Kapitel 10
Außer Atem erreichte ich die Halle und zog mich rasch in der Frauenumkleide um. Juli und ich trainierten heute nur für uns, weswegen die Kabine bis auf ihre und meine Alltagssachen sonst leer war. Ich schlüpfte rasch in meine Trainingsschuhe, die man in unserem Fachjargon auch Japaner nannte, schnappte meine Stäbe und ging in die Halle.
Juli übte gerade Ihr Solo, als ich die Halle betrat. Nightmare von Beyoncé spielte aus dem Ghettoblaster bei den hölzernen Sportbänken und das Quietschen von Julis Schuhen auf dem Hallenboden als sie sich drehte, während sich ihr Stab in der Luft befand, drang zu mir durch die Halle. Sie stoppte ab der Stelle, wo sie ihre Choreo noch nicht weiter geplant hatte und winkte mir dann begrüßend zu. „Hi du!" Verlegen winkte ich zurück. „Hi du!" Sie warf den Stab in meine Richtung in die Luft, schlug ein Rad und fing den Stab wieder auf. Dann stand sie vor mir. „Zeit für unser Duo?" Ich nickte. „Wir können direkt loslegen. Mein Warm-up hatte ich schon auf dem Weg hierher." Sie lachte und warf dabei den Kopf in den Nacken. Dann schritt sie zum Ghettoblaster. „Na dann wollen wir mal..."
Wir tanzten volle 2 Stunden. Dabei übten wir sowohl unsere Einzeltänze, als auch unser Duo. Es machte mir immer so viel Spaß mit Juli zu trainieren. Bei ihrer freundlichen Art konnte man nicht anders, als sich wohl zu fühlen. Vor ihr musste einem auch nichts peinlich sein. Sie verurteilte niemanden und ging immer unvoreingenommen an fremde Personen heran – das war einer der Punkte, die ich an ihr bewunderte. Gemeinsam feilten wir weiter unsere Choreographie aus und setzten uns dabei neue Herausforderungen zu Figuren, die wir einweben wollten.
Als wir mit dem Training durch waren, schalteten wir in der Halle das Licht aus und gingen in die Mädchenduschen. Danach standen wir in der Umkleide und zogen uns um. „Wir haben heute echt Fortschritte gemacht, findest du nicht?", fragte Juli, die sich gerade ihren Pullover über den Kopf gezogen hatte. „Ja voll!", stimmte ich zu. „Ich meine, wir sind fast fertig mit der Choreographie und auch bei den Solos sind wir gut weitergekommen. Ich freu mich schon so darauf, dich bei den Championships tanzen zu sehen" Gerührt legte Juli sich eine flache Hand an die Brust. „Ahw, dankeschön. Ich bin auch schon sehr gespannt darauf, dich tanzen zu sehen! Wollen wir unsere Kostüme eigentlich wieder bei Sports & more bestellen?" Sports & more war – wie der Name schon sagte – ein Geschäft, in dem alle möglichen Sportartikel oder Accessoires angeboten wurden. Hier hatten Juli und ich für unsere letzte Meisterschaft bereits Kostüme gekauft und waren mit dem Service und der Qualität für die Preise sehr zufrieden gewesen. Für unser Duo wollten wir dieselben Kostüme, wie im letzten Jahr verwenden – für unsere Solos, sollten neue her.
Gut gelaunt und herumblödelnd verließen wir die Halle, schlossen ab und liefen zum Hausmeisterbüro, wo wir den Schlüssel in dessen Briefkasten warfen. Als wir dann vor das Gelände traten, erwartete mich eine Überraschung.
