Kapitel 21

Lange dreieinhalb Jahre ist es heute her, dass ich in der ersten Lesung meines Studienganges gesessen und erwartungsvoll den Worten meines Professors gelauscht hatte. Vor dreieinhalb Jahren hatte ich auch Caleb kennen gelernt, der einen anderen Studiengang an derselben Uni belegt hatte. Und jetzt? Heute Mittag würde ich meinen Bachelor-Zeugnis entgegennehmen, am Abend mit Nadim, Leona und Kim auf der Abschiedsfeier der angesagtesten Verbindungsgruppe ordentlich auf den Putz hauen und mir den Stress der vergangenen Jahre aus dem Leib tanzen. Youngjun schaffte es leider erst morgen zu mir nach Hause, weswegen er mir heute in aller Früh zerknirscht viel Spaß wünschte und sich mehrmals dafür entschuldigt hatte, nicht dabei sein zu können. Doch ich verstand seine Lage – seine Arbeit ging vor und dieser wollte ich nicht im Wege stehen. Zumindest störte es mich aktuell nicht, den zweiten Platz hinter seiner Arbeit zu beziehen, obwohl ich ihn natürlich dennoch schrecklich vermisste. Youngjun brauchte jemanden, der ihn unterstützte in dem, was er tat und wenn die Unterstützung unter anderem darin bestand, Verständnis für ihn und seine Karriere aufzubringen, dann wollte ich ihm hiermit zeigen, dass er mir wirklich wichtig und ich für ihn da war.

Um 09:00 Uhr war ich aufgestanden und hatte mir meine Robe zur Abschlusszeremonie über T-Shirt und Jeans gestreift. Wir nahmen mein Auto und fuhren damit zur Uni. Davor, jedoch, suchten wir uns noch unsere Utensilien und Outfits für den Abend heraus und packten sie in eine Sporttasche. Denn nach der Zeremonie würden wir uns bei Leona für die Party fertig machen.

Auf dem Weg zur Uni sammelten wir Nadim und Leona ein. „Wow, Leute, heute ist es so weit!", jauchzte Leona freudestrahlend. „Die jahrelange Tyrannei von Professor von Hohenlau findet heute ihr dramatisches Ende!" Nadim und ich lachten. „Heute Abend werde ich so hart abfeiern, wie noch nie in meinem Leben!", jubelte sie jedoch unbeirrt weiter und gab sich mit Kim auf dem Rücksitz einen High Five. Ich lächelte und blickte nach vorne auf die Straße. Am Straßenrand wurden die Bäume langsam endlich wieder grün.


Sechs Monate hatte es nun gedauert, eine Beziehung zu abzuschließen, neues Glück zu finden und mir dieses Glück auch zuzugestehen. Ich traute mich endlich, mir zu erlauben, auf eine Zeit voll Euphorie und Spannung zu blicken und begrüßte die Freude darüber mit meinem ganzen Dasein. Meine alten Beziehungswunden waren zumindest größtenteils verheilt und ich hatte einen wunderbaren Menschen kennengelernt, der mir das Gefühl gab, das umwerfendste Mädchen der Welt zu sein und war jemand, bei dem ich mich sicher und geborgen fühlte. Ab jetzt ging es nur noch Berg auf!


Am frühen Nachmittag nahm ich schließlich meinen Abschluss entgegen und lächelte ein letztes Mal für das Jahrbuch in die Kamera. Dann warf ich mit meinen Freunden den Abschlusshut in die Luft. Meine Uni-Zeit war endlich vorbei!

Gegen 16:30 Uhr hockten wir bei Leona im Wohnzimmer und stylten uns gegenseitig. Ich sprang bei ihr noch einmal unter die Dusche, bevor ich mir meine Sachen zum Feiern anzog. Ich hatte mir ein schwarzes Top eingepackt, dessen Kragen relativ dicht am Hals lag, dafür aber großzügig die Schultern aussparte und meine breiten Schultern gut betonte. Dazu zog ich eine Azurblaue Jeans an, die sich angenehm eng an meinen Beinen entlang schmiegte und die Rundungen meiner Beinmuskeln und meines Po's gut hervorhob. Ich liebte diese Kombi! 

