D O S

Leise rollte Bostons Wagen auf den Schulparkplatz.

Der nächste Zug nach Paris – die erste Station unserer Flitterwochen – würde erst morgen wieder gehen und wenn man schonmal Zuhause war, konnte man auch in die Schule gehen.

Zumindest sahen das unsere Eltern so ...

„Ich hasse sie", murmelte Boston leise, während er unmotiviert den Autoschlüssel aus dem Zündschloss zog.

„Du liebst sie", lächelte ich und blickte nochmal schnell in den Klappspiegel über dem Beifahrersitz. 

Ich checkte mein Aussehen. Dann stieg ich aus dem Auto aus.

Sofort entdeckte ich Olivia, die mit ausgebreiteten Armen über den Schulhof auf uns zu rannte.

„Na, habt ihr euch auch mal wieder dazu entschieden, in die Schule zu gehen?", fragte sie grinsend.

Es ist niemals falsch in die Schule zu gehen. Mimimimi", äffte Boston unsere Eltern nach, während ich und Olivia uns innig umarmten.

Olivia lachte. 

Dann schlüpfte sie an mir vorbei, zur noch offenen Beifahrertür und setzte sich in Bostons Auto.

Kommentarlos klappte sie den Spiegel über dem Beifahrersitz auf, den ich zuvor gerade noch verwendet hatte und zog ihren Lippenstift nach.

„Warum sitzt du in meinem Auto, Olivia?"

Argwöhnisch beobachtete Boston unsere Freundin.

„Warum sitzt du nicht in der Klasse und lernst, Boston?", fragte Olivia, ohne den Blick vom Spiegel abzuwenden.

„Wir haben heute einen Test in Geographie und wie ich nun mal bin, weiß ich, dass ihr beide keinen Dunst habt, was wir gerade machen."

„Oh shit!" Boston schlug die Autotür hinter sich zu und schnappte hektisch seine Schultasche.

„Von wegen es ist nie falsch in die Schule zu gehen ...", brummte er.

Abrupt blieb er stehen und drehte sich zu mir um.

Er war wenigstens gut in Geographie! Ich hingegen, hatte die meiste Zeit meines Lebens Hausunterricht genossen, mit einer Frau, die nichts von Karten und Systemen gehalten hatte.

„Es kann ja sowas von falsch sein, in die Schule zu gehen!"

„Fehlt nur noch das Zelt. Dann wäre der Zirkus perfekt", stimmte ich der Liebe meines Lebens unglücklich zu. 

„Genug gefaselt!" 

Olivia stieg energisch aus Bostons Auto aus und quetschte sich zwischen uns hindurch.

Dann jagte sie mit eiligen Schritten über den Schulhof.

„Ich kann euch einen Crash-Kurs geben, wenn ihr mal ein bisschen in die Gänge kommt."

Ohne zu zögern, hasteten Boston und ich ihr hinterher. Sie war schnell. Wirklich schnell. 

Fast als wäre sie auf der Flucht.

Wumm.

In einer fließenden Bewegung rutschten Olivias High-Heels über den Boden. 

Sie schlitterte, rutschte aus und fiel ...

Dumm.

... schmerzhaft auf den Boden.

„Oh mein Gott!" Erschrocken rannte ich auf meine arme Freundin zu und ...

Wumm.

... fiel ebenfalls zu Boden.

„Mädels!" 

Bostons Gelächter hallte schallend durch die ganze Aula. 

Langsam kam er auf uns zu.

„Könnt ihr nicht lesen? Da steht ACHTUNG! RUTSCHGEFAHR."

Lächelnd deutete er auf das gelbe Schild am Ende des Flures, das eben diese Aufschrift trug.

Ihr wisst schon, eines dieser gelben Schilder, die die Reinigungskräfte immer aufstellen, wenn sie gewischt haben.

„Oje."

Von der anderen Seite des Ganges kam Carlo plötzlich heran geschlendert. 

