2.

Nico           

Ich saß zusammen mit meiner Mutter im Wohnzimmer und legte erst einmal meine Beine auf den Sessel vor mir. Nur etwa eine Stunde zuvor war ich auf Mallorca angekommen und nun wollte ich einfach nur die Zeit mit meiner Familie genießen. Meine Schwester saß ebenfalls im Wohnzimmer und las ein Buch, während ich auf mein Handy sah. "Was machen wir eigentlich an Heilig Abend?", fragte ich, als ich es wieder in meine Tasche steckte. "Wir feiern mit den Nachbarn.", antwortete Clarissa, ohne von ihrem Buch aufzusehen. "Welchen?", fragte ich neugierig. "Den Schuberts.", gab mir nun meine Mutter als Antwort. Es war nichts besonderes, das hatten wir schon öfter getan, also nickte ich nur. Gerade, als sie noch etwas sagen wollte, klingelte es an der Tür. Mein Vater, der gerade aus der Küche kam, öffnete sie. Ich konnte nicht hören, was gesagt wurde, aber die Stimme, die ich hörte, versetzte mich wieder ins Teenageralter. "Ist für dich, Clarissa.", rief mein Vater von der Tür. Mit einem Lächeln im Gesicht schloss meine Schwester ihr Buch, stand von der Couch auf und ging Richtung Eingangsbereich. Ich musste sehen, wer das war und ob ich mich nicht verhört hatte. Manchmal bildete ich mir ein, Larissas Stimme zu hören. Leider hörte ich nur noch die Tür ins Schloss fallen, wahrscheinlich hatte ich mich wirklich verhört, immerhin war Larissa schon jahrelang nicht mehr nach Mallorca gekommen. 

Beim Abendessen saßen meine Eltern und ich im Esszimmer. Clarissa hatte sich bereits telefonisch abgemeldet, weil sie mit ihrer Freundin etwas bestellt hatte. Mich ließ der Gedanke nicht los, dass die Stimme, die ich am Nachmittag gehört hatte, vielleicht doch Lara gehört haben konnte. "Wer wird an Weihnachten denn alles da sein?", fragte ich deswegen. "Nur wir und die Schuberts.", antwortete mein Vater, bevor er seine Gabel in den Mund nahm. "Alle Schuberts?", wollte ich wissen. "Ja, alle, also Lara auch.", gab mir meine Mutter als Antwort. Ich hatte mich nicht verhört und innerlich freute ich mich wie ein kleines Kind. Acht Jahre war es her, dass ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Zwar hatte ich versucht, mit ihr in Kontakt zu bleiben, aber sie hatte irgendwann eine neue Nummer bekommen und war auch nicht mehr auf die Insel gekommen. Als ich dann nach Berlin gezogen war, hatte ich gehofft, ich würde ihr vielleicht mal über den Weg laufen, doch auch das war nie passiert und die Adresse ihrer Eltern hatte ich nicht. "Wirklich?", fragte ich dennoch überrascht nach, weil ich es trotzdem irgendwie nicht glauben konnte. "Ja, sie ist auch schon seit einer Woche hier.", murmelte meine Mutter vor sich hin. Ein kleines Lächeln formte sich auf meinen Lippen, bevor ich weiter aß. Weil niemand mehr etwas sagte, versank ich in Gedanken. Ich erinnerte mich daran, wie wir zusammen mit meiner Schwester wandern gegangen waren, uns verirrt hatten und so einen Ort gefunden hatten, an dem wir immer waren, wenn wir einfach keine Lust auf den Strand oder die Stadt gehabt hatten. Dann schweiften meine Gedanken zu dem Tag ab, an dem ich die wahrscheinlich dümmste Entscheidung meines Lebens getroffen hatte. Ich hatte mich damals dazu entschieden, ihr zu sagen, ich hätte jemanden kennen gelernt, obwohl ich eigentlich nur unentschlossen gewesen war. Mit 19 hatte ich mir eingebildet, ich müsste unbedingt single sein, um ernsthaft Musik machen zu können. Je länger ich darüber nachdachte, desto schlechter fühlte ich mich. Ich werde nie vergessen, wie verletzt sie mich angesehen hatte. Währenddessen aß ich weiterhin meine Lasagne, sie schmeckte mir aber nicht mehr, also legte ich die Gabel ab. "Bist du schon satt?", fragte meine Mutter verwundert. Ich nickte nur, tat den Rest meines Essens zurück in die Auflaufform und stand dann auf. Bevor ich das Esszimmer verließ, räumte ich mein dreckiges Geschirr in die Spülmaschine. 

