An jenem Morgen war ich emotional geplättet nach Hause gekommen und hatte mich müde ins Bett geworfen, um ein wenig Schlaf nachzuholen. Den Anhänger meiner Kette in meine Hand eingeschlossen, war ich schnell eingeschlafen. Nachdem ich dann am Nachmittag wieder aufgewacht war, lief ich durch meine Wohnung, die mir ohne Youngjun allerdings plötzlich ziemlich leer vorkam. Ich vermisste ihn schrecklich. Kurzerhand beschloss ich Nadim anzurufen – vielleicht hatte er spontan Zeit.

Er nahm nach dem dritten Klingeln ab. „Hi Ny, was gibt's?" Offenbar war er gerade unterwegs, denn im Hintergrund hörte ich Menschen und Straßenlärm. „Hey... ich wollte fragen, ob du spontan Zeit für nen Kaffee hättest?" „Klar...bei C-Beans?" „Ja, gerne" „In Ordnung, ich könnte es zu 16:30 Uhr ca. dahin schaffen und du?" Ich blickte auf die Uhr. Noch eine Dreiviertelstunde bis dahin. „Ja, das schaffe ich" „Cool, dann bis bald", verabschiedete er sich. „Bis bald" Ich legte auf und begann mich anzuziehen. Ungefähr 10 Minuten später verließ ich die Wohnung.

Als ich das Café erreichte, saß Nadim bereits mit einer Vanilla-Latte und einem Americano an unserem Stammplatz am Fenster. Schnell lief ich zu ihm und ließ mich in den Sessel plumpsen. „Frohes Neues, Ny", grüßte er. „Frohes Neues, Nad", entgegnete ich, als ich mich aus meiner Jacke schälte. „Ist etwas passiert?", erkundigte er sich. „Ich habe Youngjun geküsst", antwortete ich und fühlte mich plötzlich wieder wie in der Oberschulzeit. „Waaaas?", rief Nadim mit hoher Stimme und fächelte sich theatralisch Luft zu. „Ja...er hat ein paar Nächte bei mir übernachtet" „Moment, er war auch über Nacht bei dir? Uuuuh..." Sofort stützte er sich auf seine Ellenbogen und musterte mich aufmerksam. „Aber ihr habt es nicht getan, oder?" „Nein!", erwiderte ich schnell und spürte, wie mir bei der Erinnerung an den ersten Morgen, die Röte ins Gesicht schoss. Gespannt rutschte Nadim auf der Sesselkante hin und her. „Darling, erzähl mir alles!"

Nicht, dass Nadim schon vorher ein Fan von Youngjun gewesen wäre, doch nach meinen Berichten der letzten Tage und auch Monate war Nadim nun Feuer und Flamme. Er shippte Youngjun's und meinen Namen zu Nayjun – eine seiner Macken. Doch genau für diesen süßen Charakterzug liebte ich Nadim unter anderen auch wie einen Bruder. Wir verbrachten den Nachmittag noch bis in den frühen Abend in dem Café und tauschten uns zu unterschiedlichen Themen weiter aus. Eines stand allerdings fest: Nadim brannte darauf, Youngjun kennenzulernen.

Als ich am späteren Abend zurück in die dunkle Wohnung kam, hatte ich den Laptop in meinem Zimmer angeschmissen und das erste Mal nach E4U gegoogelt. Direkt wurden mir erste Ergebnisse auf YouTube vorgeschlagen – It hurts, My Sunshine und STCO (Shoulder to cry on) waren dabei nur die ersten drei von vielen Songs, die mir sofort ins Auge sprangen. Zu dem Musikvideo des Songs It hurts gab es viele Kommentare – der Großteil auf Koreanisch, welche ich nicht verstand, doch es gab auch ein paar auf Englisch. Der Song war am 22.11.2020 veröffentlicht worden und ihr jüngster Song. Er hatte 125.000 Aufrufe und 10.000 Likes. Neugierig startete ich das Video. 

Die Melodie, mit der der Song begann, klang euphorisch und melancholisch zugleich. Direkt erkannte ich Youngjun's Stimme, noch bevor ihn die Kamera zeigte. Während sie weiterhin auf ihn gerichtet blieb, blitzten zwischendurch andere Bilder wie Erinnerungsfetzen auf, in denen ein Mädchen mit schwarzen Haaren in einer Bibliothek saß und zeichnete. 

...Konnte es sein...? Gespannt verfolgte ich das Video weiter. 

Jetzt setzte auch der Gesang eines weiteren Mitglieds von E4U ein. Seine Stimme war heller und ging mir durch und durch. Die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf, als er die ganz hohen Töne sang und Youngjun sich im gleichen Moment im Video dem Mädchen näherte, welches aus irgendeinem Grund traurig zu sein schien. Er streckte die Hand nach ihr aus und nach kurzem Zögern ergriff sie sie. Youngjun's Stimme beendete tief mit der anderen Stimme seines Bandkollegen den ersten Vers und seine Lippen verzogen sich zu diesem süßen Grübchen-Lächeln, dass ich so in mein Herz geschlossen hatte.

