4. Kapitel

Ian hat mir Schuhe und Kleidung geliehen. Wir fahren am nächsten Morgen zusammen zum Training. Ich stehe immer noch völlig neben mir. Ich habe auf dem Sofa geschlafen, wobei, als Schlaf kann man das nicht wirklich betiteln. Meine roten Augen zieren dunkle Schatten und meine Wangen sind ebenfalls gerötet. Nicht einmal meine Trainingsklamotten war ich heute Morgen holen. Ich trotte durch die Tür und sehe bereits von weitem Kenny und Drew. Kurz schweift Drews Blick zu mir. Er sieht wieder weg, aber einen Moment später sieht er erneut zu mir. Kenny tut es kurz danach auch. Ich seufze leise und gehe auf die beiden. Ich habe mir verkniffen, in den Spiegel zu sehen, aber ich kann mir vorstehen, welchen Eindruck ich erwecke.

„Bist du etwa verkatert?", fragt Drew amüsiert. Ich schüttle den Kopf und atme tief durch. „Ich... ich bekomme das in den Griff.", verspreche ich sofort und merke erst nicht, wie Ian zu mir gekommen ist. „Wir haben bestimmt noch Trainingsklamotten hier, oder?" – „Hast du deine vergessen?" Er schüttelt den Kopf. „Nein, aber wir waren heute Morgen nicht noch bei Louis, um welche zu holen." – „Du warst heute Nacht bei Ian?", fragt Kenny verwundert. Ich nicke stumm. „Er..." Ian zögert. Ich nicke nur und er spricht weiter. „Gestern Abend ist er bei mir aufgetaucht. Als er nach dem Training nach Haus gefahren ist, war Harry wieder da." – „Was?" Irritiert sieht Drew mich an. „Er stand im Garten. Ich..." Keine Ahnung, was ich sagen soll. Kenny und Drew sehen mich perplex an, bis sie verstehen, dass wir sie nicht verarschen. „Okay, wir finden noch Klamotten, mach dir darüber keine Gedanken."

„Louis!" Lucas kommt auf mich zugelaufen, als ich umgezogen bin. „Louis, ich muss mit dir sprechen! Ich bin heute Morgen ins Büro gekommen und – oh scheiße." – „Lass mich raten. Harry stand vor dir?", frage ich und lache bitter. Er nickt. „Ja, das Vergnügen hatte ich gestern bereits.", antworte ich. „Ich wusste nicht, dass er wiederkommt." – „Schon gut, Lucas." Ich winke ab. „Heute Abend wird er nicht mehr da sein, und –" – „Da bin ich mir ehrlichgesagt nicht so sicher.", unterbricht er mich direkt. „Was?" – „Flurfunk: Er bleibt den Rest der Saison über. Die ganzen Playoffs." Wieder wird mir schwindelig. Wie soll ich die Playoffs überstehen, wenn er hier ist? Wie sollte ich es schaffen, mich auf den Stanley-Cup zu konzentrieren, wenn er in der Stadt ist? Nein!

„Das kann er doch nicht einfach so.", widerspreche ich und schüttle den Kopf. „Er arbeitet nach wie vor für TAA. Er ist sogar irgendwie mein Chef.", wirft Lucas vorsichtig ein. „Zumindest glaube ich das." – „Nein." – „Nein?" – „Nein, er bleibt nicht hier." Bevor er mir antworten kann, laufe ich los und wärme meine Muskeln auf. Ich muss meine Gedanken frei bekommen: dafür ist nichts besser, als Sport zu machen und meinen Körper bis ans Äußerste zu reizen. Ich gebe alles und noch mehr. Zu wissen, dass er hier ist, ist so viel schlimmer, als keinen blassen Schimmer zu haben, wo er sich aktuell befindet.

Mein Kopf will keine Ruhe geben. Ich verpatze fast jeden Schuss und jeden Pass. Weder Drew noch Kenny sagen etwas dazu. Ethan, der aktuelle Co-Trainer, kommentiert es ebenfalls nicht. Ich denke, Drew hat bereits mit ihm gesprochen. Ich bin dankbar dafür, dass niemand fragt, ich möchte nicht darüber sprechen. Genauso wenig möchte ich darüber nachdenken, aber dieser Wunsch wird mir nicht erfüllt.

Nach dem Training fahre ich nicht nach Hause. Ich möchte so lange wie möglich unterwegs sein, weswegen ich quer durch die Stadt auf den Weg zum „Queer-Sports-Club" mache. Es ist ein Sportzentrum, dass ist mit einigen Sponsoren und Geldgebern aufgebaut habe. Man kann dort von Fußball über Football, bis Eishockey verschiedenste Sportarten ausprobieren und machen. Dieses Trainingscenter bestand bereits, aber das Geld fehlte. Sponsoren zu finden, war einfacher als gedacht. Gerade nach meinem Outing: Es ist nicht kostenlos, aber nicht teurer als jeder andere Sportverein. Und es ist darauf ausgelegt, dass Kinder und Jugendliche der LGBTQ-Community sich trauen, Teamsportarten ausprobieren. Ich bin Teil des Vorstands und Gesicht des Zentrums, aber generell halte ich mich eher zurück.

