Kapitel 09

Gegen 14 Uhr saß ich gedankenverloren am Informationsschalter der Bibliothek und zeichnete auf meinem Block herum. Seit ich vorhin den Gedanken an Seoul gehabt hatte, ließ er mich nicht mehr los. Immer wieder versuchte ich mich an meine Zeit dort mit meiner Mum zurück zu erinnern, doch es wollte mir einfach nicht gelingen. Mein Bleistift flog übers Papier und meine Fingerkuppen hatten sich vom Verblenden schon ganz grau gefärbt. Doch als mir plötzlich dunkle mandelförmige Augen über hohen Wangenknochen und runden Wangen vom Blatt entgegensahen, hielt ich inne. Sacht setze meine Bleistiftspitze am linken Mundwinkel an und vertiefte die Schattierung dort ein wenig.

„Bin ich das?", fragte eine dunkle, samtweiche Stimme und ich fuhr erschrocken hoch. Meine Hand griff an mein rasendes Herz und ich öffnete erschrocken den Mund, brachte jedoch keinen Laut heraus. Verblüfft starrte ich den Mann meiner Zeichnung an. 

Youngjuns Lächeln lag warm auf seinen Lippen und erreichte seine Augen. „Entschuldige, ich konnte nicht widerstehen" Beschwichtigend hob er die Hände und bemühte sich, deutlich sichtbar, nicht zu lachen. Schnell versuchte ich meine Fassung wiederzufinden. „Ah...ähm...hmhmm!" Ich räusperte mich. „Ich habe nur nicht damit gerechnet, dir noch einmal zu begegnen. Das ist alles" Sein Blick verriet mir, dass er mir die kleine Lüge nicht abkaufte, doch er beließ es dabei. „Ich hoffe, ich habe dich nicht zu sehr erschreckt" Verlegen knabberte ich auf meiner Unterlippe. „Mich? Ach was, wo denkst du hin?" Jetzt lachte er doch leise. Dann glitt sein Blick zurück zu meiner Hand mit dem Bleistift. „Du zeichnest also gern?" Schnell versuchte ich die Zeichnung von ihm zu verdecken, indem ich das Papier rasch umdrehte und meine Hand darauf ablegte. „Hin und wieder, wenn es meine Zeit erlaubt..." Fragend deutete er auf das Blatt. „Darf ich?"

Zögernd beobachtete ich ihn noch einen Moment. Dann reichte ich es ihm mit klopfendem Herzen und geröteten Wangen über den Informationsschalter. Mit der rechten Hand und einer kleinen Verbeugung nahm er es entgegen. Dann begann er mein Bild zu analysieren. „Du hast offensichtlich ein gutes Gedächtnis...", murmelte er anerkennend. Verlegen und ohne etwas darauf zu erwidern, strich ich mir das Haar hinters Ohr, während er weiter mit ruhigem Blick meine Zeichnung studierte. „Mir gefällt die Art, wie du die Schattierungen und das Lichtspiel eingebracht hast." Mit einem anerkennenden Lächeln gab er mir die Zeichnung zurück. Mit erneut errötenden Wangen steckte ich sie in den Block und verstaute diesen in meinem Rucksack. „Vielen Dank. Freut mich, dass es dir gefällt", erwiderte ich und dachte im gleichen Moment: Freut mich, dass es dir gefällt?! Bitte! Das hast du nicht für ihn gemalt!

„Was führt dich eigentlich wieder hierher?", fragte ich, um schnell vom Thema abzulenken und plötzlich schien er etwas verlegen. Seine Hand fuhr ein paar Mal durch seine Haare und er wich meinem Blick für einen Moment aus. „Nun...würdest du mir glauben, wenn ich sage, ich hätte wieder etwas verloren?" Ich schnaubte belustigt. „Aufs Wort" Er lächelte. Dann zuckte er mit den Schultern und vergrub seine Hände in seinen Jackentaschen – heute trug er eine schwarze Lederjacke mit Schafswolle am Kragen. „Nun, um ehrlich zu sein... ich wollte sehen, wie es dir geht." Verdutzt schwieg ich einen Moment. „Warum?", hakte ich dann verwundert nach und Youngjun blickte verlegen zu Boden. „Ich... ich weiß es auch nicht so ganz. Aber der vorletzte Samstag... der ließ mich irgendwie nicht mehr los. Ich habe gehofft, dass es dem Mädchen, das mir geholfen und mir meine Sachen zurückgegeben hat... gut geht..." 

Während ich ihn, ohne etwas daraufhin zu erwidern, anstarrte, ging es in meinem Kopf nur: Er hat sich gefragt, wie es mir geht? Wohooo, er hat sich gefragt, wie es mir geht?! 

„Naja, schön zu sehen, dass dem so sein zu scheint", sprach er dann und lächelte kurz, was ich stumm erwiderte.

