Kapitel 05
Ein paar Tage später saß ich wieder an meinem Platz in der Bibliothek am Informationsschalter und feilte an meiner Jane Austin Hausarbeit. Heute war wieder ein Tag, an dem der Regen in Sturzbächen vom Himmel fiel und ich wand mich schon innerlich bei dem Gedanken an den Heimweg später. Immerhin war heute Freitag und ich musste morgen nur ein paar Stunden nochmal hier aushelfen. Ich merkte, wie mein Körper sich nach der anstrengenden Woche nach Erholung sehnte.
Heute jedoch freute ich mich auf den Abend. Kim und ich hatten eine alles-muss-raus-Aktion geplant und ich konnte es kaum erwarten, meine Sachen durchzugehen und unnötigen Ballast wegzuwerfen. Ich war heute in kämpferischer Laune und fühlte mich bereit, Sachen, die mich an eine gemeinsame Zeit mit Caleb erinnerten, in eine Kiste zu sperren und in den Keller zu stellen. Noch wusste ich nicht, ob ich es wirklich übers Herz bringen würde, diese Sachen wirklich wegzuschmeißen. Doch eine Kiste im Keller erschien meiner Moral nach vertretbar zu sein.
Gerade, als ich den geschriebenen Absatz auf Rechtschreibung prüfte, hörte ich, wie ein Besucher an den Informationsschalter herantrat. Ich legte meine Hausarbeit beiseite und blickte auf. Es war Caleb. „Hallo Nayla" Er stellte einen Kaffeebecher zwischen uns und schob ihn ein Stück in meine Richtung. „Ich nehme an, du trinkst noch Vanilla-Latte?" Eine Augenbraue hebend blickte ich erst auf den Becher und dann wieder zu ihm. „Ernsthaft jetzt?" Er zuckte die Schultern. „Als kleines Friedensangebot, dachte ich." „Kann ich Ihnen weiterhelfen?", fragte ich leicht energisch und Siezte ihn absichtlich, um andere Menschen in meiner Umgebung auf ihn aufmerksam zu machen. „Ich wollte dir einfach etwas Gutes tun", erwiderte Caleb unbeirrt. „Das hättest du tun können, als wir noch zusammen waren", konterte ich und schüttelte müde den Kopf. „Caleb, ich muss hier arbeiten, würdest du mich also bitte...BITTE in Ruhe lassen?" Er deutete auf meinen Block. „Für mich sieht das nach Uni aus." Mit einem Ruck fuhr ich hoch, griff mir das Tablet und legte es auf dem Buchwagen ab. „Bitte geh einfach und lass mich hier in Ruhe meinen Job machen." Er presste die Lippen aufeinander, sah zu Boden und hob die Augenbrauen. Es wirkte, als atme er tief durch. „Okay", sagte er dann, die Hände in seinen Hosentaschen, drehte sich um und lief in Richtung Ausgang.
Ich atmete lang aus, ehe ich mich von Angie am Informationsschalter ablösen ließ, ihr den Kaffee überließ und meine Runde durch die Bibliothek drehte. Während ich die Buchbestellungen für die Kunden heraussuchte, ging ich nebenbei die Arbeitsplätze, an die man sich bei uns setzen konnte, ab und entsorgte liegengebliebenen Müll. Als ich bei einem der Lesetische an den großen Bogenfenstern auf der zweiten Ebene angekommen war, bemerkte ich in einem Sessel eine herrenlose, schwarze, lederne Bauchtasche. Ich sah mich in den umliegenden Gängen noch um, um sicherzugehen, dass der Besitzer doch noch vielleicht in der Nähe war. Doch keine Seele war so kurz vor Schluss noch zu entdecken. Ich nahm die Bauchtasche und prüfte ihren Inhalt. Ich zog ein Portemonnaie zutage, aus dem ich einen Personalausweis in einer asiatischen Schrift, die ich im ersten Moment nicht wiedererkannte, hervorzog. Zum Glück war der Name jedoch normal für mich lesbar: Park, Youngjun, geboren 08.09.1994. Oh! Südkorea? Interessant... Auf dem Lichtbild erblickte ich das Gesicht des jungen Mannes, der gerade mal ein paar Monate älter als ich war. Sein Haar war etwas länger und fiel ihm leicht in die Stirn. Seine mandelförmigen, scheinbar dunkelbraunen Augen blickten freundlich und professionell in die Kamera. Die Andeutung von Grübchen umspielte links und rechts seine leicht lächelnden Lippen, deren Schwung mich bei näherer Betrachtung einen kurzen Moment innehalten ließ. Seine Wangen ließen sein Gesicht ein wenig rund wirken, doch er sah trotzdem gut aus, wie ich fand.
