T R E C E
BOSTONS POV:
„Kann man nicht irgendwie ihr Handy orten?", fragte Carlo bemüht und dachte angestrengt nach.
Seine Gehirnräder ratterten und man sah ihm deutlich an, dass er sich ernsthaft Mühe gab, mit uns zusammen Paris zu finden.
„Die Polizei ist dran ...", sagte ich und trommelte nervös mit den Fingern auf dem Restauranttisch herum.
Dabei sah ich mich in dem Lokal um, in dem Carlo, Olivia und ich uns befanden.
Wenn die Beamten Paris' Handy geortet hatten, würden sie dazustoßen.
„Paris' Mama ist auf jeden Fall am ausflippen."
Grimmig spielte Olivia mit ihrer Gabel.
„Verständlich ... Das ist jetzt schon das dritte Mal, dass Paris spurlos verschwunden ist", wandte ich ein.
„Naja, alle guten Dinge sind ja drei."
Gleichzeitig schwenkten Olivia und ich unsere Köpfe zu Carlo.
„Was ...?", versuchte dieser sich rauszureden, nachdem er an unseren Blicken bemerkt hatte, wie daneben er sich mal wieder benahm.
„Das ist dann immerhin das letzte Mal, dass jemand Paris entführt."
„Und wie es das ist!" Entschlossen setzte ich mich aufrechter hin.
„Wenn ich sie wieder habe, lasse ich sie nämlich nie wieder von meiner Seite weichen! Ich lasse nicht zu, dass sie mir nochmal jemand wegnimmt!"
Meine Hände ballten sich unter dem Tisch zu Fäusten.
Paris war das Strahlen der Sonne für mich.
Meine Luft zum Atmen.
Die Farbe des Lebens und der einzige Grund, jeden Tag wieder aufs Neue mühselig aus dem Bett aufzustehen.
Es machte mich fertig, nicht zu wissen, wo sie gerade steckte und was mit ihr passierte.
„Zum Essen?"
Erschrocken zuckte ich zusammen, als auf einmal eine Kellnerin neben mir stand.
Erwartungsvoll zückte diese ihren Notizblock.
„Ähm ... eigentlich warten wir noch auf jemanden", sagte ich höflich, wurde jedoch äußerst unhöflich von Olivia unterbrochen: „Das ist egal!"
Hungrig setzte sie sich aufrechter hin. „Wer zu spät kommt ist selbst schuld!"
Überzeugend lächelte sie.
„Vier Burger, bitte."
Dusch.
Carlo wäre fast vom Stuhl gefallen.
„Ich will aber keinen Burger!", jammerte er. „Ich will ein Steak!"
„Die vier Burger sind ja auch für mich und nicht für dich, du Vollpfosten!", schimpfte Olivia.
An die Kellnerin gewandt, fügte sie hinzu: „Es bleibt bei vier Burgern."
Die Kellnerin runzelte zwar die Stirn, schrieb jedoch weiterhin mit.
„Zwei für mich, zwei für das Baby", sagte Olivia zufrieden und lehnte sich wohlig faul in ihrem Stuhl zurück.
Dabei strich sie liebevoll über ihren Bauch.
„Oh, Sie kriegen ein Baby?"
Aufgeregt funkelten die Augen der Kellnerin.
„Herzlichen Glückwunsch!"
„Danke!" Erfreut lächelte Olivia.
„In welcher Schwangerschaftswoche sind Sie denn? Man sieht noch gar nicht ..."
„Oh, dass wird man aber, wenn sie weiterhin so viel frisst!", fuhr Carlo ironisch dazwischen.
Erschrocken weiteten sich meine Augen.
Auch Olivia hatte Carlos Aussage gehört und drehte sich nun bedrohlich langsam zu ihm um.
Die Spannung in der Luft war greifbar.
Olivia funkelte Carlo gefährlich an.
Würde sie ihn für seine Aussage mit der Gabel oder dem Messer umbringen?
Oder doch nur mit den Augen?
Nervös sah ich zwischen den beiden hin und her.
Nichts dergleichen geschah.
Genervt streckte Olivia Carlo nur die Zunge raus und verpasste Carlo einen kräftigen Schubs in die Seite.
„Für jedes graue Haar, dass ich wegen dir ab heute bekomme, gibst du mir einen aus!"
„Oh, du mutierst vom Fresssack also jetzt zur Säuferin?"
Neckend hob Carlo seine Augenbraue.
Olivia verschränkte schmollend die Arme.
„Anscheinend weißt du ja, wie viele graue Haare du mir bereitest!"
„Er ist der Vater", erklärte ich der Kellnerin, die immer noch am Tisch stand und sich nicht traute, einfach abzuhauen.
„Und ein unsensibler Holzkopf", fügte Olivia kopfschüttelnd, und lächelnd zugleich, hinzu.
„Wenn das Kind mehr nach ihm kommt, als nach mir, dann gebe ich mir die Kugel."