„Du sag mal...", begann ich dann einem Impuls folgend um zu verhindern, dass er womöglich wieder gehen wollte. Seine Augen sahen zu mir herüber, doch seine Mimik verriet nichts. Ich holte kurz Luft und rieb meine Handflächen an meinen Oberschenkeln entlang. „Ich... erinnere ich mich richtig, dass du aus Südkorea kommst? Ich habe mir deinen Ausweis angesehen, bevor ich deine Tasche zu den Fundsachen getan habe...", setzte ich schnell als Erklärung hinterher. In den dunkelbraunen Augen blitzte es für einen kurzen Moment auf. „Jaa...", antwortete er gedehnt mit einem wachsamen Ausdruck in den Augen. Schnell strich ich mir eine Strähne hinters Ohr und warf einen Blick auf die Uhrzeit am Desktoprand. Gleich wäre Feierabend für mich. „Nun...ja... jedenfalls bin ich nächstes Jahr mit meiner Truppe da und mir kam heute der Gedanke, dass ich danach vielleicht noch ein wenig in Seoul bleiben möchte, um noch ein bisschen was zu erleben und zu entdecken. Ich war zwar schonmal da, aber da war ich so klein, dass ich mich nicht mehr so richtig daran erinnern kann" Interesse blitzte in seinen Augen auf. „Weswegen genau bist du denn nächstes Jahr dort und... wann wirst du dort sein?" „Ich tanze Twirling in der Senior-Liga und wir wurden im Oktober 21 zu den Twirl-Baton Championships in Seoul eingeladen" Er schien ahnungslos - was bei der doch relativ unbekannten Sportart schonmal vorkam. „Was ist denn Twirling?" Ich warf einen weiteren Blick auf die Uhrzeit und blickte Youngjun dann direkt an. „Wollen wir ein bisschen spazieren gehen? Dann könnte ich es dir ein wenig erklären. Ich mach jetzt Feierabend" Nachdem er mich einen Moment noch verdutzt angesehen hatte, schulterte er seinen Rucksack, den er bei sich hatte und lächelte. Die Antwort lautete Ja.


Wir schlenderten von der Bibliothek aus in die nahegelegene Shoppingmall, während ich ihm unterschiedliche Dinge erklärte: Was Twirling war, wie lange ich schon tanzte und von den Herausforderungen, die es beim Training zu bewältigen galt. Youngjun hörte aufmerksam zu und stellte hin und wieder kleine Rückfragen. Dann hielt ich meine Neugier nicht mehr aus und begann ihn mit Fragen zu Löchern. Welcher Weg führte ihn hierher, was waren seine Hobbys und wo stand er in seinem beruflichen Werdegang?

„Ich bin in einer Boyband", antwortete er auf die letzte Frage hin frei heraus und ich blieb verdutzt ein paar Schritte hinter ihm zurück, ehe ich mich beeilte, ihn wieder einzuholen. „Du. In einer Boyband... echt jetzt oder verarscht du mich gerade?" „Ich würde es nicht wagen, eine Lady zu verarschen", entgegnete er daraufhin mit einem neckischen Blick und schob seine Hände in die Taschen. Vorsichtig sah ich mich um, um sicherzugehen, dass wir nicht komisch gemustert wurden. Doch die Leute interessierten sich nicht für zwei junge Erwachsene, die entspannt nebeneinander herliefen. „Hm.", entgegnete ich somit, zog die Augenbrauen hoch, schob die Unterlippe für einen kleinen Moment vor und nickte sachlich.  „Und du bist hier einfach so ohne Bodyguard unterwegs?" „Es würde mich aufrichtig erstaunen, wenn mich hier überhaupt jemand wiedererkennen würde", entgegnete er. Ich nickte erneut. „Verstehe."

Wir liefen ein paar Schritte schweigend nebeneinander her. „Habe ich schonmal was von euch gehört?", fragte ich dann und ein belustigtes Schnauben entwich ihm, als er den Kopf schüttelte. „Es würde mich wundern, wenn dem so wäre" „Warum?", fragte ich neugierig und er warf mir einen abschätzenden Seitenblick zu. „Nun zum einen, sind wir gerade erst debütiert..." „...und zum anderen?", fragte ich vorsichtig, weil sein Zögern auf ein unangenehmes Thema hindeutete. „...zum anderen sind wir noch relativ unbekannt und die, die uns kennen... mögen uns in den meisten Fällen nicht sonderlich" „Warum? Seid ihr etwa so schlecht?", fragte ich scherzhaft, doch als ich merkte, dass ich damit einen wunden Punkt traf, verschwand das Grinsen aus meinem Gesicht augenblicklich. „Oh, tut mir leid. Das war sehr unsensibel von mir. Bitte entschuldige" Wir kamen auf einem der freischwebenden Übergänge in der zweiten Etage der Mall zum Stehen und blickten durch die Fensterfront nach draußen – wo es mittlerweile dunkel war. Nachdem er seufzend ausgeatmet hatte, drehte Youngjun sich zu mir um. „Für Newcomer ist es immer schwierig Fuß in der Musikbranche zu fassen, weißt du?" Aufmerksam sah ich ihm in die Augen. „Ich würde zwar nicht behaupten, dass wir schlecht sind, aber es gibt immer Potenzial nach oben, verstehst du?", fragte er dann und ich nickte. Und wie ich das verstand!

