Kapitel 04

Als Nadim um 15:30 Uhr aus seiner Vorlesung kam, beschlossen wir, gemeinsam in unser Lieblingscafé zu fahren und dort unsere Kursnachbereitung abzuarbeiten. Ich bestellte mir eine Vanilla-Latte und einen Blueberry-Muffin, während Nadim sich mit einem Americano und einem Stück Käsekuchen begnügte.

Wir setzten uns an den Tisch vor dem bodentiefen Fenster, durch das man auf das Treiben auf der Straße sehen konnte. Wir schlugen unsere Laptops auf und begannen zu arbeiten. Die Nachmittagssonne fiel golden durch das Fenster in Nadims Rücken und tauchte das Café in eine helle, freundliche Atmosphäre. Um uns herum wurden die anregenden Gespräche zwischen den Besuchern zu einem ruhigen Hintergrundrauschen. Nur hin und wieder wurde es vom leichten Klirren der Löffel auf Porzellan durchbrochen.

Nach anderthalb Stunden wechselte ich schließlich vom Studium zu meinen Choreo-Notizen. Da ich im kommenden Jahr plante, mit meiner Gruppe als Gast bei den Twirl-Baton Championships in Südkorea teilzunehmen, wollte ich der Einladung, die wir erhalten hatten, auch würdig sein. Ich kramte meine Overear-Kopfhörer aus meiner Tasche und suchte in Spotify nach meiner ‚Twirl-List'. Hier hatte ich alle Songs abgespeichert, zu denen wir performen wollten. Ich hatte schon zwei Gruppentänze auf die Beine gestellt, die wir bei unseren Trainingseinheiten immer und immer wieder durchgehen würden, bis jede einzelne Bewegung zum Takt auf den Punkt genau saß. Glücklicherweise stellte nicht nur ich hohe Ansprüche an mich – die gesamte Truppe wollte eine perfekte Performance abliefern. Deshalb gaben wir selbst bei Proben immer 100%. Heute begann ich an meinem Solo zu feilen. Hierfür hatte ich I like me better von Lauv gewählt. Ich liebte diesen Song. Er ließ meine Gefühlslage immer ein Stück zwischen Liebe, Sehnsucht, Melachonie und Frieden hin und her schwanken. Naja...aktuell stimmte er mich eher traurig, doch ich versuchte sie immer dann, wenn ich sie spürte, in den Hintergrund zu drängen.


„Sag mal...", begann Nadim irgendwann und tippte mich, für den Fall, dass ich ihn nicht hörte, auf die Schulter. Ich schob den Kopfhörer von den Ohren. „Hm?" Er deutete auf seine Uhr. „Hast du heute nicht Training?" Verwirrt runzelte ich die Stirn. „Ja schon... aber das fängt doch erst um 18 Uhr an." „Schatz, wir haben es 17:45Uhr", entgegnete er sachlich. „Oh shit!", rief ich, sprang auf und riss bei meinem Schwung fast den Stuhl um. „Oh Gott, oh Gott, oh Gott..." Hektisch warf ich mein Zeug in meine Tasche. „Nadim, wenn ich dich nicht hätte... Dankeschön!" Er lächelte kopfschüttelnd und während ich Hals über Kopf aus dem Café in Richtung Auto raste, rief er mir hinterher: „Ich wünsch dir viel Spaß!"