Weiter ließ ich mich dann von Kim mit dezenten Farben schminken, zog selbständig einen dünnen Lidstrich über die Augenlider und gab meinen blassen Lippen mit meiner Blackberry-Lippenpflege einen schönen rötlichen Schimmer. Leona kringelte meine Haare mit dem Lockenstab zu wilden Löckchen, die bei jedem Schritt auf und ab wippten. Im Gegenzug flocht ich ihr ihre Haare zu zwei französischen Zöpfen und trug Kim Make-up auf. Gestylt und fertig für die Party, schossen wir drei ein Selfie von uns. Dann schoss ich noch ein weiteres Selfie und schickte es an Youngjun mit den Worten: „Es kann losgehen!" Morgen wäre er endlich wieder hier. Doch ein bisschen war ich nun doch traurig, dass er heute nicht sein konnte. Aber was sollte man machen? So war es eben.


Es war 20:12Uhr, als wir drei das Verbindungshaus erreichten. Es war bereits dunkel und von drinnen konnte man bunt wechselndes Licht erkennen und die Bässe der Musik bis zu uns hinüber am Gartenzaun dröhnen hören. Kichernd liefen wir durch den kleinen Vorgarten und klingelten – hoffend, dass man das Klingeln drin überhaupt hören würde. Ein junger Mann – ich glaube, sein Name war Arne – öffnete uns grinsend die Tür. In seiner Hand hielt er einen von diesen roten Plastikbechern, wie man sie immer in amerikanischen Filmen oder Serien sah. „Hi Mädels! Willkommen in der Casa de Party!", rief er, offensichtlich schon etwas angeheitert und umarmte uns alle lachend zur Begrüßung. Wir traten ein und hinter mir schloss sich die Tür wieder.

Dieses Haus war voll. Erst heute Abend wurde mir der Umfang unseres Studienjahrgangs so richtig bewusst. Die Leute lachten und tanzten ausgelassen im Wohnzimmer. Ein Pärchen saß knutschend auf der Treppe, die nach oben in die Schlafzimmer führte und aus der Küche liefen uns Partygäste mit wild durcheinandergemixten alkoholischen Getränken entgegen. Leona splittete sich zuerst von unserer Gruppe ab – sie wollte noch eine Freundin in dem Gemenge wiederfinden. Kim und ich liefen zur Küche, wo uns direkt ein Becher mit einem Mix aus Vodka und Fruchtsaft in die Hand gedrückt wurde. Es schmeckte eigentlich ganz lecker, wie ich feststellte. Das Zeug ließ sich mal eben locker wegschlürfen. Dann kämpften Kim und ich uns einen Weg ins Wohnzimmer vor. Für einen kurzen Augenblick entdeckte ich Caleb, doch er machte mir mittlerweile keine Angst mehr. Seit jenem Abend vor Sylvester, hatte er scheinbar endlich akzeptiert, dass es aus zwischen uns war und hat seitdem nicht mehr mit mir gesprochen. Vielleicht hatte die Anzeige doch Wirkung gezeigt und ihn zur Besinnung gebracht? Ich war jedenfalls froh über die jetzige Wendung! Dadurch konnte ich endlich weitermachen und vorankommen – zumindest fühlte es sich so an.

Kim und ich stießen mit ein paar Leuten aus meinem Studiengang auf den Abschluss an und der Abend begann heiter und ausgelassen. Zwischendurch checkte ich einmal kurz mein Handy. Youngjun hatte auf mein Bild und die Nachricht dazu geantwortet. „Zieh das morgen an und ich explodiere...O.O!" Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, was er damit meinte. Doch als mir der Sinn aufging, grinste ich von einem Ohr zum anderen und schickte ihm einen Zunge herausstreckenden Smiley zurück.

Der Abend schritt voran und mit ihm der Alkoholpegel der Partygäste – einschließlich meiner Wenigkeit. Ausgelassen tanzte ich mit meinen Kommilitonen im Wohnzimmer zu den verschiedensten Liedern aus den 2010ern und spürte meinen Puls wild durch meine Venen pumpen. Den dabei aufkommenden Durst kippte ich dabei immer wieder mit der Mische aus Vodka und Fruchtsaft die Kehle hinunter und spürte, wie der Alkohol mich angenehm einlullte.

Als ich dann irgendwann an der Schlange im Bad anstand und unruhig auf der Stelle herumtrat, öffnete sich plötzlich eine Schafzimmertür den Flur herunter und ein betrunkenes Pärchen trat lachend heraus. Händchenhaltend liefen sie an mir vorbei und ich seufzte schwer. Wie sehr ich mir in diesem Moment wünschte, Youngjun wäre hier...

