. Sein Herz begann erleichtert zu rasen und er musste darüber lächeln, dass diese einfachen Berührungen schon so eine Reaktion in ihm auslösten, „Ich war nur etwas geschockt, weil du die Schuld für Verletzungen auf dich nehmen wolltest, für die du nichts kannst."
Jan schloss die Augen und erinnerte sich an den Abend zurück, daran wie er ins Krankenhaus gefahren war und spürte wieder diese unfassbare, ungewohnte Wut auf sich selbst in sich aufsteigen. Seine Hände zitterten, als er sich von Tim löste und sich abwandte.
„Natürlich kann ich etwas dafür", erwiderte er leise und sah in die Ferne, konnte einfach nicht in diese blauen Augen sehen, solange er sich so schrecklich fühlte, „Wenn ich nicht mit Johnny mitgegangen wäre, hättest du nicht so viel getrunken."
Er hörte Tim seufzen. „Jan, du bist nicht mein Aufpasser. Wie kommst du darauf, dass du an dem Abend etwas hättest anders machen sollen?"
Ein schweres, dunkles Gewicht legte sich über ihn. Weil du immer auf mich aufpasst und ich es nicht mal in so einer einfachen Situation hinbekomme, dachte er, schwieg aber. Stattdessen nickte er und zwang sich, Tim wieder anzusehen.
„Du hast recht."
„Ist dann jetzt alles gut?", fragte er sanft und Jan nickte, verdrängte die dunklen Gedanken. Sie küssten sich und er redete sich ein, dass wirklich alles in Ordnung war. Aber trotzdem konnte er nichts dagegen tun, dass der Vorwurf in seinem Unterbewusstsein haften blieb.
Fünfzehn Minuten später hatten sie sich auf die hölzerne Bank gesetzt, die Kamera aufgestellt und ihre Mikrofone verkabelt. Jan fühlte sich wieder besser und das Thema war auch nicht wieder aufgekommen. Sie hatten beschlossen, zuerst die kleine Ergänzung zum Vlog zu drehen und danach Rewi anzurufen.
Als sie filmten erzählten sie noch etwas über die Zeit in Galway, bis sie dann zu dem Abend in der Bar und dem blauen Auge kamen. Dass Tim im Krankenhaus gewesen war, und sie zusammengekommen waren, sagten sie nicht.
„Ich hab den Typen nicht angezeigt, weil ich im Urlaub keine Lust auf den Stress hatte", schloss er seine Erzählung wahrheitsgemäß ab, „Und im Endeffekt war es auch nicht weiter schlimm, also macht euch keine Sorgen. Wir hoffen auf jeden Fall, euch hatte der kleine Vlog trotz des ernsten Endes gefallen und wir sehen uns in einem unserer nächsten Videos wieder."
„Ja, genau. Macht's gut", fügte Jan noch hinzu, sie winkten wie immer in die Kamera und Tim schaltete die Aufnahme aus.
„Das ging doch ganz gut, oder?" Er fuhr sich durch die Haare und Jan merkte, wie die Anspannung aus seinen blauen Augen verschwand, als er nach seiner Hand griff.
„Ja, ich denke nicht, dass irgendjemand He. Zweifel an der Geschichte haben wird."
Für einen Moment saßen sie einfach nur schweigend da, und Jan gab der Sehnsucht, sich bei Tim anzulehnen, die er schon die ganze Aufnahme über gespürt hatte, nach und legte seinen Kopf auf seine Schulter.
„Was glaubst du, wie Rewi reagieren wird?", fragte der Größere ihn unsicher, und legte einen Arm um ihn. Er zuckte unter ein paar motorischen Tics zusammen.
„Ich denke, er wird sich freuen. Willst du ihn nicht anrufen?"
„Doch", erwiderte er sofort, „Aber ein Bisschen nervös bin ich schon."
Jan konnte ihn nur zu gut verstehen. Schließlich war es für ihn nicht nur die Offenbarung ihrer Beziehung, sondern gleichzeitig auch noch ein Outing.
„Das wird - Pommes - schon alles. He. Arschloch." Er pfiff ein paarmal und zog dann schnell sein Handy heraus, „Denk am besten nicht weiter darüber nach. Du wirst sehen, es wird niemanden stören."
Er sah ihn noch einmal kurz an, wartete auf ein Zeichen der Zustimmung, denn wenn Tim noch nicht bereit war, wäre das auch kein Problem für ihn. Der Größere nickte aber und so wählte er Rewis Nummer. Es dauerte nicht lange und sie hörten die vertraute Stimme.