Eine halbe Stunde zu spät erreichte ich die Turnhalle. Zum Glück hatte ich meine Stäbe sowie auch einen ledernen Turnbeutel mit Trainingsklamotten immer im Auto parat. Die Mädels waren gerade mit dem Warm-Up durch und blickten sich verwundert nach mir um. „Hi Nayla. Wir hatten schon Angst, es ist etwas passiert", sprach Juli und kam mir entgegen als die anderen zu ihren Twirlingstäben griffen und sich für die Stabübungen in der Halle verteilten. Als ich sie erreichte, umarmte ich Juli kurz. „Tut mir leid. Ich war heute nach der Uni im Café und habe die Zeit komplett vergessen." Juli lächelte verständnisvoll. „Ich habe an meinem Solo gearbeitet", erklärte ich weiter und Juli riss begeistert die Augen auf. „Wirklich? Geil! Bist du weit gekommen?" „In der Theorie ja, aber ich muss noch gucken, wie sich die Choreo tanzt, die ich mir ausgedacht habe." „Verstehe", entgegnete sie und zwinkerte. Dann gab sie mir einen Knuff in den Oberarm. „Na dann wärm Dich mal auf. Wir wollen um 19 Uhr mit den Tänzen anfangen." „Geht klar", erwiderte ich und begann in der Halle um die Mädels herum zu joggen. Fertig aufgewärmt, stellte ich mich noch für 10 Minuten Stabübungen in die Lücke, die sie mir gelassen hatten.


Einige der Mädels kannte ich bereits, seit ich in diesem Verein angefangen hatte. Juli war zum Beispiel eine von ihnen. Sie war ein Jahr älter als ich und hat damals sogar zusammen mit mir angefangen. Rike, Sammy und Isy waren zu diesem Zeitpunkt bereits seit ein paar Jahren in dem Verein. Als Juli und ich somit hinzukamen, nahmen die drei uns herzlich auf und integrierten uns in die Anfängergruppe. Über die Jahre hinweg haben wir uns dann in den Klassen weiter in die Fortgeschrittenen und schließlich in die Profiklasse hochgetanzt. Heute gehörten wir zu den Seniors, die Klasse mit dem Exzellent-Level. Wenn ich manchmal zurückblickte, fragte ich mich, wo eigentlich die Zeit geblieben war. Sie verrannte manchmal schneller, als es mir lieb war.

Pünktlich um 19 Uhr begannen wir mit den Gruppentänzen. Zur Beurteilung unserer Leistung, filmten wir uns immer mit einer Kamera, sahen uns im Anschluss das Video an und werteten gemeinsam aus, wo unsere Stärken und Schwächen lagen. Dann hieß es: Wiederholen, wiederholen, wiederholen.


Ehe ich mich versah, beendeten wir unser Training um 20 Uhr. Nachdem ich mich in der Umkleide umgezogen und mich von den anderen verabschiedet hatte, lief ich zum Auto, wo ich meinen ledernen Turnbeutel auf den Beifahrersitz warf und meine Stäbe im Fußraum verstaute. Der Weg nach Hause war zum Glück nicht allzu weit, sodass ich innerhalb von 10 Minuten in meiner Wohngegend ankam und den Wagen parkte. 

Einen Ohrwurm leise vor mich hin summend, lief ich den Weg entlang zur Haustür und holte den Schlüssel aus meiner Tasche. Doch als ich ins Treppenhaus lief und dann oben vor meiner Haustür stand, erstarrte ich einen Augenblick. Mein Herzschlag beschleunigte sich und ich musste schlucken. Ein weißer Umschlag mit meinem Namen drauf war mit Tesafilm an unserer Wohnungstür befestigt worden. Zögernd zupfte ich ihn ab und drehte dann den Schlüssel im Schloss.

Das Licht brannte in Kims Zimmer und aus der Küche kroch der Geruch ihres köstlichen Gemüsehähnchens mit Reis. Ich lud meine Sachen im Eingangsbereich ab und lief dann – den Umschlag in meinem Rücken haltend – den Flur runter. „Du sag mal Kim?", fragte ich und trat an ihren Türrahmen. Sie sah von ihrem Schreibtisch auf und schob sich ihre Brille – die sie immer trug, wenn sie arbeitete – die Nase hoch. „Was gibt's denn?" „Hast du einen Umschlag an unserer Tür bemerkt, als du nach Hause gekommen bist?" 