Caleb stand an seinen Wagen gelehnt auf der anderen Straßenseite und stieß sich lässig ab, als er uns herauskommen sah. „Was macht der denn hier?", raunte Juli mir argwöhnisch zu und ich unterdrückte genervt den Drang, mit den Augen zu rollen. „Er kann mich nicht gehen lassen" „Soll ich dich vielleicht mitneh-..." „Hallo Ladies", grüßte Caleb, während er auf mich zu schlenderte und die Arme wie für eine Umarmung ausbreitete. „Caleb, lass den Scheiß!", entgegnete ich und rückte etwas näher an Juli, die sofort meine Hand griff. Mein Puls beschleunigte sich, als Adrenalin begann, durch meine Adern zu pumpen. „Hey, hey, hey, kein Grund gleich so angepisst zu sein", säuselte er. „Oh doch, ich denke schon", erwiderte ich kühl. „Immerhin lauerst du mir ständig irgendwo auf und glaub mir, das ist alles andere, als in Ordnung für mich" „Auflauern? Ich?!", er schnaubte lachend und schüttelte ungläubig den Kopf. „Du weißt doch nicht einmal, was auflauern bedeutet, Nay" Er trat einen weiteren Schritt auf mich zu und ich wich noch ein Stück näher an Juli heran – unsere Oberarme berührten sich nun. Sie harkte sich direkt bei mir ein. „Caleb lass mich in Ruhe" „Damit du mit deiner neuen Flamme weiter anbändeln kannst?" ...was?! Verwirrt runzelte ich die Stirn. „Was meinst du?" „Pff, bitte Nayla...du kannst mir nichts vormachen. Du und dieser Asiate da..." Hatte Caleb mir nachspioniert? Wusste er von vorhin oder bluffte er nur? „Sag mal spinnst du jetzt total?! Was ich mache, geht dich schon lange nichts mehr an. Es ist aus! Aus – verstehst du das?! Fahr nach Hause, ich will nichts von dir wissen" Julis Auto piepste, als sie die Zentralverriegelung mit ihrem Funkschlüssel entsperrte. „Nayla, wenn du jetzt gehst, dann sehe ich mich gezwungen ein Bild von dir zu posten!" ... Ein Bild von mir? Ich drehte mich noch einmal um. „Ohne meine Erlaubnis, bist du nicht befugt irgendetwas von mir zu posten" „Dann kann ich es immer noch meinen Freunden zeigen und glaube mir, wenn ich sage, sie werden es heiß finden" Seine Worte riefen Ekel in mir hervor und mein Magen zog sich unangenehm zusammen. Wie konnte ich nur jemals mit diesem Typen zusammen gewesen sein?! „Komm Nayla", schwebte Julis warme Stimme zu mir und ich öffnete die Tür der Beifahrerseite. „Nein, Nayla warte! Ich - ..." Calebs Stimme brach ab, als ich die Beifahrertür zuschlug. Sofort startete Juli den Motor und fuhr los. Im Seitenspiegel sah ich Caleb auf der Straße – fluchend und nach kleinen Kieseln tretend. „Er hat doch nur geblufft...oder?", fragte Juli unsicher und ich blickte wieder besorgt nach vorne. „Das hoffe ich Juli...das hoffe ich..."
10 Minuten später, setzte Juli mich am Weg zu meiner Haustür ab und wünschte mir bis zum nächsten Training in zwei Tagen, viel Glück. Nachdem ich ausgestiegen war, winkte ich ihr noch einen Moment und lief dann zur Haustür. Erschöpft erklomm ich die Treppen in den zweiten Stock und schloss die Tür auf. Drin empfing mich Wärme und Licht drang aus dem Wohnzimmer. „Kim?", rief ich den Flur runter und ein paar Sekunden später erschien sie. „Hi Nayla!" Ich warf den Schlüssel in die Schale an der Tür und schlüpfte aus meinen Schuhen. „Boah Kim, ich muss dir erzählen, was mir heute passiert ist. Du wirst mir nicht glauben..." „Redest du von der Tatsache, dass du dein Portemonnaie verloren hast?" „Was?!" Irritiert machte ich das große Licht im Flur an und begann in meiner Tasche zu wühlen. Fuck, ich hatte es tatsächlich verloren! Aber woher sollte Kim das wissen? Beunruhigt sah ich von meiner Tasche auf und sah Kim nun mit selbstsicher verschränkten Armen an der Tür zu ihrem Zimmer lehnen und mich anlächeln. „Wir haben Besuch von Jemandem, der es gefunden hat" Verwirrt verzog ich das Gesicht. „Wir haben?", äffte ich nach. Kim gab einen bestätigenden Laut und kurz darauf trat Youngjun hinter ihr aus dem Wohnzimmer. Ach du liebe Güte! „Hi, Nayla", grüßte er und winkte zaghaft. Vor Schreck ließ ich meine offene Tasche fallen, deren Inhalt sich kurz darauf auf dem Boden verteilte. Na super. „Scheiße", zischte ich und bückte mich.
Während ich mit rotglühenden Wangen mein Zeug wieder zusammen kramte, kam Youngjun mir zu Hilfe. Kim stand weiter abwartend und schmunzelnd im Türrahmen ihres Zimmers. „Du warst vorhin so schnell weg, dass ich es dir nicht mehr geben konnte", begann Youngjun erklärend und es klang beinahe zugleich entschuldigend. „...also habe ich deine Adresse über deinen Personalausweis in Erfahrung gebracht und habe mich dann auf den Weg gemacht..."
