N U E V E
„Carlo ist so eine Klatschtante", brummte Boston immer noch vor sich hin, während er griesgrämig in seinem Salat rumstocherte.
„Mmh ..."
Mitleidig umarmte ich ihn von hinten und drückte ihm dann einen leichten Kuss auf die Wange.
„Ich finde die Idee supersüß. Und jetzt kann ich mich wenigstens drauf freuen ..."
Boston stocherte weiter kommentarlos in seinem Salat rum.
Ich hingegen steckte mein Handy an der Kochinsel an mein Ladekabel an und versuchte, dass schwerste hinter mich zu bringen: Den Abschied.
„Ich habe jetzt noch ein Zoom-Meeting mit meinem Nachhilfelehrer in Geographie. Findest du selbst hinaus?"
Klirr.
Klappernd traf Bostons Gabel auf die Marmorplatte der Kochinsel auf.
„Willst du mich etwa loswerden?"
Lachend über sein trauriges Gesicht, schüttelte ich den Kopf. „Nein! Natürlich nicht! Aber ..."
„Ich warte hier!"
Demonstrativ hüpfte Boston auf die Sofaecke zu und ließ sich trotzig und mit einem dumpfen Knall auf die teure Couch plumpsen.
„Boston ..."
„Du wirst nichts von mir mitbekommen! Geh ruhig rauf und lern deine doofen Hauptstädte Europas auswendig. Ich warte hier."
Überzeugend lächelte er. Seine Zähne blitzen makellos.
„Schatz ..." Schwermütig sah ich ihn an.
„Du musst jetzt wieder mal nach Hause! Sonst denken deine Eltern noch, ich hätte dich umgebracht."
„Umgebracht?" In nullkommanichts stand Boston plötzlich vor mir.
Sein warmer Atem strich über meine Haare, seine Finger glitten sachte über meinen Nacken.
„Es bringt mich um, wenn ich mich nicht in deiner Gesellschaft befinde, nicht wenn ich auf dich warte ."
„Boston?"
Auf einmal stand mein Bruder neben uns und schob Boston langsam Richtung Tür.
„Es tut mir furchtbar leid, aber du musst jetzt gehen."
„Was ...?" Verwirrt starrte Boston erst Levin und dann mich, mit offenen Mund an.
Zerknirscht biss ich mir auf die Lippe und sah entschuldigend zurück.
„Du wusstest es!"
Verblüfft zeigte Boston auf mich.
„Du wusstest, dass du mich nicht gehen lassen kannst und hast deswegen deinen Bruder angeheuert mich rauszuschmeißen?!"
„Es tut mir leid!" Sehnsüchtig streckte ich die Hand nach ihm aus.
„Aber wir sehen uns ja in zwei Stunden wieder."
„Jaja", funkte Levin dazwischen.
„So Dramaqueens, ich werde jetzt ganz laut die Tür vor Bostons Nase zuschlagen. Ganz der bad guy eben. Dann wirst du – Boston – nochmal niedergeschlagen seufzen und anschließend nach Hause fahren, okay?"
„Nein ...", seufzte Boston und wollte sich nicht aus dem Haus schieben lassen.
„Komm Levin, nur noch fünf Minuten!"
„Paris, deine Stunde fängt in zweiunddreißig Sekunden an."
Eindringlich sah mich Levin an. „Geh. Jetzt!"
Erschrocken zuckte ich zusammen und warf Boston mit meiner Hand noch einen letzten Abschiedskuss zu.
„Wir sehen uns in zwei Stunden wieder."
„In zwei Stunden", bestätigte er wehmütig.
Doch aus den zwei Stunden sollten mehr werden.
-
„Die Hauptstadt von Bulgarien ist ...?"
Erwartungsvoll sah mich mein Nachhilfelehrer durch den Bildschirm hindurch an.
„Ähm ... also ..." Fieberhaft dachte ich nach.
Mist, warum habe ich mir diese blöden Städte nicht genauer angeschaut?
Ding Dong.
Überrascht lauschte ich.
Erwarten wir jemanden?
„Levin!", rief ich, als sich im Haus nichts tat. „LEEEEEEVVIIIIINNNNN!!!"
Ding Dong.
„Entschuldigen Sie bitte", entschuldigte ich mich bei meinem Nachhilfelehrer.
„Ich mache nur kurz die Tür auf und bin sofort wieder da!"
Hastig hüpfte ich von meinem Drehstuhl und sprintete die Treppen hinunter.
„Ja?", fragte ich, als ich schwungvoll die Tür aufgerissen hatte.
„Ich bin der Hausmeister und müsste an den Rohren etwas reparieren."
Ohne jegliche Hintergedanken, winkte ich den Mann in der weißen Latzhose herein.
„Ich bin gerade ein bisschen beschäftigt, aber die Rohre sind im Keller, die Treppe links runter."
Der Typ nickte und machte sich mit seinem schweren Werkzeugkasten beladen auf den Weg, während ich wieder zu meinem Nachhilfelehrer am Laptop hastete.
„Perdón! Jetzt bin ich wieder da."
„Mmh ..." Mein Nachhilfelehrer räusperte sich. „Also ..."
„Paris!"
Die Zimmertür hinter mir wurde aufgerissen und Levin kam schweratmend reingestürzt.
„Da ist ein Einbrecher im Haus", zischte er und schnappte sich die Lampe von meinem Nachttisch, um sie als Waffe zu verwenden.
„Ich habe gerade eine Nachhilfestunde. Kannst du später wiederkommen?"
„Paris!", zischte er wieder.
„Hast du mir nicht zugehört? Da ist ein EINBRECHER im Haus."
