•8 - Der unendliche Brief•

{Der folgende Brief ist etwas, was mich lange beschäftigt hat, beschäftigt sich unter anderem mit Suizid, Depressionen und Ritzen.
Depressionen sind eine Krankheit, kein Hirngespinst - alles ist real.
Suizid und Ritzen Hilferufe und kein Zeichen von Schwäche oder Sucht nach Aufmerksamkeit. (Ja, ich habe alles schon gehört)
Für Leute, die damit in Kontakt stehen, weiß ich nicht, ob sie das lesen sollten oder nicht.}

[Der unendliche Brief.
Ich könnte mit tausenden von Einleitungen beginnen, denn das was kommt, hat mein Leben verändert und es ist mir eine lange Zeit schwer gefallen, darüber zu reden.
Als (vorwiegend) Autoren hier auf Wattpad gehen wir alle möglichen "Schicksalsschläge" durch, die wir Charakteren in Büchern und Rpgs antun, von Krebs, toten Eltern, toten Kindern, Alkoholismus, Drogen - Wir haben beinahe jedes Szenario durch.
Was wir leider oftmals aus den Augen verlieren sind die kleinen Dinge, der tägliche Kampf, der das ganze Leben verändern kann, so klein und unbedeutend er auch scheinen mag - Dieser Weg ist kräftezehrend.
Und ich fange am Anfang an.]

Dezember 2015 - Mit 14 fängt man an, sich für Jungs zu interessieren, ganz klar. Und abgesehen von Schwärmereinen für Schauspieler, die sowieso nie wahr werden, war ich somit komplett unerfahren, bemerkte, dass ich immer wieder nervös war, wenn ich mit dir sprach oder an dir vorbei lief. Ich habe mich darauf gefreut, dich zu sehen, aber war nervös.
Deine Vertraute war meine beste Freundin - somit habe ich ein paar Dinge mitbekommen und dich bewundert - nett, witzig, unglaublich stark und doch auf eine Weise labil.
Es hat nicht lange gedauert und meine zwei besten Freundinnen haben davon Wind bekommen und kurzerhand war etwas für Silvester organisiert. Du würdest bei mir übernachten und wir würden mit einem guten Freund von dir, der zufällig mit meiner besten Freundin zusammen war, Silvester feiern.
Ich habe mich wohl a) (laut meiner besten Freundin) sehr peinlich benommen, aber ich habe b) bemerkt, dass ich mich wohl bei dir fühle, habe anhand einer kurzen Veränderung deiner Mimik erkannt, dass du Kopfschmerzen hattest und das Feuerwerk da nicht gerade die beste Option war.
Als wir dann gegen 1 zu mir nach Hause sind, saßen wir bis 4 Uhr nachts in meinem Zimmer - du auf dem Sofa, ich auf dem Bett, mit anständiger räumlicher Distanz - haben heißen Kakao getrunken und einfach nur geredet. Normalerweise bin ich niemand, der gute Gespräche führen kann, aber es hat einfach funktioniert. Wir haben geredet und geredet bis meine Mama uns unterbrochen hat und dich ins Gästezimmer geschickt hat.
Wir haben uns zwei Tage später wieder gesehen, bei einem gemütlichen Beisammensein unter Freunden, damals, als man dumme Spiele gespielt hat und Alkohol keine Rolle spielte.

16.01.16 Am Abend rief meine beste Freundin mich an, ich solle doch bitte mal auf mein Handy schauen, sonst würde sie durchdrehen. Leicht verwirrt bin ich nach oben gegangen, hab mein Handy genommen, und mein Herz hat schneller geklopft.
Eine Nachricht von dir. Du hast vom Universum und von schönen Dingen geschrieben und Dingen, die ganz besonders schön sind, aufmerksam, sich um andere kümmern - wie ich später erfuhr musste meine beste Freundin herhalten, um deine Nachrichtenversuche zu beurteilen, weil du schrecklich nervös warst - deshalb wurde ich auch angerufen, weil du sie wahnsinnig gemacht hast.

Und dann nahm es seinen Lauf. Ich war verdammt glücklich - es hätte nicht besser sein können. Zwei Wochen später der erste Kuss, hier auf meinem Sofa, nachdem wir Honig im Kopf gesehen hatten und ich eigentlich total verheult war.
Wir haben immer noch viel miteinander geredet und ich erfuhr von allem, was dich zu dem gemacht hat, der du bist.
Deine Mutter, die dich beinahe ignoriert hat, wo du mehrmals betont hast, dass du sie hasst, deine Schwester, die ihr Liebling ist, dein Vater, der von deiner Mutter bis zu der Trennung ausgenutzt wurde. Du bist mit zu ihm, warst nicht besonders gut in der Schule, hattest das Gefühl nicht gut genug für ihn zu sein, hast dich alleine gefühlt, wenn du in die leere Wohnung kamst, warst immer wieder krank, während kein Arzt dir helfen konnte.
Das war der erste Kontakt mit psychischen Erkrankungen.
Dass deine Krankheit dann einen Namen hatte, machte es nicht besser.

Ich erinnere mich bildlich daran, wie wir wieder auf meinem Sofa saßen, ich dein Gesicht in den Händen hielt und buchstäblich deine Tränen weggeküsst habe, weil du mich brauchtest.
Ich erinnere mich daran, wie du mir von deinem Selbstmordversuch erzählt hast, von dem meine Großcousine dich abhielt.
Ich erinnere mich an kleine Dinge, wie als ich dir meine pinken Prinzessinnenspangen in die Haare gemacht habe.