„Nayla, auch wenn du in Eile warst... das hätte böse enden können", warf Kim im Anschluss ein und sah mich vorwurfsvoll an. Youngjun's Hand und meine berührten sich, als wir beide zeitgleich nach meinem Uniblock griffen. Unsere Augen trafen sich. Synchron erhoben wir uns und schließlich nahm ich ihm – der meine Notizen aufgehoben hatte – den Block ab. „Danke", murmelte ich. „Nicht dafür", entgegnete er und lächelte mich an, woraufhin mein Herz sich diesen Abend erneut vor Aufregung beschleunigte. Hinter Youngjun stieß Kim sich lautlos vom Rahmen ab und grinste mir vielsagend über seine Schulter hinweg zu. Schnell versuchte ich sie zu ignorieren und wandte mich wieder an ihn. „D-doch, finde ich schon", nahm ich den Faden wieder auf und strich mir verlegen eine Strähne hinters Ohr. „Es ist nicht selbstverständlich, dass die Menschen hier so aufmerksam sind"
Hinter Youngjun begann Kim lautlose Worte zu formen und zu gestikulieren. „I-ich würde mich gerne dafür revanchieren, Youngjun" Kim klappte die Kinnlade herunter als sie hörte, dass ich den Namen meines Helden kannte und ihre zu einer lockeren Bommel gebundenen Haare kippten zu einer Seite weg. Nein – ermahnte ich mich – konzentriere dich gefälligst auf ihn.
Nachdem sich Youngjung kurz zu Kim herumgedreht und sie ihm daraufhin zu gegrinst hatte, suchten seine Augen wieder meinen Blick. „Nun...", begann er. „Normalerweise würde ich sagen, dass wir damit quitt sind..." Seine linke Augenbraue hob sich für einen Moment, als er seine nächsten Worte sorgfältig abwog. „...aber..." Abwartend ruhte sein Blick auf mir. „möchtest du vielleicht übernächste Woche mit mir ins Kunstmuseum gehen?"
Verdattert stand ich vor ihm und starrte ihn aus großen Augen an. Mein Herz begann verräterisch zu rasen und meine Ohren begannen zu glühen. Mein Blick glitt über diese schönen Augen mit sanftem, aber wachsamen Blick und den schön geschwungenen Mund, wo er sich gerade auf die verführerisch volle Unterlippe biss. Hinter ihm reckte Kim leise und wortlos einen Daumen nach oben in die Luft und schnitt dabei eine zusagende Grimasse. Ihre Lippen formten ein „Sag ja!" Schnell richtete ich meinen Fokus wieder auf Youngjun. „Äh, ja gerne..." Ein zufriedenes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Cool" Er sah sich noch einmal kurz verloren um und dann wieder zu mir. „Ich habe meine ganzen Termine leider nicht im Kopf. Uhm... kann ich mich bei dir melden?" Still legte Kim theatralisch und lautlos seufzend eine Hand an die Stirn und ich riss mich erneut zusammen. „Klar, kein Problem" Doch als Youngjun sein Handy herausfischte, entsperrte und mir dann abwartend hinhielt, realisierte ich, was ihm dazu noch fehlte, mich zu kontaktieren. Zögerlich und schüchtern nahm ich es entgegen und begann meine Nummer einzutippen. Dann reichte ich es ihm zurück. Er betätigte den grünen Hörer und schon ein paar Sekunden später begann mein Handy zu läuten. Danach verabschiedete ich ihn an der Tür, wünschte ihm einen schönen Abend und einen guten Heimweg.
Keine Sekunde, nachdem ich die Tür geschlossen hatte, stand Kim direkt hinter mir. „Youngjun also?", knallte ihr Stimme laut durch die Stille des Flures. Erschrocken fuhr ich herum „Gott, Kim!" Sie grinste nur breit und verschränkte ihre Hände im Rücken. „Anwesend!" Bei ihrer Anspielung auf Mulan musste ich doch grinsen. Kim legte mir einen Arm um die Schultern und lotste mich ins Wohnzimmer. Nachdem wir uns hingesetzt hatten, drehte sie sich zu mir herum. „Jetzt erzähl mal... Woher kennst du ihn?" „Ich habe ihn erst einmal gesehen...zweimal, wenn man den heutigen Tag mitzählt" Ein wissendes Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Und nun hat er dich geschickt nach deiner Nummer gefragt. Mhmmmm..." „Quatsch Kim, es ist nicht, wie du denkst. Er ist einfach nur ein netter Typ, mit dem ich ganz unverfänglich ins Museum gehen werde. Er hat heute meine Zeichnung gesehen, vielleicht kam er deswegen darauf..." Gott... war das wirklich alles erst heute passiert?
Während ich für den restlichen Abend versuchte, Kim klarzumachen, dass diese Geschehnisse nichts weiter zu bedeuten hatten, sah sie mich immer wieder mit diesem komisch-wissendem Blick an. Es war unheimlich. Ich sah ihr an, dass ihr Kopf bereits damit begann Pläne zu schmieden, mich mit diesem gutaussehenden Koreaner zu verkuppeln, obwohl sie überhaupt nichts von ihm wusste. Ich wusste nicht, ob ich wollte, das sie mit solchen Gedanken spielte. Immerhin hatte ich derzeit genug um die Ohren. Außerdem wurde mir bei dem Gedanken, etwas Neues anzufangen plötzlich ganz übel im Magen. Wenn ich bedachte, was jetzt mit Caleb los war im Vergleich zu dem Caleb, der er am Anfang war, wollte ich eigentlich nie wieder jemanden so nah an mich heranlassen...
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