Es war bereits dunkel, als ich mich auf den Weg zu meinem besonderen Ort machte. Mit Musik im Ohr fühlte es sich nicht so an, als würde ich eine Stunde laufen. Ich musste meinen Kopf frei bekommen, weil ich mit Sicherheit keinen Schlaf finden würde. Völlig in Gedanken versunken lief ich wie gesteuert auf die kleine Bank auf dem Hügel zu und bemerkte dabei nicht, dass dort bereits jemand saß. Ich erschrak ein wenig, als ich eine Frau erkennen konnte, die still über die Küste sah. Es war als wäre ich versteinert, denn außer meiner Schwester, Lara und mir wusste kaum jemand von diesem Ort und Clarissa konnte es nicht sein, sie war bereits schlafen gegangen. Die Frau auf der Bank hatte mich noch nicht bemerkt, also überlegte ich, ob ich einfach wieder gehen sollte. Gerade, als ich mich umdrehen wollte, stand die Person auf und bemerkte mich. Wie angewurzelt verharrte sie in ihrer Position und starrte mich an. Mir ging es genauso und egal, wie sehr ich versuchte, mich wieder zu bewegen, es ging einfach nicht. Ich musste etwas sagen, doch auch das funktionierte nicht, weil ich wie verrückt nach Wörtern suchte, sie allerdings nicht fand, als hätte man meinen kompletten Wortschatz gelöscht. Währenddessen sah ich sie mir genau an. Auch wenn es dunkel war und nur das Licht einer Laterne ihr Gesicht anschien, konnte ich erkennen, dass sie immer noch genauso aussah, wie acht Jahre zuvor, nur ihre Haarfarbe war nun natürlich und nicht mehr gefärbt. Einige Sekunden lang bewegte sich niemand von uns beiden, bis Lara sich anscheinend wieder gefangen hatte, ihren Blick abwandte und hastig an mir vorbeiging, dabei sah sie auf den Boden. So sehr ich sie aufhalten wollte, ich war wie gelähmt und konnte mich einfach nicht bewegen. Nach einigen Minuten löste sich meine Starre endlich und trotzdem ging ich ihr nicht nach, sie hätte das wahrscheinlich sowieso nicht gewollt, also setzte ich mich auf die Bank und vergrub meinen Kopf in meinen Händen. Ich war bestimmt noch zwei Stunden dort, in denen ich nachdachte und Musik hörte. Als ich nach Hause kam, war es bereits Mitternacht und trotzdem war ich nicht müde. Ich fragte mich, wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn ich nicht mit ihr Schluss gemacht hätte, ob wir vielleicht geheiratet hätten und auch ob sie sich das auch manchmal fragte. Seufzend legte ich mich auf mein Bett mit dem Kopf in das Kissen gedrückt. Lara war immer die einzige Person gewesen, die ich in so einer Situation hätte sprechen können, aber seit sich nicht mehr Teil meines Lebens war, fraß ich es fast immer in mich hinein und sprach erst dann darüber, wenn ich es nicht mehr zurückhalten konnte. Ich fühlte mich verdammt allein in diesem Moment, weil ich nie irgendjemandem die Wahrheit über die Trennung gesagt hatte und somit dachten alle, ich hätte sie schon längst vergessen, wenn ich in Wirklichkeit nie jemand anderes geliebt hatte.     

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