Kapitel 01

Tagträumend saß ich am Informationsschalter der Bibliothek und starrte durch die großen, geschwungenen Fenster nach draußen in den strömenden Regen. Das Kinn auf die Hand gestützt und mit dem Bleistift über meinem Notizblock schwebend, überlegte ich, was ich in mein Motivationsschreiben für meine Thesis schreiben wollte. Professor Barkley hatte darauf bestanden, dass ich eins verfasste. Doch irgendwie saß ich hier nun schon seit Stunden und mir fiel einfach kein gescheiter Anfang ein. Der Anfang war immer das Schwierigste für mich.


Es war Oktober und die Blätter fielen bereits bunt von den Ästen. Dies war die Zeit, in der manch ein Kind sich danach sehnte, in einen riesigen Laubhaufen zu springen und sich dort zu verstecken. Andere Kinder ließen zu dieser windigen Jahreszeit bestimmt auch gerne Drachen mit ihren Eltern steigen. Tja und ich... ich sehnte mich im Herbst nach wärmenden Bädern bei Kerzenschein und nach meiner gemütlichen Ecke auf dem Sofa direkt am Fenster mit einem guten Buch.

Durch mein Studium war ich in den vergangenen Jahren leider kaum dazu gekommen, meine privaten Bücher anstelle der Uni-Literatur zu lesen. Doch dieses Jahr – 2020 – nahm ich mir zumindest ein Buch fest für den Herbst vor.


„Nayla?", durchbrach die Stimme meiner Kollegin Angie die Stille und ich zuckte aus meinen Gedanken hoch. „Hm, was?" Sie lächelte. „Ich sagte gerade, wenn du die Buchbestellungen für morgen fertig gemacht hast, kannst du für heute Schluss machen. Hier ist ja sowieso nicht mehr so viel los." Ich warf einen Blick auf die Uhrzeit am Monitor vor mir: es war 17:30 Uhr. Kein Wunder, dass es draußen schon fast dunkel war. „Geht klar", antwortete ich, rief mir die Bestellliste auf dem Tablet auf, schnappte mir den Buchwagen und machte mich auf die Suche nach den gewünschten Werken in unseren zahlreichen Abteilungen.


Gut eine dreiviertel Stunde später war ich fertig, schnappte mir meinen Rucksack unter dem Tisch des Informationsschalters, wünschte meinen Kollegen einen schönen Feierabend und machte mich dann auf den Weg nach Hause. Der Regen hatte zum Glück aufgehört, sodass ich mich nicht gezwungen sah, den Regenschirm herauszuholen.

Die Bibliothek war etwa 15 Minuten Fußweg von der Wohnung entfernt, in der ich gemeinsam mit meiner besten Freundin Kimberly wohnte. Vor nun knapp mehr als vier Jahren haben wir unsere Kindheitsträume wahr gemacht und sind zusammen in eine WG gezogen. Am Anfang hatte es sich zwar etwas unwirklich angefühlt, doch mittlerweile waren wir ein eingespieltes Haushaltsteam. Wir organisierten gemeinsame Putzaktionen und Gammel-Abende. Doch auch eine Party hin und wieder durfte nicht fehlen, geschweige denn wilde Backaktionen zu besonderen Anlässen.


Gerade lief ich über die Straße in Richtung Park, als mein Handy plötzlich klingelte. Ich zog es aus meiner Manteltasche und prüfte den Namen auf dem Display bevor ich abhob.

„Hi Mum, was gibt's?" „Hallo Nayla, Schatz. Ich wollte nachfragen, ob Livi" damit meinte sie meine jüngere Schwester Olivia „sich bei dir gemeldet hat?" Mit einem Blick in den dunklen Himmel fragte ich verwirrt: „Warum sollte sie sich denn bei mir melden?" „Ach... sie erzählte mir neulich irgendwas von wegen, sie müsse eine Hausarbeit über ihre Familie verfassen und wollte ihr großes Vorbild interviewen." „Aber sie weiß doch alles, was es über mich zu wissen gibt", entgegnete ich verwundert und runzelte die Stirn. „Naja egal, Livi wird sich schon noch bei dir melden. Wie geht es dir sonst, Liebes?" Ich lief an einer Gruppe junger Männer vorbei und versuchte das irrationale mulmige Gefühl in meiner Magengegend zu ignorieren. „Gut, alles super. Ich bin nur etwas im Uni-Stress." Schweigen auf dem anderen Ende. „Du weißt doch... ich habe demnächst die letzten Abschlussprüfungen und muss dann noch meine Thesis verfassen." „Stimmt, das hast du erzählt", murmelte sie nachdenklich und mich beschlich das Gefühl, dass sie mit ihren Gedanken abschweifte. „Und was macht dein Training? Schaffst du das noch alles?" Damit spielte sie auf meinen Verein an, den ich besuchte, seit ich 12 Jahre alt war. „Es wird zwar eng im Terminplan, aber ja, ich gehe noch hin, Mum." „Und sonst geht es dir... gut?" Ich wusste genau, worauf sie anspielte und spürte, wie sich eine neutrale, starre Maske über mein Gesicht legte. „Jap", antwortete ich kurz angebunden. „Gut...", entgegnete sie. „Okay... na dann wünsche ich dir auf jeden Fall einen schönen Feierabend, mein Schatz." „Danke Mum. Ich wünsche euch auch einen schönen Abend." „Tschüss." „Bye" Wir legten auf.

Schnell vergrub ich meine mittlerweile kalten Hände in meinen Manteltaschen. Bloß nach Hause! Der Gedanke an eine heiße Wanne und Makkaroni-Auflauf gaben eine himmlische Aussicht auf den Abend ab. Ich beschleunigte meinen Schritt ein wenig und setzte meinen Weg an der Straße im Lichtkegel der Laternen fort.


Knapp fünf Minuten später bog ich schon den Weg zu meinem Häuserblock ein und steuerte auf die Hausnummer 7 am Ende zu. In meiner Tasche fischte ich bereits nach dem Hausschlüssel, der mich ins Warme bringen würde. Vor der Haustür angekommen, brauchte ich jedoch noch einen kleinen Moment, um in dem spärlichen Licht das Schlüsselloch zu finden. Als ich plötzlich ein Geräusch hinter mir hörte, glitt mir der Schlüssel aus der Hand und ich fuhr ruckartig herum. Hinter einem Baum trat ein junger Mann hervor, dessen dunkelblondes Haar in dem Licht eher braun wirkte und dessen schlanke trainierte Gestalt noch aus den Zeiten eines Footballspielers zeugte. Er trat einen Schritt näher, die Arme beschwichtigend erhoben. „Hi Nayla. Sorry, wenn ich dich erschreckt haben sollte, aber ich musste dich unbedingt sehen." Ich atmete aus und schloss für einen Moment die Augen, bevor ich dann den Schlüssel vom Boden aufhob. „Caleb", erwiderte ich mit monotoner Stimme, als ich wieder hochkam. „Was willst Du?"

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