Verdutzt schüttelte sie den Kopf. „N-nein, nicht, dass ich wüsste." Dann trat ein unruhiger Ausdruck in ihr Gesicht. „Nayla? Was hast du da?" Ich zog den Umschlag mit meinem Namen hervor und reichte ihn ihr. Sie öffnete ihn, zog den Inhalt heraus, schnaubte und schüttelte den Kopf. „Also wirklich. Wie tief kann man sinken?", stellte sie ihre Frage rhetorisch. Dann gab sie mir Umschlag und Inhalt zurück. „Sag Bescheid, wenn du es verbrennen willst. Ich zünde es auch gerne an."

Mein Herz gefror zu Eis, als ich erkannte, dass es sich bei dem Inhalt um ein Foto handelte. „Ich geb dir Bescheid.", murmelte ich und fühlte mich wie betäubt. Schnell lief ich in mein Zimmer, schaltete das Licht ein, setzte mich auf die Treppenstufen und atmete ein paar Mal tief durch, um Kraft zu sammeln. Dann hob ich mit zittrigen Händen das Foto an.

Es war ein Bild von Caleb und mir, dass in unserem ersten Jahr im Sommer geschossen worden war. Wir befanden uns auf einer Gartenparty von einem von Calebs Freunden und die Welt war noch in Ordnung. Auf dem Bild saß ich, von einem Ohr zum anderen strahlend, auf seinem Schoß und hatte den Arm um ihn gelegt. Sein Arm umschlang meine Taille und mit einem warmen Lächeln im Gesicht, blickte er anbetend zu mir auf. Zitternd holte ich Luft und fuhr mit dem Zeigefinger über das glückliche Mädchen auf dem Foto, von dem heute nichts mehr übriggeblieben war. Ihre blauen Augen mit dunkelblauen Rändern strahlten unter den langen, geschwungenen Wimpern in die Kamera. Grübchen unterstrichen das niedliche Gesicht mit der kleinen Nase und ihre honigblonden Haare fielen ihr offen und glatt über ihre Schulter. Erst, als eine Träne auf ihr Gesicht fiel, merkte ich, dass ich weinte. Noch immer zitternd versuchte ich durchzuatmen und ließ das Foto sinken. Dabei fiel mir plötzlich eine Handschrift auf der Rückseite des Fotos auf. Ich drehte sie zu mir herum und las:

Erinnerst Du Dich noch? Ich vermisse uns...ich vermisse Dich."

Frustriert schrie ich auf, warf das Foto von mir, zog mich auf meinem Bett in die letzte Ecke des Zimmers zurück und schlang die Arme um meinen Körper. „Nayla?!", drang Kims alarmierte Stimme zu mir und keine Sekunde später war sie in meinem Zimmer. Außerstande zu sprechen, löste sich ein weiterer Schrei, der in hysterischem Weinen und Luftholen endete, aus meiner Kehle. Sofort war Kim bei mir. Sie kletterte zu mir aufs Bett, legte ihre Arme um mich und hielt mich so fest, sie konnte, während ich krampfhaft nach Atem rang.

Es ist besser so", erinnerte ich mich an meine Worte zu Caleb an jenem Tag. „Nein, ist es nicht", hatte er mit zitternder Stimme geantwortet und es zerriss mein Herz ihn so hilflos und mit Tränen in den Augen vor mir stehen zu sehen. „Bitte Nayla", hatte er gefleht. „Tu mir das nicht an. Ich liebe Dich." Ich hatte geschluckt und selbst angefangen mit den Tränen zu kämpfen. Denn obwohl er mir immer noch irgendwo etwas bedeutet hatte, war ich am Ende meiner Kräfte. „Lass mich gehen, Caleb." Wie ein geschlagener Hund war er zu Boden gesackt – zu keinem Wort mehr imstande.

Die Erinnerung verschwamm und ich schrie erneut schluchzend meinen Schmerz hinaus – dieses Mal solange ich konnte. Meine Hände krallten sich in Kims Arm. Mein Herz fühlte sich an, als würde es explodieren. Als sie behutsam meinen Kopf auf ihren Schoß bettete und mir beruhigend mit der freien Hand über den Rücken strich, ließ ich es einfach geschehen.

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