„Hi Louis.", winkt mir Jason zu. Er ist vierzehn und war einer der ersten, der sich hier angemeldet hat. Er spielt Eishockey und ist inzwischen Teamcaptain. „Hi, trainiert ihr gleich?" – „Ja, kommst du mit?", fragt er direkt und ich nicke. „Sicher." Es war ein ganzes Stück Arbeit, dieses Sportzentrum wieder aufzubauen, aber inzwischen läuft es sehr gut und die Mannschaften sind fast alle voll. Ich habe dieses Projekt direkt nach dem Sieg des Stanley-Cups vor zwei Jahren angefangen und ein wenig später öffnete das Zentrum wieder die Türen. Die weltweite Beachtung hat nicht zuletzt dazu beigetragen, dass es so gut läuft. Wir haben Anteilseigner von überall her, nicht nur aus den USA und sogar der NHL selbst spendet jedes Jahr einen recht hohen Betrag. Dazu fließen alle Einnahmen aus den Pride-Kampagnen, die nach wie vor zweimal im Jahr bei Tampa laufen, in dieses Projekt. Es läuft verdammt gut, wenn man das so sagen darf.

„Hi Leute." Ich stelle mich in die Box und winke dem Team zu. „Louis ist hier!", höre ich sofort und sie fahren zu mir. „Wie läuft das Training?" – „Kommst du mit aufs Eis?", werde ich sofort gefragt. „Trainierst du uns heute?" Ich lache und nicke. „Wenn ihr ein paar Schlittschuhe für mich auftreiben könnt, gerne.", antworte ich. Es dauert nur ein paar Minuten, bis ich tatsächlich auf dem Eis stehe. Und im Gegensatz zum Training vorhin, schaffe ich es tatsächlich den Kopf freizubekommen. Die 90 Minuten, die die Kids trainieren, verfliegen unglaublich schnell und ehe ich mich versehe, ist die Zeit um.

„Samstag haben wir ein Spiel! Kommst du?", fragt Jason, bevor sie sich umziehen gehen. „Ich würde gerne, aber ich bin selbst unterwegs." – „Gegen wen?", möchte jemand anderes wissen. „Die Bruins." – „Ihr müsst gegen Bosten gewinnen!" – „Wir werden unser Bestes geben.", verspreche ich grinsend.

Inzwischen ist früher Abend. Der Moment, in dem ich nach Hause kommen werde, rückt immer näher. Ich will nicht. Alles in mir schreit, sich einfach ein Hotel zu nehmen und noch ein paar Tage zu warten. Kurz kommt mir der Gedanke, Harry zu fragen, ob er bei uns – mir – ist, aber dann müsste ich mit ihm sprechen. Nein, das will ich nicht.

Zögerlich schließe ich die Haustür auf. Es ist abgeschlossen. Das ist ein gutes Zeichen. Ich muss dringend das Schloss austauschen lassen. Ich trete ein und schaue sofort zur Terrassentür. Geschlossen. „Hallo?", frage ich laut, bekomme aber keine Antwort. Langsam und mit kleinen Schritten gehe ich ins Wohnzimmer. Kein Harry. Auch in der Küche ist er nicht. Erleichterung macht sich in mir breit, doch gleichzeitig traue ich dem Frieden nicht. Ich gehe durch jeden Raum. Nicht einmal die Garage lasse ich aus. Kein Harry. Nirgendwo ist er zu sehen. Halleluja.

Erst als ich danach wieder in die Küche komme, fällt mir der Zettel auf der Arbeitsplatte auf.

Hi Louis.

Es tut mir leid, dich gestern derart überfallen zu haben. Ich bin in ein Hotel gezogen. Nach deiner Reaktion gestern bezweifle ich, dass es in Ordnung wäre, wenn ich hier schlafe.

Harry.

Er ist nicht hier. Er schläft in meinem Hotel. So erleichtert ich auch bin, sofort macht sich mein Gewissen bemerkbar. Ein flaues Gefühl in meinem Magen, ein Stechen in der Brust. Und doch bin ich froh darüber, wieder alleine zu sein. Ich atme tief durch und mein Herz randaliert erneut. Sein Parfüm liegt in der Luft. Nicht mehr stark, aber trotzdem rieche ich es, ich rieche ihn. Instinktiv reiße ich alle Fenster auf. Wenn dieser Duft nicht verschwindet, werde ich noch wahnsinnig! Danach gehe ich hoch in mein Schlafzimmer. Neben dem Bett liegt meine Jogginghose. Zumindest denke ich das, bis ich das Kleidungstück aufhebe und es sich als Hoodie herausstellt. Es ist ein alter Lightning Hoodie. Wo kommt der denn her? Verwundert sehe ich ihn an, bis ich es wieder rieche. Und blöd, wie ich bin, führe ich ihn zu meinem Gesicht und drücke meine Nase hinein. Harry. So sehr Harry!

Ein Schauer erfasst meinen Körper und mir rutscht der Stoff beinahe durch die Finger. Er hat ihn getragen. Ist es seiner? Bestimmt. Er hat ihn bestimmt vergessen. Ich sollte ihn entsorgen, aus dem Fenster werfen oder direkt verbrennen. Aber ich tue nichts davon. Ich starre nur den blauen Hoodie an mit dem Logo meines Teams und frage mich erneut, ob das alles hier wirklich geschieht. Wenn mir jemand gestern Morgen noch gesagt hätte, dass mein Ehemann mir plötzlich wieder gegenüber stehen wird, hätte ich ihn wohl ausgelacht und den Kopf geschüttelt. Vermutlich hätte ich alles für realistischer erklärt als dieses Szenario. Aber jetzt? Jetzt drehen sich meine Gedanken und auch, wenn ich weiß, dass unglaublich dämlich ist, ziehe ich mir den Hoodie über und gehe wieder nach unten. Tomlinson, du dämlicher Idiot!

Ich sehe an mir herab, als ich auf dem Sofa sitze und mir das gerade gelieferte Essen ausgepackt habe. Dann seufze ich und nehme mein Handy aus der Hosentasche, ehe ich Neo anrufe.

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Da ist ja einiges passiert. Hätte Louis des Hoodie wegpacken sollen? Und was meint ihr, wird Noah dazu sagen?

Love, L

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