Bemitleidenswert legte er seine Hand aufs Herz. „Geht es euch gut?"

Das mehr Ironie als Ernsthaftigkeit in seiner Stimme mitschwang, bemerkten Olivia und ich sofort.

Beleidigt rappelten wir uns auf.

Erst der Überraschungstest und dann das! Carlo ist genau das Sahnehäubchen oben drauf, das mir jetzt noch gefehlt hat!

„Das ist nicht lustig, Carlo!", meckerte Olivia, die inzwischen ebenfalls wieder auf beiden Beinen stand.

„Deine Fürsorge zerfrisst mich schon fast."

Eingeschnappt funkelte sie ihren Freund an.

„Oh, sorry." 

Reumütig schüttelte Carlo schnell den Kopf und straffte seine Schultern. 

Dann ging er besorgt auf seine Freundin zu.

„Geht es dir gut?" 

Prüfend musterte er Olivia von oben bis unten. 

„Musst du ins Krankenhaus?! Hast du dir wehgetan?! Willst du-?!"

„Mir geht es gut", unterbrach Olivia Carlo und griff nach seinen Händen.

Carlo war einer dieser Menschen, die das Mittelmaß nicht treffen konnten. 

Entweder ihn interessierte etwas gar nicht oder er steigerte sich viel zu sehr hinein.

„Meine Hose ist ein wenig schmutzig geworden, aber das passt schon." 

Zärtlich strich Olivia ihm über die Finger.

Carlos Augen weitete sich entsetzt. 

„Das passt gar nicht! Deine Hose ist schmutzig!"

Hysterisch rüttelte er Olivia an den Schultern. 

„Dein Bein muss amputiert und deine Hose sofort weggeschmissen werden!"

Von einem Ohr zum Anderen fing Carlo an zu grinsen.

Endlich kapierten wir, wie sehr er uns auf den Arm nahm.

„Carlo!" Lachend legte ich den Kopf in den Nacken, während Olivia ihren Freund böse zur Seite schubste.

„Kannst du einmal ernst bleiben?!", fragte sie kichernd.

Sofort hielt Carlo inne. „Ernst? Was ist das?"

„Aus Spaß wurde Ernst", flötete Boston und schlang seine Arme von hinten um meine Taille.

„Und Ernst ist drei Jahre alt."

Lächelnd sah ich zu ihm auf und küsste ihn auf die Mundwinkel.

„Das ist nicht lustig", brummte Olivia und verschränkte auf einmal ziemlich eingeschnappt die Arme.

Verwirrt sahen wir sie an.

Ernst?", fragte Boston. 

Ernst ist nicht lustig? Du kennst ihn doch gar nicht ..." 

Gespielt schmollend schob er die Unterlippe vor.

Olivias Gesichtszüge sprachen jedoch Bände.

Jep, diesen Witz fand sie aus unerfindlichen Gründen gar nicht lustig.

„Was ist denn jetzt mit dem Test?", fragte ich schnell, um vom Thema abzulenken.

„Welcher Test?" Verwirrt runzelte Carlo die Stirn.

„Der Geo-Test?"

„Welcher Geo-Test?"

„Carlo ..." Schwer seufzte ich. 

„Wir wissen alle, dass du uns nur auf den Arm nimmst und ganz genau weißt, von welchem Test wir sprechen."

„Nein, tue ich nicht! Wirklich!"

Mit großen unschuldigen Augen sah uns Carlo an.

Dann fing er wieder an zu grinsen.

„War nur Spaß, ich weiß ganz genau, von welchem Geo-Test ihr redet."


-


Deprimiert starrte ich auf den Zettel vor mir.

Der Test war beim Grundlegenden schon gescheitert:

Name:

Ich schrieb natürlich Paris hin.

Vorname:

Verwirrt starrte ich auf die zwei Zeilen vor mir.

Damit hatte ich nicht gerechnet.

Schnell packte ich meinen Tintentod aus, nachdem ich mich tierisch darüber geärgert hatte, dass ich nicht mit Bleistift geschrieben hatte.