„Hey", unterbrach eine männliche Stimme hinter mir meine Gedanken und ich drehte mich um. Es war Caleb. Nur für eine Millisekunde durchzuckte mich ein Schock, dann verschränkte ich die Arme vor der Brust. „Hi, was willst du?" „Mich entschuldigen", sprach er ernst, obwohl auch er deutlich erkennbar etwas getrunken hatte. Verwundert über seine Aussage sah ich ihn an und ließ dabei unbeabsichtigt meine Habachthaltung sinken. „Wie bitte?" „Es tut mir leid Nayla. Es tut mir wirklich leid, wie ich dich damals behandelt habe. Ich sehe nun ein, dass ich früher ein riesen Arschloch war...bitte verzeih mir"

...Ich glaubte zu halluzinieren. Was das der gleiche Caleb wie damals? „Ich weiß, es gibt keine Worte der Welt, die das entschuldigen können, was ich dir zugemutet habe... aber meinst du, du könntest mir irgendwann verzeihen?", sprach er weiter, wobei sich ein flehender Unterton in seine Stimme mischte. Schweigend wartete ich immer noch voller Skepsis auf die Pointe seiner Worte, doch sie kam nicht. Er schien es wirklich aufrichtig zu meinen. „Vielleicht...eines Tages irgendwann einmal. Danke", entgegnete ich also knapp und drehte mich dann wieder nach vorne. Die Badezimmertür ging auf und ich verlor keine Zeit. Schnell schloss ich mich im Bad ein und machte mich wieder frisch. Anschließend suchte ich mir wieder meinen Weg in die Küche für einen weiteren Drink.

Oje – dachte ich gerade bei mir, als ich mit meinem nächsten Getränk in der Hand mit den Anderen im Wohnzimmer tanzte – mein Kopf wird es mir morgen nicht danken, durcheinander getrunken zu haben. Vielleicht sollte ich mir noch ein isotonisches Getränk vor dem Schlafengehen reinzimmern? Ja, das war sicherlich eine gute Idee!

Ich drehte mich tanzend um und stieß dabei versehentlich gegen jemandes Rücken und verschüttete etwas von meinem Getränk auf meine Unterarme. Der Jemand drehte sich um und ich erkannte Calebs überraschtes Gesicht – come on, nicht schon wieder! Wie klein war dieses Haus bitte?! „Sorry!", schrie ich ihn über die laute Musik hinweg an und er winkte beschwichtigend ab. „Alles gut" 

Mist, nun klebte meine Haut. „Ich geh mir mal kurz die Hände waschen" „Soll ich deinen Becher solange halten?", fragte er und sah mich abwartend an. Verblüfft betrachtete ich ihn einen kleinen Moment. „Öhm, pff... ja okay, danke" „Nicht dafür", winkte er sogleich ab und nahm meinen Becher. „Ich bin gleich wieder da!", rief ich ihm entgegen. „Geht klar, ich warte hier auf dich" Die Situation fühlte sich mehr als merkwürdig an – beinahe so wie damals, als wir noch zusammen gewesen waren. Wollte er jetzt mit der freundlichen Schiene bei mir punkten oder wirklich gut machen, was geschehen war?

Ich wusch mir in der Küche die Hände, suchte dann meinen Weg zurück zu ihm und tippte ihm von hinten auf die Schulter. Er drehte sich um und lächelte schüchtern, als er mich sah. „Da bin ich wieder!", rief ich und er reichte mir meinen Becher. „Willkommen zurück! Du hast Get low verpasst!" Wir stießen an und begannen – jeder für sich – weiter mit den Leuten um uns herum zu tanzen.

Als die Musik langsamer wurde und sich immer mehr Pärchen um mich herum bildeten, um Stehblues zu tanzen, spürte ich zum zweiten Mal an diesem Abend, wie sehr mir Youngjun fehlte. So gerne hätte ich ihn, wie die anderen auch, auf der Tanzfläche fest in meine Arme geschlossen und mich in seinen unendlich schönen Augen verloren. Doch er war nicht hier und schon waren mein betrunkenes und Tanzpartner vermissendes Ich zwischen Trauer und Trotz hin und hergerissen. Ich kippte den Rest meines Bechers die Kehle hinunter. Erst dann bemerkte ich, dass mir mittlerweile etwas schwindelig war und verfluchte es, den halben Becher geext zu haben. Rasch machte ich mich von der Tanzfläche rar. Ich hatte plötzlich keine Lust mehr zu tanzen... ich wollte nach Hause! 

Da ich jedoch weder Kim, noch Leona in der Menge ausfindig machen konnte, schrieb ich prompt an beide eine WhatsApp-Nachricht, dass ich mich nun auf den Weg nach Hause machen würde, um dort meinen Rausch auszuschlafen. Ich schickte die Nachricht ab und wankte in Richtung Flur durch die Leute.


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