Ich schob den Ausweis zurück. Dann suchte ich weiter. Oh nein. Er hatte auch sein Handy hier drin. Der Akku war noch bei gut 31%. Der Sperrbildschirm zeigte ein mir unbekanntes Gemälde. Es war jedoch ersichtlich, dass es sich um abstrakte Kunst handelte. Ich schaltete den Bildschirm wieder aus, hörte mit dem Stöbern auf, da ich keine weiteren Anhaltspunkte für Kontaktpersonen fand, nahm die Bauchtasche an mich und arbeitete erst einmal weiter. Als ich fertig war, ging ich zurück zum Informationsschalter, öffnete den Safe mit den Fundsachen, beschriftete einen Zettel mit dem Funddatum, klebte diesen um die Schnalle der Bauchtasche und legte sie dann zu gefundenen Jacken, Schlüsseln, Basecaps und Notizblöcken.
„Ich bin dann jetzt weg", rief ich zu Angie herüber, die in ein paar Metern Entfernung einige Bücher wegsortierte und sie winkte mir zu. „Bis morgen. Hab einen schönen Feierabend." Ich winkte ihr, zog mir den Mantel an und schnappte meinen aquamarinfarbenen Regenschirm mit gold-berandeten, unterschiedlich großen Tupfen. Als ich nach draußen trat, war ich froh, dass ich mich heute für meine schwarzen, eleganten Gummistiefel entschieden hatte. Ich erblickte Pfützen im Licht der Laternen, soweit mein Sichtfeld reichte. Ich schulterte meine Tasche, sah einmal nach links und rechts und lief dann über die erste Straße.
Als ich nach Hause kam, brannten alle Lichter in der Wohnung. „Ich bin da!", rief ich den Flur hinunter. Keine 5 Sekunden später schlitterte Kim schwungvoll aus ihrem Zimmer über das Laminat in den Gang. „Hello, hello, was geht ab?" Ich grinste breit und ließ meine Tasche zu Boden sinken. „Gleich auf jeden Fall eine ganze Menge!" Sie zwinkerte. „Oh Yeah!" „Wollen wir uns Sushi bestellen?" Schlug ich vor, weil ich heute nicht wirklich Lust darauf hatte, in der Küche zu stehen. Kim förderte ihr Handy zutage. „Gute Idee, so machen wir's."
Nachdem wir uns ausgesucht hatten, was wir haben wollten, schickten wir die Bestellung ab und suchten unsere gemeinsame Liste auf Spotify heraus. „Lasset das Misten beginnen", verkündete Kim heroisch und drückte auf Play. Aus der Bluetooth Box begannen die ersten Takte About you now von den Sugababes zu klingen und Kim und ich liefen, mit einem großen Pappkarton bewaffnet, in mein Zimmer.
Wir begannen am Schreibtisch: Schwungvoll warf ich ein Bild von Caleb und mir sowie auch noch einen kleinen Stoffbär mit einem Herz in den Karton. Ich entfernte mit Tesafilm angeklebte Kinokarten von Filmen, in denen ich mit ihm gewesen war, von der Seitenwand des Schreibtisches und warf sie in den Müllkorb. Weiter ging es zum Kallax-Regal. Hier verlor eine Schneekugel mit einem integrierten Foto von Caleb – ein Geburtstagsgeschenk von ihm – ihren Platz zwischen meinen Büchern und weiter verschwand auch der Lippenstift, den Caleb so an mir liebte. Mit einem Gefühl der Erleichterung warf ich ihn in Richtung des Mülleimers, den Kim mir hinhielt und traf – 10 Punkte für Gryffindor! Am Bereich meines Bettes gab es glücklicherweise nichts mehr, dass mich an Caleb erinnerte... also ging es weiter an den Schrank. Hier holte ich mein Tagebuch von letztem Jahr unter meinen T-Shirts hervor, dessen Seiten allesamt mit seinem Namen gefüllt waren. Anschließend landeten ein paar seiner T-Shirts und Boxershorts in der Kiste. Ein Kleid, dass er mir gekauft hatte, damit ich auch „hübsch genug" für die Sylvester Party seines Freundes gewesen war, schmiss ich mit einer solchen Inbrunst von mir, dass ich danach vor Leichtigkeit kicherte.
Wir kamen schneller voran, als ich es für möglich gehalten hätte und ich fühlte mich das erste Mal seit den vergangenen Wochen, als wäre ein schwerer Felsen von meiner Brust genommen worden. Als wir in meinem Zimmer durch waren, fuhren wir in Kims Zimmer fort, bis der Bote mit dem Sushi eintraf. Dann richteten wir die Rollen auf großen, flachen Tellern an und zogen uns ins Wohnzimmer zurück, wo wir uns einen Film einschalteten und den Tag schließlich gemütlich ausklingen ließen.
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