Raschel, raschel, raschel.

Die Meisten blätterten schon auf die zweite Seite des Tests, während ich immer noch überlegte, was die Angabe bei der ersten Frage zu bedeuten hatte.

Sssss.

Langsam und möglichst unauffällig drehte ich mich zu meinem Sitznachbarn nach hinten um.

„Señora Martini, drehen Sie sich bitte wieder nach vorne!"

O.k., anscheinend doch nicht so unauffällig.

„Ah", stöhnte ich schmerzerfüllt und griff mir in den Nacken.

„Ich glaube, ich habe einen Hexenschuss!"

Krächzend drehte ich mich ein letztes Mal ein Stückchen zurück und lugte auf den Test meines Sitznachbarn.

Nur leider schrieb dieser nicht so schön ...

So sehr ich mich auch bemühte, ich konnte von seiner Keilschrift einfach nichts entziffern!

„Señora Martini!"

Hinterlistig lächelte mich meine Lehrerin an. 

„Hexenschuss kann's nicht sein. Die schießen nicht auf ihr eigenes Personal."

Dudumm.

Mein Herz setzte für einen Schlag aus.

Hatte sie das gerade wirklich gesagt?

„Denken Sie, nur weil ich rote Haare habe, bin ich eine Hexe?"

„Im sechzehnten Jahrhundert hätte das nicht nur ich gedacht."

Die alte Dame lächelte süffisant.

„Und jetzt machen Sie besser weiter. Ihr habt noch fünf Minuten", wandte sie sich an die ganze Klasse.

FÜNF Minuten?!

Hektisch ließ ich die erste Frage aus und widmete mich der Zweiten.


-


„Wie ist es dir gegangen?", flüsterte Boston leise.

Die Tests waren inzwischen eingesammelt und die Tische wieder zurückgeschoben.

„Absolut ..."

„Señora Martini!"

Versucht ruhig, drehte ich mich lächelnd zu meiner Lehrerin um, die mich heute ganz offensichtlich auf dem Kicker hatte.

„Hören Sie auf mit Señor Lopez Garcia zu quatschen."

Böse sah sie mich an. Dann drehte sie sich wieder zur Tafel.

Doch dann überlegte sie es sich doch anders und wandte sich wieder mir zu.

„Oder wissen Sie was? Setzen sich sich doch bitte zu Alex in die letzte Reihe."

Mit offenen Augen starrte ich die Lehrerin an.

Umsetzen?! Wir waren doch nicht mehr im Kindergarten!

Eingeschnappt nahm ich meine Sachen und tat, wie geheißen.

Setzen Sie mich doch so oft um wie Sie wollen, ich rede mit jedem!, dachte ich leise.

Zumindest dachte ich das ...


-


„Ich habe das laut gesagt?!

Erschrocken starrte ich Olivia an, während mir fast die Gabel aus der Hand fiel.

Datsch.

„Bah, das Essen sieht aus, als wäre schon dreimal der Boden damit gewischt worden ...!", kommentierte Carlo, schmiss sein Tablett auf den Kantinentisch und setzte sich neben uns.

„Das wird sie dir auf jeden Fall noch übel nehmen", warnte mich Olivia.

Sie meinte natürlich die Lehrerin, doch Carlo verstand das mal wieder anders: „Die Köchin? Weil ich meine ehrliche Meinung zum Schulessen geäußert habe? Gibt es hier denn keine Meinungsfreiheit?!"

Kläglich verzog er das Gesicht.

„Musst du dich denn eigentlich immer angesprochen fühlen?"

Liebevoll knuffte Olivia ihren Freund in die Seite.

Datsch.

Nun knallte Boston sein Tablett auf den Tisch und setzte sich zu uns.

Mit dem Unterschied, dass sich auf seinem Teller nur Salat befand.

„Mal ganz ehrlich, ihr wollt mir doch nicht erzählen, dass ihr das esst!"

