5.

Verschwitzt schreckte ich aus meinem Schlaf hoch. Schwer atmend schaltete ich die kleine Lampe auf meinem Nachttisch an und sah mich um. Seit Tagen wachte ich immer zur selben Uhrzeit auf, meistens weil ich schlecht geträumt hatte, doch das komische an der ganzen Sache war, dass ich mich nie daran erinnern konnte, was genau ich geträumt hatte. Wie in den vergangenen drei Nächten auch ging ich erst einmal in die Küche, um mir etwas zu trinken zu holen. Mit meinem Glas Wasser setzte ich mich dann an den Küchentisch und sah aus dem Fenster. Auch wenn ich verdammt müde war, wusste ich, dass ich sowieso nicht mehr schlafen würde, also entschloss ich mich, spazieren zu gehen. Immer wenn ich nicht zur Ruhe kommen konnte, ging ich nach draußen. Schnell zog ich mir eine Jogginghose und einen Pulli an, schnappte mir mein Handy und meine Kopfhörer, schlüpfte in meine Schuhe und machte mich auf den Weg. Ein bestimmtes Ziel hatte ich nicht, aber nach einer Weile merkte ich, dass ich wie gesteuert zu der Bank auf dem Hügel ging. Es war vier Uhr morgens, also begegnete ich keiner Menschenseele solange ich durch unser Dorf lief. Eine Stunde später saß ich bereits auf der Bank und dachte nach. Überwiegend schwirrte mir der Kuss immer wieder im Kopf herum. Ich fragte mich, warum ich ihn erwidert hatte und vor allem, warum Nico mich überhaupt geküsst hatte. 

