Kapitel 08

Sei stark. Du bist doch unser großes Mädchen. Das waren die Worte, mit denen ich aufgewachsen war. Du bist ein Vorbild für deine kleine Schwester, vergiss das nicht. Dementsprechend hatte ich auch immer versucht, rational, vernünftig und schnell erwachsen zu sein. Ich hatte das Gefühl, meine eigenen Probleme stets hinten anstellen zu müssen, weil sie sich weniger wichtig oder unbedeutender als andere angefühlt hatten. Es gab Probleme, die weitaus schlimmer waren als meine eigenen. 

In den vergangenen Jahren begann ich jedoch allmählich, diese Ansicht zu hinterfragen. Diese Einstellung fühlte sich immer falscher an. Klar, ich verfiel immer automatisch in eine fürsorgliche Rolle und Person, an dessen starker Schulter man sich ruhig ausweinen konnte, wenn man mich brauchte und mochte auch das Gefühl, gebraucht zu werden. Doch ich begann zu begreifen, dass meine Probleme auch wichtig waren und man sich am besten um andere Menschen kümmern konnte, wenn man sich selbst zuerst geholfen hatte.

Mich jedoch so einer anderen Person zu öffnen? Das schaffte ich bislang nur bei Kim. Ansonsten kannte ich nur geben, geben und dreimal dürft ihr raten: geben. Nicht einmal bei Caleb hatte ich mich vollständig öffnen können. Wenn ich es doch einmal versuchte, gab er mir das Gefühl, dass ich dadurch nur schwach und – zumindest gefühlt – weniger wert war, als andere Frauen, die sich nicht über ihr Leben beschwerten – was im Übrigen ein weiterer Punkt in unserer Beziehung war, der mich über die Jahre unglücklich gemacht hatte. Die unausgesprochene Anforderung an mich und mein Leben lautete: Ich musste stark sein – für mich und für Andere! Meinen Eltern gegenüber konnte ich mich nicht öffnen – aus Angst, sie würden meine Sorgen entweder genauso negieren, wie Caleb es getan hatte oder aus Angst, dass sie sich dann zu sehr um mich sorgen machen würden – was ich auch nicht wollte. Nach dem Abend, an den ich meine Mutter angerufen und mich von ihr hatte beruhigen lassen, war der Fall eingetreten, dass sie mich noch drei Tage lang sporadisch anrief fragte, ob es mir gut ginge. Danach war alles wieder „beim Alten".


Der Rest der Woche verlief eigentlich wie gewohnt: Ich hechtete zwischen dem Training, der Bibliothek und dem Studium hin und her und fragte mich selbst mehr als einmal, woher ich meine Energie dafür nahm. Vielleicht war es die Flucht vor meinen eigenen Gedanken, wenn ich mit ihnen allein war. 

Doch was wäre ein Leben ohne Drama – Caleb war trotzdem jeden Tag allgegenwärtig und versuchte sein Verhalten vom vergangenen Samstag wieder gut zu machen. Ich war mit meiner Geduld mit ihm allmählich am Ende und reagierte immer häufiger genervt, wenn er sich meldete oder mal wieder vor meiner Haustür auf mich wartete. Über einen Monat ging das nun schon so... sollte ich vielleicht doch mit schlimmeren Konsequenzen drohen?

Ich liebte meine Freunde dafür, dass sie mich durch meinen Alltag begleiteten und schätzte meine Trainingsgruppe, die mit mir zusammen bei unseren abendlichen Trainingseinheiten ihr Bestes gab. Auch das Solo, dass ich mir angefangen hatte auszudenken, nahm langsam Form an. Nach dem Training fiel ich abends nur noch erschöpft ins Bett und schlief direkt ein. 

Und in der Nacht von Sonntag auf Montag... da träumte ich plötzlich das erste Mal von dunklen, mandelförmigen Augen...


Pünktlich um 6 Uhr klingelte mein Wecker... und pünktlich um 06:10 Uhr ein zweites Mal. Gott, ich hasse Montage. Widerwillig die Decke zur Seite schlagend und das Licht einschaltend, stand ich auf. Heute hatte ich von morgens bis mittags Uni, danach meine Schicht in der Bibliothek für ein paar Stunden und auf den Abend ein Extra-Training zusammen mit Juli, wo wir unser Duo und unsere Solos weiter üben wollten. Zunächst prüfte ich, ob meine Tasche für die Uni fertig gepackt war und fügte dann noch meinen Zeichenblock dem Inhalt hinzu. Dann nahm ich mir frische Trainingsklamotten aus dem Schrank, warf sie in meinen Turnbeutel und verließ mit beiden Taschen mein Zimmer.