Mit einer Mischung aus Bewunderung und Belustigung, schielte Boston auf unsere Teller.

Augenrollend aß ich einen großen Bissen von meinem Hühnchen.

Demonstrativ sah ich ihn dabei an.

„Was?", schmatzte ich. „Das ist nur Hühnchen."

Nachdenklich stocherte Boston in seinem Salat rum.

„Auf deinem Teller befindet sich mehr Chemie, als Fleisch. Hast du dir schon mal die Fabriken angesehen, in denen die armen Tiere produziert werden?"

Da ich immer noch mit meinem viel zu großen Bissen beschäftigt war, sprang Olivia für mich ein:

„Nur, weil du jetzt vorübergehend zum Vegetarier mutiert bist, musst du uns kein schlechtes Gewissen machen!"

„Hühner können wenigstens weglaufen!", unterstützte sie Carlo tatkräftig.

„Was?" Verwirrt sah ich Carlo an.

„Was?", fragte er genauso verwirrt zurück.

„Das Gemüse am Feld kann nicht weglaufen! Die sind den Vegetariern ganz schutzlos ausgeliefert!"

Krm.

Laut räusperte sich Boston.

„Die Hühner werden in engen Räumen in Käfigen gehalten! Ich glaube nicht, dass ihnen ihre Beine beim Weglaufen helfen"

Immer langsamer kaute ich.

Das Essen in meinem Mund schmeckte bei den Bildern in meinem Kopf nicht mal ansatzweise mehr so gut.

„Außerdem werden die Hühner mit Antibiotika gefüttert!"

Ehrlich betroffen blickte Boston in die Runde

„Mmh ..."

Bedächtig legte Carlo sein Besteck auf den Tisch.

Dann sagte er glücklich über seine eigene Erkenntnis: „Dass man Hühnchen mit Antibiotika vollpumpt, würde zumindest erklären, warum Hühnersuppe bei Erkältungen hilft!"

Strahlend sah er uns an.

Klirr.

Wütend schmiss ich mein Besteck auf meinen Teller und funkelte die Jungs böse an. 

„Ihr habt mir den Appetit verdorben!"

Olivia schien es ähnlich zu gehen.

„Ihr habt uns den Appetit verdorben", fauchte sie.

Abwartend streckten wir gleichzeitig unsere Hände aus.

Boston runzelte die Stirn.

„Die Autoschlüssel", sagte ich trocken. „Wir gehen jetzt richtiges Essen holen."

„Wenn du Glück hast, bringen wir dir auch etwas nahrhafteres als diesen Salat mit", fügte Olivia gütig hinzu.

Lächelnd verschränkte mein Freund die Arme.

„Vergesst es! Das geht sich nie aus. Die Pause ist schon fast vorbei."

Ungeduldig hob ich die Augenbraue.

„Die A U T O S C H L Ü S S E L !"

Wenn es um Essen ging, verstand ich keinen Spaß.

„Nehmt doch Carlos Auto!"

Der Angesprochene zuckte erschrocken zusammen und verschränkte nun ebenfalls die Arme.

„Nehmt doch Bostons Auto!"

„Danke!", sagte ich und lehnte mich lächelnd vor.

Ich gab Boston einen kurzen Kuss auf die Wange und fischte dabei die Autoschlüssel aus seiner Hosentasche heraus.

„Ich liebe dich", säuselte ich und steckte die Autoschlüssel zufrieden in meine Hosentasche.

„Ich mich auch", flötete er genauso säuselnd zurück.

Lachend warf ich ihm einen Luftkuss zu.

Ich wusste, dass er es nicht ernst meinte. 

Er liebte mich, wie nichts anderes auf der Welt.

Aus welchen Gründen sonst, sollten wir jetzt schon verlobt sein?

Selbstbewusst marschierte ich zwischen den vielen anderen essenden Schülern hindurch, Richtung Ausgang.

Olivia und Carlo folgten mir.

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