Wir waren beinahe genau vier Monate zusammen.
Und in diesen vier Monaten ist mehr passiert, als in meinen Kopf passt.
Du hast teilweise gefühlt bei uns gewohnt - hattest bei uns Nachhilfe, meine Mama hat dich zu besseren Noten gebracht, sodass du die Klasse nicht wiederholen musstest.
Ich war 14 und du 16.
Hätten wir uns später kennen gelernt, hätte ich dir denke ich helfen können, aber ich konnte irgendwann nicht mehr.

Ich habe mich manchmal erdrückt gefühlt, ohne Zeit für mich, auf Familienfesten fiel es dir logischerweise schwer Kontakte zu knüpfen und das habe ich dir vorgehalten.
Am 17.4 habe ich dir das blind an den Kopf geworfen, danach hat niemand sich mehr getraut, auf den anderen zuzugehen.
Du hast den letzten Schritt gemacht und die Beziehung beendet. Ich war froh, weil ich zu feige dazu war.

Aber das hier ist eher der Anfang der Geschichte.

Wie kann ich so grausam sein und jemanden, der sonst beinahe niemanden hat, alleine lassen, dann auf diese Weise?

Wie kann ich so egoistisch sein und ihm nicht mehr beistehen?

Wie kann ich damit leben?

Wir waren uns beide nicht egal - das habe ich nach einer Feier erfahren, als du wohl leicht angetrunken warst.

Später, im Juli, hatten wir ein Klassentreffen mit unserem Lateinkurs (in dem du nicht warst) und ich habe mich mit unserem Lehrer unterhalten. Und er hat mir gesagt, "Mir ist erst aufgefallen, dass du und L. nicht mehr zusammen sind, als seine Noten schlechter wurden."

Es hat mich fertig gemacht.
Habe ich dir deine Zukunft verbaut?

Die nächste Station ist ein Abend mit meiner (und deiner damaligen) besten Freundin, die mir dir schrieb, als wir im Wohnwagen übernachtet haben. Nur eine Nachricht von dir: "Es tut mir leid." Und die ganze Nacht über warst du nicht online.
Am Morgen hat sie dann mit der Nummer, die ich noch hatte, deinen Vater angerufen, der dich aufgeweckt hat und meinte, du sollst mal auf dein Handy schauen.
Es tat dir leid, dass du dich wieder geritzt hattest.
Du bist nicht tot.

November dann die Nachricht, du hast wieder versucht dich umzubringen, warst in einer Klinik.

In der Schule konnte ich nicht mehr klar denken, saß nur noch da, habe in einer Pause mal auf dem Flur geweint, weil ich mir die Schuld gegeben habe.

Kurz vor Silvester 2016 wurde mir bewusst, dass es nicht mehr so weiter gehen kann. Dass ich mir nicht die ganze Zeit Vorwürfe machen kann, ich hätte dein Leben zerstört, dass ich wieder vollkommen glücklich sein will und darf.

Ich habe angefangen Briefe zu schreiben, sie in ein Kuvert gepackt und darauf geschrieben "Auf Wiedersehen und -lächeln". So lächerlich es auch klingt, ich hatte das Gefühl, nicht mehr wirklich lächeln zu können.
Es sind über 8 Seiten von Briefen, die ich immer wieder geschrieben habe - um für mich damit klarzukommen. 

Ich habe dein Leben nicht zerstört, du machst deinen Führerschein, bist an eine Wirtschaftsschule gewechselt.
Ich habe dein Leben nicht zerstört und kann mein 14 Jähriges Ich nicht dafür bestrafen, dass sie nicht wusste, wie sie mit alldem fertig wird, und damit mein eigenes Leben vernachlässigen.
Ich wollte nicht mehr alleine in meinem Zimmer deswegen weinen. Und ich mache es auch nicht mehr.

Ich denke und hoffe, dass wir gegenseitig eine Etappe im Leben des anderen waren und beide unser Glück finden.

Vor allem du hast es verdient.

Auf Wiedersehen und -lächeln.

[Was du hier gelesen hast, war das, worüber ich ewig nicht reden konnte und wollte, weswegen ich ein halbes Jahr nach der eigentlichen Trennung immer noch weinend in meinem Zimmer saß und von meiner Mama getröstet wurde.
Ich habe Briefe geschrieben. Wenn dir etwas auf dem Herzen liegt, kannst du es logischerweise nicht allen erzählen, oft auch keinem. Aber vielleicht ist es eine Möglichkeit für dich, Briefe zu schreiben, einfach ungefiltert alles rauslassen, nur du und ein Stift und Papier - du musst es nicht mit der Welt teilen.
Ich habe den letzten Schritt dieser "Briefetherapie" noch vor mir: Ich werde sie verbrennen und dabei zusehen, wie die schlechten Gefühle sich in Luft auflösen.
Ich hoffe es hilft dir.

Und ich hoffe, du verurteilst keinen Menschen, der manchen Leuten sehr weh tut. So habe ich mich selbst verurteilt und auch wenn es scheinen sollte, als wäre die Welt in Ordnung, weil ich ja gar nicht wirklich betroffen bin - Doch, bin ich. War ich.
Dieser Brief hier beinhaltet das, was mich in den letzten Jahren am meisten verändert hat - und ein riesiges Danke an meine Queenie, die mir ungemein geholfen hat, mich selbst zu finden.]

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