„Hallo, Jan. Was gibt's?"
„Hey. Du hässliches Arschloch", natürlich musste Gisela sich wieder sofort zu Wort melden. Das lag wohl daran, dass er inzwischen auch ein Bisschen nervös war, „Wir wollten dich auf den neusten Stand bringen."
„Schön, dass ich auch von Gisela so freundlich begrüßt werde", erwiderte er in seinem typisch trockenen Ton, „Ist Tim auch bei dir?"
„Ja, hi Sebastian." Jan warf ihm einen Blick zu, er hatte seine Hände zu Fäusten geballt. Sanft griff er mit der freien Hand nach seiner linken und verschränkte ihre Finger, drückte sie. Vielleicht konnte er ihm so zumindest ein Bisschen von seiner Nervosität nehmen.
„Dein Auge sieht übel aus, Alter. Mit wem hast du dich geprügelt?" Zwar war das eindeutig ein Witz aber Tim seufzte ernst und erzählte ihm die Geschichte. Bis darauf, dass Gisela ab und zu dazwischenrief, schwieg Jan und hielt einfach nur seine Hand.
„Oh man, also du solltest wirklich die Finger vom Alkohol lassen", tadelte Rewi aber Tim lachte nur.
„Das musst du gerade sagen. Aber du hast recht, ich mach langsam in nächster Zeit."
Kurz herrschte Stille, dann räusperte Rewi sich. „Ich finds ja cool, dass ihr anruft, aber das hättet ihr mir auch einfach schreiben können", sagte er verwirrt und er warf Tim noch einen Blick zu. Sie verstanden sich ohne Worte und Jan räusperte sich.
„Ja, also da ist noch was. Wir haben gefickt", er spürte wie er rot anlief, als es kurz einfach nur rauschte und Rewi dann laut lachte. Tim sah ihn peinlich berührt an, zuckte dann aber nur mit den Schultern und lachte ebenfalls. Jetzt mussten sie wohl das beste daraus machen, „Ja also, das auch. Auch wenn wir das eigentlich nicht erzählen wollten. Ich reite euch rein und ihr könnt's nicht verhindern. Eigentlich wollten wir dir nur sagen, dass wir jetzt zusammen sind."
„Moment, was?", brüllte Rewi am anderen Ende und es hörte sich an, als würde er aufspringen, „Ihr habt was? Was seid ihr?"
„Ja, wir sind zusammen. Und zum Rest enthalte ich mich mal", fügte Tim noch hinzu und ein lauter, ungläubiger Jubelschrei war zu hören.
„Lucas, komm mal", rief er dann und sie hörten Avives leise Stimme, als er anscheinend ins Zimmer kam.
„Was ist denn jetzt schon wieder?"
Sie erzählten auch ihm alles und er freute sich etwas ruhiger, während Rewi immer noch halb am ausrasten war. „Und dann droppt er einfach so, als wäre das nichts besonderes, dass sie Sex hatten", sagte er aufgebracht und Jan spürte, wie er wieder rot wurde, als er Lucas den Zusammenhang erklärte. Tim schüttelte nur den Kopf, legte einen Arm um ihn und küsste ihn auf die Wange. „Ist doch auch egal", flüsterte er ihm ins Ohr und erleichtert entspannte er sich ein Bisschen. Er hatte das Ganze nicht noch unangenehmer für Tim machen wollen.
Lucas und Rewi beglückwünschten sie beide nochmal und sie unterhielten sich noch eine Weile, bis sie dann irgendwann auflegten.
„Es tut mir leid. Ich wollte nicht, dass es dir unangenehm ist. Fick dich", entschuldigte er sich schnell und suchte Tims Blick. Als er sah, dass er lächelte, fiel ihm ein Stein vom Herzen.
„Ist schon gut. Es sind schließlich nur Rewi und Lucas", erwiderte er und zog ihn in eine Umarmung, „Und irgendwie hat das gerade echt gut getan."
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So, das wars mal wieder für heute. Ich hoffe es hat euch gefallen, vor allem die Szene am Schluss, aber ich dachte mir, ein Bisschen Auflockerung nach dem ernsten Gespräch kann nicht schaden.
Außerdem nochmal vielen, vielen Dank an fast 100 Stimmen und 700 Aufrufe. Ich kanns immer noch nicht fassen und freue mich über jeden Kommentar und jedes Feedback. ^^
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