Youngjun's Blick schweifte zu den Fenstern. „Es ist schon oftmals sehr frustrierend. Man arbeitet bis spät in die Nacht, schreibt Melodien immer und immer wieder um, damit sie sich besser in den Song einfügen, man trainiert unentwegt die Choreographien und hält Diäten, um den Körper fit zu halten... dabei geht man fast kaputt. Man bedenke noch dem psychischen Druck, dem man dabei standhalten muss und dann..." Er zögerte kurz. „und dann werden die Lieder binnen Sekunden von Publikum und Kritikern zerrissen, man wird mit bereits preisgekrönten Idol-Gruppen in einen Vergleich gestellt, denen man zum derzeitigen Zeitpunkt nicht gerecht werden kann, man wird grundlos beschimpft und diskriminiert und dann beginnt man sich zu fragen: Wofür haben wir uns die Mühe gemacht? Werden wir es überhaupt jemals schaffen? Müssen wir noch mehr tun? Wie können wir noch mehr tun?" Er hielt einen Moment inne. „Wenn es auf diese Fragen keine Antwort gibt, ist das schon sehr demotivierend. Man beginnt sich in eine Art Autopilot zu begeben und funktioniert nur noch mechanisch, versucht jedoch seinen Kopf bei der Gleichung aus dem Spiel zu nehmen. Einigen von uns fällt das leicht... und dann gibt es da aber noch die anderen, die..." Abermals hielt er inne und ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen. Nun drehte er mir seinen Kopf zu. Sein Blick fand meine Augen. „Tut mir leid", sprach er dann zerknirscht. „Ich rede manchmal zu viel. Ich wollte dich nicht mit den Schattenseiten eines angehenden Idols belasten" „Hast du nicht", erwiderte ich sofort und verwundert hob er seine Augenbrauen. Verständnisvoll lächelte ich ihn an. „Ich habe dir gern zugehört. Es ist wichtig, dass man sich auch mal Dinge von der Seele redet" Er lächelte schief, wodurch seine Grübchen zum Vorschein kamen und sah zu Boden. „Danke." Die Art, wie er dieses Wort aussprach, kam von Herzen und gleichzeitig spürte ich, wie mein eigenes Herz kurz stolperte.


Wir verließen die Mall und begannen gerade über den Vorplatz in Richtung Bushaltestelle zu schlendern, als mein Handy plötzlich klingelte. Umständlich und hektisch kramte ich in meiner Tasche danach und als ich es fand, zog ich es heraus und nahm ab. „Hallo?" „Hey Nayla, Süße!", grüßte Juli auf der anderen Leitung. „Ich wollte fragen, wo du bist? Ich bin eben an der Halle angekommen" Erschrocken warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr. „Oh Scheiße! Ist es schon so spät?!" Fragend zog Youngjun die Augenbrauen hoch und ich blickte mit aufgerissenen Augen entschuldigend zurück. Juli seufzte auf dem anderen Ende. „Wie lange bräuchtest du denn hierher?", fragte sie. „Äh... gib mir 15 Minuten, okay?", erwiderte ich mit heller Stimme. „Oki, geht klar! Dann bis gleich" „Bis gleich!", beeilte ich mich zu antworten, legte auf und verstaute mein Handy rasch in meiner Tasche.

„Ist etwas passiert?" Wollte Youngjun wissen. Oh Gott! Beinahe, hätte ich ihn hier wortlos stehen gelassen. Schnell wirbelte ich zu ihm herum. „Oje! Youngjun... es tut mir leid. Ich war heute Abend zum Training verabredet und bin zu spät. Ich habe die Zeit total vergessen. Ich... ich muss los..." Noch immer leicht überrumpelt von meiner plötzlichen Alarmstimmung, dennoch aber verständnisvoll nickend, entgegnete er: „Achso okay. Gut... na dann..." „Auf Wiedersehen Youngjun. Es war schön dich wiederzusehen!", rief ich gehetzt, drehte mich um und lief raschdavon. „Nayla warte! Du hast..." „Es tut mir so leid, Youngjun!", rief ich zurück und machte im Gehen eine Drehung. „Ich muss mich beeilen! Hoffentlich sehen wir uns bald mal wieder!" Bevor ich mich wieder nach vorne drehte, sah ich noch, wie Youngjun regungslos da stand, wo ich ihn stehengelassen hatte und mir verdutzt hinterherblickte. Es tat mir so leid, ihn hier so überstürzt einfach zurückzulassen, doch ich durfte nicht schon wieder Trainingszeit ungenutzt verstreichen lassen. Mit einem bedauernden Gefühl im Magen ließ ich Youngjun hinter mir und setzte meinen Weg zur Halle fort, wo Juli auf mich wartete.


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