„Das wird nicht passieren!"
Liebevoll nahm Carlo seine Freundin in den Arm.
„Mich gibt's nur einmal auf dieser Welt, dass weißt du!"
Die Kellnerin, die den emotionalen Moment nicht stören wollte, trat unruhig von einem Bein aufs andere.
„Zwei Burger, ein Steak und einmal ein Schnitzel, bitte" wandte ich mich an die unruhige Frau und befreite sie aus ihrer Misere.
Dankbar nickte sie mir zu und verschwand.
„Die überlegt sich das mit dem Kind nochmal", scherzte ich.
Gleichzeitig fingen wir an zu grinsen.
Das Lachen verging uns jedoch schlagartig, als eine Gruppe von Polizisten das Lokal betrat.
Suchend sahen sie sich in dem Raum um.
Als sie uns entdeckten, kamen sie sofort auf uns zu.
Sofort erhob ich mich von meinem Stuhl.
Hoffnungsvoll sah ich die Beamten an.
„Wir haben ihr Handy geortet", sagte einer.
Sofort flammte ein Funke des neuen Selbstvertrauens in mir auf.
Jedoch hatte ich aus den Geschehnissen gelernt und wusste, dass nicht jeder automatisch ein Polizist war, nur weil er aussah, wie einer.
„Haben Sie Ihre Marke dabei?"
Der Polizist nickte und zeigte mir seinen Dienstausweis.
Nun war ich mir sicher.
Es war die Polizei. Die richtige Polizei!
Und sie hatten Paris gefunden!
„Wir haben sie ...", keuchte ich fassungslos und drehte mich zu meinen Freunden um.
„Wir haben sie!"
Jubelnd umarmten wir uns. Ich war den Tränen nahe.
Es bestand Hoffnung. Die Polizei würde Paris finden und befreien!
„Zwei Burger, ein Steak und ein Schnitzel?"
Eine Kellnerin – nicht die Gleiche, wie zuvor – stand auf einmal neben unserem Tisch.
In ihren Händen hielt sie vier Teller.
„Oh, ihr habt für uns schon mitbestellt?", fragte einer der Polizisten erfreut und nahm sich einen der zwei Baby-Burger.
„Das ist aber nett!"
Scharf sog Carlo die Luft ein.
„Nicht?" Traurig sah der Polizist zu Carlo.
„Mmh ...", bestätigte Carlo und deutete stumm auf seine Freundin.
„Aber wer fehlt denn dann noch?"
Die Gehirnräder des Polizisten ratterten, als er noch eine vierte Person am Tisch suchte.
„Niemand", sagte Carlo, während er die Teller mit den Burgern zu Olivia rüberschob.
„Das, ist für das Baby."
Baff, fielen den Polizisten die Kinnladen nach unten, als sie Olivia dabei zusahen, wie sie alleine zwei Burger innerhalb von Sekunden verschlang.
„Welches Baby?", wagte einer zu fragen.
-
Paris' P.O.V.:
„Nein", sagte ich.
„Doch", sagte Milan.
Wütend verschränkte ich die Arme und starrte auf das große dunkle Hochhaus vor mir.
Das Haus, indem ich über ein Jahr gefangen gehalten worden war.
Das Haus, das die Zentrale Kindermessers war.
„Du weißt, was das für ein Haus ist?"
Ohne es zu wollen, zitterte meine Stimme.
„Ja", sagte Milan nüchtern.
Fassungslos drehte ich mich zu ihm um.
„Und trotzdem lässt du mich hier her fliegen?! Wie ist es überhaupt möglich, dass die immer noch da drinnen sind?! Ich dachte, die Polizei hätte alle da drinnen festgenommen!"
„Ja", sagte Milan, genauso nüchtern wie zuvor.
„Alle, die sich zum Zeitpunkt der Verhaftung da drinnen aufhielten, wurden verhaftet. Doch das heißt nicht, dass sie dadurch die ganze Organisation ins Gefängnis gebracht haben."
Verwirrt runzelte ich die Stirn.
„Wie gesagt: Kindermesser weiß alles. Das bedeutet, dass sie fast ihr ganzes Personal rausgeschickt haben, bevor die Polizei vor Ort eintreffen konnte."
Missmutig kickte ich einen Kieselstein vom Asphalt weg.
„Aber was machen wir dann hier? Das Haus wurde nach der Räumung verkauft!"
„Und rate mal, wer der Käufer war?"
Spöttisch lächelte Milan.
„Nein ...", hauchte ich.
„Doch", sagte Milan.
„Das ist dumm", kommentierte ich nach einer kurzen Denkpause.
„Das ist schlau", widersprach Milan.
„Sieh dich an! Du bist auch nicht davon ausgegangen, dass Kindermesser immer noch da drinnen sein könnte!"
Milan hatte recht.
Wiedermal.
Und das gefiel mir gar nicht.
Schmollend drehte ich mich von ihm weg.
