V - The next day
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Das Heulen des Windes ist durch das Fenster zu hören; scheinbar schließt es nicht mehr richtig. Die aufgehenden Sonnenstrahlen brechen sich im Glas des Fensters. Vereinzelte Strahlen wandern über das Gesicht einer Frau, während sich der Vorhang in der Zugluft bewegt. Staub wirbelt von dem am Boden liegenden Bilderrahmen auf, der das ganze Zimmer in eine Art Nebel zu hüllen scheint. Doch als der Wind erneut gegen das Fenster peitscht und laut durch das Schlafzimmer pfeift, wird die unheimliche Stille durchbrochen.
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Erschrocken saugt sie tief Luft ein, als würde ihr ganzer Oberkörper sich schmerzhaft dehnen wollen. Ruckartig setzt sie sich auf, und schweißgebadet kleben die blonden Haare an ihrem Kopf. Mit einer handbeweglichen Geste streicht sie sich die Strähnen nach hinten, während ihre Hände über den Kopf gleiten. Sie schüttelt den Kopf, während sie im Bett sitzt – war das alles nur ein Traum? Habe ich mir das wirklich alles eingebildet?
Sie sieht sich um und bemerkt die umgekippte Nachttischlampe sowie das Bild ihrer Eltern, das unsanft auf dem Boden liegt. Als sie zum Fenster blickt, strömt die Sonne durch die Öffnung und wärmt ihr Gesicht, während der Vorhang sanft im Wind hin und her schwingt. Ungläubig schüttelt sie den Kopf und lässt sich auf die Bettkante sinken, wobei ihre nackten Füße den kalten Boden berühren. Auf ihren bloßen Beinen breitet sich ein unangenehmes Kribbeln aus – eine Gänsehaut, die spürbar von der Kühle herrührt.
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Nach einem tiefen Durchatmen streicht sie sich über die Beine, als wolle sie die Gänsehaut wegwischen – jedoch mit mäßigem Erfolg. Vorsichtig steht sie auf, immer noch mit den Nachwirkungen des Fieberwahns kämpfend. Mit wackeligen Beinen schleicht sie ins Badezimmer. Dort angekommen, stützt sie sich mit beiden Armen am Waschbecken ab. Mit gesenktem Kopf dreht sie den Wasserhahn auf, bis sie schließlich den Kopf hebt. Langsam blickt sie in das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegensieht.
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Sofort steigen die Erinnerungen in ihr auf, als sie den eingetrockneten Schaum an ihrem Mund entdeckt. Die Tabletten! Hatte das Schicksal ihr vielleicht ein Fünkchen Glück geschenkt und sie tatsächlich irgendwie überlebt? War das alles nur ein lebhafter Fiebertraum? Gedanken wirbeln in ihrem Kopf – sie weiß nicht, was sie glauben soll. Schließlich müsste sie doch in irgendeiner Form spüren, was geschehen ist. Doch hier ist nichts; alles fühlt sich seltsam vertraut und normal an. Das muss ein Traum gewesen sein. Zumindest lässt es sich auf andere Weise nicht erklären.
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Sie hält ihre Hände unter das fließende Wasser und befeuchtet ihr Gesicht, um den angetrockneten Schaum zu entfernen. Um sich im Spiegel besser betrachten zu können, muss sie sich beinahe auf die Zehenspitzen stellen – ein Nachteil, wenn man mit gerade einmal eins sechzig nicht sonderlich groß ist. Als sie in den Spiegel blickt, fallen ihr die roten Augen auf, die beinahe gegen den strahlenden Glanz ihrer blauen Augen untergehen. Das Wasser tropft von ihrem Gesicht, und sie greift nach dem Handtuch, das neben ihr über der Heizung hängt.
Sie schüttelt erneut den Kopf. Mit ihren roten Augen könnte man meinen, dass sie eine harte Nacht hinter sich hat. Nun ja, eigentlich stimmt das in gewisser Weise, jedoch es hätte noch weitaus schlimmer ausgehen können.
Sie zieht sich aus und stellt sich unter die Dusche. Es wirkt wie ein verzweifelter Versuch, die Erinnerungen an die letzte Nacht abzuspülen. Doch eins ist sicher: Das wird ihr auch durch das Wasser nicht gelingen. Dennoch fühlt sie sich erfrischter, als sie schließlich die Dusche verlässt und sich ein Handtuch umwirft.
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Als sie ein Handtuch um ihre langen Haare wickelt, tritt sie erneut vor den Spiegel. Mit den Fingern streicht sie sanft über ihre Wange; die Haut wirkt eingefallen, grau und kraftlos. „Die Augenränder haben schon Kinder bekommen", denkt sie seufzend, während sie sich tief in die Augen blickt. Dann spricht sie mit ihrem Spiegelbild und starrt ihm in die Augen:
„Alanis, du siehst scheiße aus!"
Ihr gesamtes Erscheinungsbild wirkt kraftlos, ausgezehrt und verzweifelt. „Nicht einmal umbringen kannst du dich", ging es ihr durch den Kopf. „Was soll ich hier noch? Sieh dich doch an – was hat das Leben noch für einen Sinn? Hier wartet niemand auf dich. Also für wen machst du das alles?"
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Trotz allem ging sie ins Schlafzimmer und suchte sich neue Kleidung aus der Kommode heraus. „Schnuffel-Klamotten", hatte ihre Mutter immer dazu gesagt. Doch in dem Moment, als sie wieder an ihre Mutter denken musste, liefen ihr die Tränen über die Wangen. „Ich hoffe, sie können mir irgendwann verzeihen, dass ich sie zu dem Wohnwagen überredet habe", schoss es ihr durch den Kopf, während sie die Handtücher fallen ließ und in die weite Trainingshose sowie den Oversize-Pulli schlüpfte.
Sie streicht mit den Fingern mehrmals durch ihre nassen Haare – das wird schon reichen – bevor sie sich auf den Weg zur Couch macht. Auch hier wirkt alles wie in einen Nebel gehüllt; gelüftet wurde hier schon lange nicht mehr. Als sie schließlich die kleine Ledercouch vor dem Fernseher erreicht, lässt sie sich erschöpft darauf fallen. Die Wolldecke ist auf den Boden gerutscht; sie zieht sie wieder zu sich und deckt sich sorgfältig zu. Doch etwas hat sie vergessen: Wo ist die Fernbedienung für den Fernseher?
Sie schaut sich um, und es dauert nicht lange, da entdeckt sie sie endlich. Vor ihr auf dem Couchtisch liegt sie leider nicht, denn irgendjemand hat sie scheinbar sinngemäß direkt vor den Fernseher gelegt. Das kann doch nicht der Sinn einer Fernbedienung sein! Sie muss nicht nah am Fernseher platziert werden; sonst könnten wir sie ebenso gut „Nahbedienung" nennen – oder die Knöpfe am Gerät benutzen.
Egal, sie gräbt sich aus der Decke heraus und holt die Fernbedienung vom Fernseher. Sie ist sich nicht ganz sicher – wahrscheinlich hat sie sie selbst dorthin gelegt. Doch sie vergisst vieles, denn oft schleicht sie wie ein Schatten ihrer selbst durch die Wohnung.
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Zurück auf der Couch mummelt sie sich wieder unter die Decke, greift zur Fernbedienung und will gerade den Fernseher anstellen.
"Alter, das ist ja sogar hier drin alles grau und verstaubt!"
Vor Schreck lässt sie die Fernbedienung fallen und sieht zum Fernseher, der noch immer schwarz und leblos dasteht.
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