„Wow ..." Mit erhobenen Händen, drehte ich mich zu meinem Bruder um.
„Also erstens, rufen normale Leute die Polizei und wappnen sich nicht mit teuren Designer-Lampen, um einen Einbrecher niederzuschlagen, und zweitens ist das der Hausmeister, kein Einbrecher!"
„Der Hausmeister?" Verblüfft starrte mich Levin an.
„Ja, der Hausmeister. Ich habe ihn ja selbst reingelassen und jetzt husch. Ich habe eine Nachhilfestunde!"
Levin rührte sich nicht vom Fleck.
„Perdón!", entschuldigte ich mich wieder bei meinem Nachhilfelehrer.
„Normalerweise ..."
„Du hast den Einbrecher ins Haus gelassen?!" Schockiert weiteten sich Levins Augen.
Genervt verdrehte ich die Augen.
Konnte er nicht endlich gehen und mich meine blöde Nachhilfestunde zu Ende bringen lassen?
„Den Hausmeister habe ich ins Haus gelassen, hast du mir nicht zugehört?"
Mein Bruder stellte die Lampe leise wieder zurück auf den Nachtisch.
„Wir haben keinen Hausmeister."
Verständnislos sah ich meinen Bruder an. „Doch, der der unten steht und Rohre repariert."
„Sag mal, wie lange lebst du schon hier?"
Das war eine ironische Frage, das wusste ich.
Während mein Bruder nämlich sein ganzes Leben in diesem Haus verbracht hatte, war ich als Kind von meinen Eltern gestohlen worden und hatte die meiste Zeit meines Lebens bei anderen Eltern in einem anderen Haus verbracht.
„Gut."
Bereitwillig stand ich auf und marschierte an Levin vorbei.
„Warum gehen wir nicht runter und fragen ihn selbst, wer er ist?"
Levin brauchte einen Moment, um meine Worte zu verdauen.
Halb hatte ich schon den Flur durchquert, als er mich geschockt zurückhielt.
„Bist du des Wahnsinns? Du kannst einen Einbrecher doch nicht fragen, wer er ist?!"
Augenrollend seufzte ich. „Levin, Einbrecher klingeln nicht."
„Hausmeister aber auch nicht, die haben einen Schlüssel", hielt er entgegen.
„Hallo?", hörten wir eine leise verzweifelte Stimme aus meinem Zimmer dringen.
„Was ist denn jetzt die Hauptstadt von Bulgarien?"
-
„Wo warst du eigentlich, als es geklingelt hat?", meckerte ich, als Levin vor mir mit einer Bratpfanne – das war seine Idee – in der Hand, die Treppen runter schlich.
„Ich war für kleine Jungs, das wird wohl noch erlaubt sein", meckerte Levin, genauso begeistert über die aktuelle Lage wie ich, zurück.
„Mmh ..." Ein Kichern drang aus meiner Kehle.
„Was ist daran bitte lustig?", beschwerte sich Levin leise.
„Nichts, nichts", winkte ich ab.
„Ich habe mich nur gefragt, ob es den Ausdruck für große Jungs gibt."
Kichernd verlor ich das Gleichgewicht und musste mich erschrocken am Geländer festhalten.
„Ihhh ..."
Angewidert verzog mein Bruder das Gesicht.
„Das du in so einer Situation überhaupt irgendetwas lustig finden kannst!"
„Das beruhigt mich."
„Du hängst eindeutig zu viel mit Carlo rum."
Dig. Dig.
Wie angewurzelt blieb Levin stehen, als ein metallisches Klirren aus dem Heizungsraum zu hören war.
Vielsagend sah er mich an.
Ich – immer noch nicht überzeugt von seiner Einbrecher-Theorie – verdrehte genervt die Augen, ging an ihm vorbei und öffnete die Tür.
Der Mann mit der Latzhose kniete am Boden und hämmerte einen Schraubenzieher leicht gegen Rohre, nur um dann mit seinem rechten Ohr daran zu lauschen.
Um ehrlich zu sein, sah er alles andere als gefährlich aus.
„Kann ich Ihnen vielleicht einen Café oder etwas anderes zum Trinken anbieten?"
Der Fremde sah überrascht auf und nickte erfreut.
„Ein Café wäre unglaublich, vielen Dank!"
Aufmunternd lächelte ich zurück.
Dann verließ ich den Raum wieder und sah meinen verblüfften Bruder an.
„Und? Zufrieden?"
„Nein!", motzte er.
„Du hast ihm genau einen Café angeboten. Er könnte immer noch ein Einbrecher sein!"
„Pfff ..." Tief atmete ich aus.
„Wer auch immer dir das Vertrauen in gute Menschen genommen hat, gehört eindeutig eingesperrt."
Spöttisch lächelte ich meinen Bruder an.
„Darf ich dem Einbrecher jetzt einen Café machen?"
Mittlerweile schien auch Levin sein Tamtam lächerlich zu finden, denn er senkte langsam den Arm, der eben noch die Bratpfanne hoch erhoben gehalten hatte.
„Du hast ein Auge auf ihn. Ich bin oben. Wenn was ist, ruf einfach."
Ich nickte und boxte ihm lächelnd in die Schulter.
„Sei halt grad nicht für kleine Jungs, wenn ich was brauche."
Gespielt beleidigt streckte mir mein Bruder die Zunge raus und ging die Treppen rauf, zurück in sein Zimmer.
„Das war nur eine kleine Randbemerkung. Das wird wohl noch erlaubt sein."
Anscheinend hatte ich mal wieder lauter geredet, als beabsichtigt.
Mein Bruder streckte mir beleidigt den Mittelfinger entgegen.
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