„Ich gehe da trotzdem nicht rein."
Leicht zitterte ich, als ich mich doch wieder zu Milan zurückdrehte und ihm ernst in die Augen sah.
„Die kennen mich dort! Ich habe dort für über ein Jahr gelebt. Wenn sie mich sehen, dann ..."
„Werden sie sich nichts denken", vollendete der unsympathische Polizist meinen Satz.
„Dein Gesicht ist im System eingetragen. Du gehst rein, die Elektronik identifiziert dich als berechtigt und du kannst dir in aller Seelenruhe den Supercomputer schnappen, der dir und deiner Familie seit über einem halben Jahr das Leben zur Hölle macht."
Überzeugend lächelte Milan. Bei ihm klang das alles so einfach.
Als ich ihn jedoch nur skeptisch ansah, fuhr er genervt fort:
„Wenn ich die Möglichkeit hätte, da rein zu gehen, würde ich es sofort tun und hätte dich nie gebeten, uns zu helfen. Du gehst mir nämlich genau so auf den Sack, wie ich dir!"
Tief holte er Luft.
„Nur ist es nun mal so, dass ich nicht berechtigt bin da rein zu gehen. Da System wird mich noch vor der Tür als Eindringling erkennen und die Räume so verschieben, dass ich nur an einer Rezeption mit zehn unheimlichen Türstehern stehen werde."
„Räume verschieben?"
Belustigt sah ich den erwachsenen Mann vor mir an.
„Wir sind hier nicht bei Harry Potter."
„Genau!" Eingeschnappt blitzten die Augen von Milan auf.
„Wir sind hier in der realen Realität! In der Realität, wo es Technik und Elektronik gibt – und stell dir vor, sogar Gründe, warum Kindermesser einer der ältesten und erfolgreichsten Kriminalgruppierungen weltweit ist!"
Nun war es an ihm, die Arme zu verschränken.
„Hab ein bisschen Respekt vor denen!"
„Respekt?!" Humorlos lachte ich auf. „Respekt wovor?"
„Respekt zu ihrer Fähigkeit, auf der ganzen Welt soviel Einfluss zu haben und trotzdem für die Staaten nicht da zu sein. Außer dir und mir, weiß nämlich niemand von Kindermesser."
Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit.
Hatte Kindermesser wirklich soviel Macht?
In der Zeit, in der ich bei ihnen gewesen war, war ich nicht wirklich in ihre Angelegenheiten involviert gewesen.
Alles was ich wusste, war, dass es hauptsächlich abgedriftete Menschen waren, die sich von unten raufarbeiten mussten.
Sie fingen mit Kleinigkeiten – wie bedeutungslosen Diebstählen – an und hörten mit den illegalsten und unmoralischsten Dingen auf – wie zum Beispiel Mord und blutiger Erpressung.
„Was meinst du mit nur mir und dir? Steckt hinter dir nicht eine ganze Spezialgruppe an Polizisten?"
„Ja." Unruhig stieg Milan von einem Fuß auf den anderen.
„Du hast ja einen Teil meiner Mitarbeiter bei der Rettung deines Jobs im Café gesehen."
Die wohl unnötigste Aktion aller Zeiten, fügte ich heimlich in Gedanken hinzu.
„Nur wissen nicht alle, alles. Und das ist auch gut so", erklärte Milan.
In Gedanken woanders, blickte er zu dem strahlenden Hochhaus, das inmitten der Stadt in den Himmel ragte.
„Je weniger Leute etwas wissen, desto weniger werden von dem Supercomputer als Gefahr eingestuft und aussortiert."
Milan blinzelte.
„Worauf wartest du eigentlich noch? Du wolltest doch zum Abendessen wieder Zuhause sein!"
Von seiner Stimme angetrieben, schreckte ich auf und marschierte los.
Erst nach ein paar Schritten, realisierte ich, was er da gerade gesagt hatte.
„Was ist, wenn etwas passiert?", fragte ich, nachdem ich mich umgedreht hatte.
„Dann ..." Wenig begeistert rieb Milan sich die Hände.
„Dann werde ich Boston anrufen und er wird dich da rausholen."
Kopfschüttelnd lächelte ich.
Der Gedanke an Boston beruhigte mich irgendwie.
Es erinnerte mich dran, dass ich das hier für einen bestimmten Zweck tat.
Ich tat es nicht für mich, sondern für meine Familie.
Für Boston.
Damit ich endlich das Leben mit ihm leben konnte, von dem ich schon so lange träumte.
„Er wird dich noch während des Anrufs umbringen, wenn du das tust."
Ernst sah ich Milan in die Augen.
„Ernsthaft. Boston wird dich durch die Leitung hindurch erwürgen."
„Ja, es gibt solche Menschen."
In Milans Gesicht bildete sich ein Grinsen.
„Dann werde ich vielleicht doch in Erwägung ziehen, dich da selbst rauszuholen."
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