Gegen Mittag rüttelte mich meine Mutter aus meinem Schlaf. Nachdem ich zurückgekommen war, hatte ich mich noch einmal hingelegt. "Lara, wach auf! Clarissa ist da.", informierte meine Mutter mich. Verschlafen setzte ich mich auf und sah an ihr vorbei zu meiner Zimmertür. "Ich bring euch das Essen gleich hoch.", sagte meine Mutter, bevor sie an Clarissa vorbei auf den Gang verschwand. "Guten Morgen, Dornröschen.", scherzte Clara, dann setzte sie sich neben mich auf's Bett. "Morgen.", murmelte ich, gähnte und streckte mich. "Du siehst aus, als würdest du momentan nicht viel schlafen.", bemerkte sie besorgt. "Tu ich auch nicht. Seit Nico das letzte Mal hier war, wach ich jede Nacht schweißgebadet auf.", gab ich ihr ehrlich als Antwort. "Hat er denn irgendwas gesagt oder getan, dass dich so durcheinander gebracht hat?", fragte sie daraufhin neugierig. Ich hatte bisher mit niemandem über den Kuss gesprochen, nicht einmal mit Nico, mit dem ich definitiv hätte sprechen müssen. "Er hat mich geküsst, aber das ist nichtmal das schlimmste daran... Ich hab erwidert.", erzählte ich ihr bedrückt. "Ernsthaft?", entgegnete sie entsetzt. Mit einem Nicken antwortete ich, bevor ich mir durch die Haare fuhr und seufzte. "Hast du was gefühlt?", wollte sie dann wissen. Ehrlich gesagt hatte ich darüber noch nicht einmal nachgedacht, aber als ich es dann tat, konnte ich ihr keine klare Antwort geben, weil ich es nicht wusste. "Das kann ich dir nicht sagen.", gab ich zu. Clarissa sah mich besorgt an, dann nahm sie mich in den Arm und drückte mich an sich. "Wirst du's Markus sagen?", wollte sie leise wissen. "Da werd ich wohl nicht drum rumkommen, aber lieber mach ich das persönlich, wenn ich wieder in Berlin bin.", antwortete ich bedrückt. Neben dem Kuss selbst plagte mich mein schlechtes Gewissen. Es drückte mir auf den Magen, weswegen ich mich überhaupt nicht freute, als meine Mutter kurz darauf mit zwei Tellern voll mit Essen in mein Zimmer kam. Lächelnd reichte sie uns die Teller und verschwand dann wieder aus der Tür. Während Clarissa jede Gabel des Auflaufs genoss, bekam ich kaum einen Bissen hinunter. "Also, du musst auf jeden Fall mit meinem Bruder reden.", lenkte sie das Thema wieder auf den Kuss. "Das weiß ich auch, aber was bitte soll ich sagen?", entgegnete ich frustriert. "Du kennst Nico und weißt auch, dass er sich bei dir entschuldigen wird.", antwortete sie, nachdem sie hinunter geschluckt hatte. Ich nickte und wollte gerade etwas sagen, als es an der Tür klingelte, kurz darauf hörten wir ein Klopfen an meiner Zimmertür. "Wenn man vom Teufel spricht.", murmelte Clarissa, während sie an mir vorbei sah. Ich tat es ihr gleich und erblickte ihren Bruder, der mit den Händen in den Hosentaschen an meinen Türrahmen gelehnt stand. "Können wir kurz reden?", fragte er vorsichtig, ließ seine Schwester dabei aber nicht aus den Augen und signalisierte ihr so, dass sie lieber gehen sollte. Sie nahm ihren Teller in die Hand, stand von meinem Bett auf und verließ das Zimmer. Nico kam langsam auf mich zu und zog meinen Schreibtischstuhl zu sich, sodass er sich gegenüber von mir hinsetzen konnte. "Wegen vor drei Tagen, also, ich wollte mich nur eben entschuldigen. Ich hätte dich nicht küssen sollen, das war nicht richtig.", ergriff er das Wort. "Und ich hätte nicht erwidern dürfen, das war ebenfalls nicht in Ordnung.", antwortete ich leise. Er nickte zustimmend, dann biss er sich auf die Lippe und stand wieder auf. Eine Frage schwebte in meinem Kopf herum und ich würde wahrscheinlich keine Ruhe finden, bis ich eine Antwort darauf hatte. "Nico, kann ich dich was fragen?", schoss es aus mir heraus, während er sich Richtung Tür bewegte. Er hielt inne, drehte sich zu mir um und nickte. "Warum hast du mich geküsst?", wollte ich wissen. Bevor er antwortete, schien es so, als musste er ganz genau überlegen, was er sagen würde. "Ich weiß nicht, vielleicht bin ich momentan einfach einsam.", sagte er zögerlich. Ich kaufte ihm das nicht wirklich ab, er war noch nie der Typ dafür gewesen, jemanden einfach so zu küssen, weil er einsam war, trotzdem vertiefte ich das Thema nicht weiter. Vorerst reichte diese Antwort, um mich zu beruhigen. Ehe ich mich versah, war er auch schon wieder verschwunden. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich nicht einmal mitbekam, wie Clarissa wieder das Zimmer betrat. "Und? Wie lief's?", ließ mich ihre Stimme zusammen zucken. "Äh, er hat sich entschuldigt und ich mich auch.", antwortete ich langsam. Clarissa musterte mich skeptisch, denn sie kannte mich besser als jeder andere Mensch auf diesem Planeten. Sie wusste ganz genau, was mir durch den Kopf ging. "Sei ehrlich, du wolltest gar nicht, dass er sich entschuldigt oder?", hakte sie nach. "Nein, das gibt mir noch mehr das Gefühl, ihm eigentlich gar nichts mehr zu bedeuten.", gab ich zu und sah auf den Boden. "Das stimmt nicht, Lara. Du warst und bist die einzige Person auf diesem Planten, die ihm, abgesehen von der Familie, immer etwas bedeuten wird, egal, was zwischen euch war oder ist.", widersprach sie mir. Ihre Worte taten mir gut, sie bauten mich auf, aber es änderte nichts daran, dass ich nicht mehr wusste, was ich fühlte. "Und wie beseitigen wir jetzt mein Gefühlschaos?", fragte ich sie unsicher. "Warten wir erst einmal ab, vielleicht ergibt sich das von selbst und wenn nicht, bin ich für dich da und werd dir helfen.", antwortete sie optimistisch. Ein kleines Lächeln huschte über meine Lippen, bevor ich mich seitlich auf mein Kissen fallen ließ. 

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