Kim erwartete mich an der Kücheninsel mit zwei Tassen Kaffee. „Guten Morgen" „Morgen", murmelte ich müde zurück und nahm einen ersten Schluck. Prompt klatschte mir das Coffein in den Kreislauf und ich verzog kurz das Gesicht. „Boah Kim...was ist das bitte für Kaffee?! Der ist ganz schön stark, findest du nicht?" „Stark? Hm, ich habe schon meine dritte Tasse...", sprach sie, als wäre das nichts, drehte sich schulterzuckend zum Küchenschrank um und griff nach der Verpackung. „Eigentlich sind es die gleichen Bohnen wie... upsi", kommentierte sie noch während sie mit dem Rücken zu mir stand. Mit einem schelmischen breiten Grinsen im Gesicht und leicht errötenden Wangen, drehte sie sich zu mir um. Ihre Augen waren leicht zusammengekniffen, der Zeigefinger tippte an ihre Unterlippe. „Ähm... vielleicht sind es doch nicht die gleichen Bohnen wie immer..." Fragend hob ich meine rechte Augenbraue, während ich einen weiteren Schluck nahm. „Ähehe!", stieß sie aus. „Vielleicht waren es doch eher die Espresso-Bohnen...", beendete sie und hielt mir die Packung hin. Augenblicklich spukte ich den Schluck, den ich gerade genippt hatte, zurück in meine Tasse, um ihn nicht in einem Sprühregen in der Küche zu verteilen. Kim lachte hämisch und beugte sich dabei vor. „Bring mich nicht zum Lachen, wenn ich trinke", beschwerte ich mich mit kichernd. „Manno, jetzt muss ich mich nochmal umziehen. Ich habe mich vollgesabbert!" Kim stützte sich unter schallendem Gelächter an der Arbeitsfläche ab, während ich nochmal in mein Zimmer lief, um mir eine neue Bluse anzuziehen.


Abgesehen von Kims morgendlichem Mordversuch an mir, verlief der Vormittag in der Uni ruhig. Ich lauschte meinen Professoren und machte fleißig Notizen – bald waren die Abschlussprüfungen und ich würde meine Mitschriften brauchen, wie die Luft zum Atmen.

Gerade, als ich den Gang entlang zum nächsten Kurs lief, summte mein Handy. Juli hatte mir eine Nachricht geschrieben. „Sie haben den Veranstaltungsort der Championships verraten! Hier Schau mal." Ich folgte dem Link, den sie geschickt hatte und landete auf der Seite des Ausschusses. Tatsächlich, es gab eine Halle: das Jangchung Gym. Ein riesiges Gebäude mit einem abgerundeten Kuppeldach, dass etwa in den 60ern eröffnet worden war. Dennoch wirkte die Architektur, von außen, auf mich sehr modern. Ein Lichtstreifen durchzog im Dunkeln das abgerundete Dach. Wow. Ich war beeindruckt.

Nur schemenhaft erinnerte ich mich an das Auslandsjahr in Seoul. Meine Mutter hatte mich damals mitgenommen, als sie von ihrer Firma aus ein Jahr dorthin geschickt worden war. Ich war zu dieser Zeit sieben und kämpfte mit den Folgen meines Kidnappings. Meine Eltern hatten gehofft, mich mit einer neuen Umgebung und anderen Menschen wieder aufzupäppeln, doch die Narben, die diese Erfahrung in mir hinterlassen hatten, reichten tief.

Während ich durch die Website des Ausschusses scrollte, versuchte ich mich an die Stadt zu erinnern, doch es war alles wie im Nebel. Schade eigentlich. Hm, sollte ich vielleicht noch ein Weilchen nach der Meisterschaft in Korea bleiben? Mein Studium hätte ich bis dahin abgeschlossen und ansparen tat ich bereits, seit ich mit Kim zusammengezogen war. Ich wusste nie, wofür. Doch vielleicht war eine Weile im Ausland nun genau das Richtige, was ich brauchte, um mich wieder auf mich zu konzentrieren. Gedankenverloren lief ich mit dem Strom meiner Kommilitonen zum nächsten Kurs und dachte ernsthaft darüber nach, ob ich diesen Schritt wagen wollte.


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