Dann setzte der Refrain ein und mit ihm begann eine Reihe an Bildern, die wieder Erinnerungsfetzten glichen, zogen vor meinen Augen vorbei. Sie zeigten immer wieder das Mädchen, das nun von den Mitgliedern an unterschiedlichen Orten und Situationen vor sich hin grübelnd, von ihnen gefunden und eingeladen wurde, mit ihnen zu kommen. Immer wieder reichten ihr die Member in den verschiedenen Szenen die Hand während die Melodie ihre Stimmen sanft und harmonisch begleitete. Am Ende des Videos landete die Kamera wieder bei Youngjun und dem Mädchen. Sie standen sich gegenüber und sie strich sich verlegen eine Haarsträhne hinters Ohr – eine Gestik, die mir nur allzu bekannt war. Die Musik schwoll ab und verklang leise im Hintergrund, während Youngjun's Stimme zu der Szene die letzten Phrasen des Songs mit seiner dunklen Stimme sang. Im Close-Up sah man seine dargebotene Hand, in die sich nun die Frauenhand schmiegte. Die Kamera zoomte raus und man sah beide, den Rücken zur Kamera gewandt, Hand in Hand in den Sonnenuntergang gehen. Das Bild wurde schwarz.

Sofort – und mit Tränen der Rührung in den Augen – begann ich, die Lyrics des Textes auf Englisch herauszusuchen. Nachdem ich mir den Text durchgelesen hatte, zögerte ich keine Sekunde lang und griff zu meinem Handy und schrieb Youngjun auf KakaoTalk an. Meine Vermutungen darüber, dass der Song von unserer ersten Begegnung handelte, waren bestätigt. Wäre Youngjun in diesem Moment bei mir gewesen, ich hätte ihn in meine Arme geschlossen und nie wieder losgelassen.

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Der Januar kam schwerfällig in Gang. Ich wusste nicht, warum, doch Januar und Februar fühlten sich immer so an, als würde das Jahr erst Anlauf nehmen, um dann die restlichen Monate durchzurennen. Kim kam  am 08.01.21 von ihren Eltern zurück. Auch sie brannte darauf, Youngjun offiziell kennen zu lernen, nachdem ich ihr von allen Geschehnissen erzählt hatte. In der Woche darauf, nahmen die Mädels und ich auch wieder unser reguläres Training auf. Wir hatten alle Tänze für die Championships vorbereitet und übten fleißig an unserer Perfektion der Synchronisation. In der nächsten Woche dann, gab ich meine Thesis ab und hatte von da an mein Studium quasi geschafft. Ich musste nur noch die Thesis bestehen und dann hätte ich endlich meinen lang ersehnten Abschluss in der Tasche. Ich begann außerdem damit, die Vorbereitungen für ein Leben in Seoul vorzubereiten. Ich hatte mich nun final entschlossen, nach den Championships ein Jahr dort zu bleiben – ich brannte darauf, die Stadt und das Land für mich zu entdecken. Meine Familie stand der Idee mit gemischten Gefühlen gegenüber, doch nur Livi wusste bislang von Youngjun und war somit leichter wieder zu beruhigen, als meine Eltern.

Was jedoch auch noch wichtig war, war die Suche nach einer befristeten Stelle bis Ende September hin. Ich suchte nach Aushilfsstellen bei verschiedenen Verlagen und Redaktionen und nahm mir vor, innerhalb der nächsten Wochen Bewerbungen an all die verschiedenen Adressen rauszuschicken. Irgendetwas würde sich schon für mich finden... und wenn ich notfalls weiterhin in der Bibliothek jobben sollte.

Ehe ich mich versah wurde es bald Februar und der Schnee begann wieder zu schmelzen. Am Freitag, dem 12.02.21 traten Kim, Nadim, Leona und ich über unsere Haustürschwelle, vollbepackt mit Knabberzeug und Getränken für den Abend. Wir alberten und spaßten rum, denn wir freuten uns auf unser Valentins-Weekend Ritual, dass jedes Jahr feierlich mit einem ausgewachsenem Twilight-Marathon eingeläutet wurde.

Obwohl ich die Bücher lieber als die Filme mochte, fühlte ich mich dennoch jedes Mal, wenn ich die Filme sah, in mein 14-Jähriges Ich in der Oberschule zurückversetzt – eine Welt, in der alles aufregend und neu gewesen war. Tatsächlich war ich damals für den ersten Teil der Saga mit einer Freundin zusammen ins Kino gegangen und das auch noch obwohl ich fast nicht richtig geradestehen konnte. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt einen viralen Infekt ausgebrütet. War alles andere als angenehm. Am nächsten Morgen hatte ich mit Fieber im Gästebett gelegen und wollte nur noch schlafen und sterben. Aber den Film dafür gesehen zu haben... das war es mir wert gewesen.

Es wurde ein Abend, an dem viel gelacht wurde. Wir witzelten über Kirsten Stewards schauspielerische Leistung und genossen das Beisammensein im Wohnzimmer. Gegen 01:00 Uhr morgens waren wir mit dem letzten Teil durch und Kim und ich verabschiedeten Leona und Nadim an der Haustür. Nadim wies mich natürlich nochmal darauf hin, dass ich Youngjun bei der nächsten Gelegenheit zur Abschlussparty Ende März einladen solle. Ich versprach ihm nachzufragen. Ich wusste, dass Youngjun plante, uns bald wieder zu besuchen, es stand jedoch noch in den Sternen, wann dieses bald sein sollte.