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Mein Blatt war noch immer leer. Der unberührte Bleistift lag fein säuberlich daneben. Nur ganz klein auf der linken oberen Randseite stand mein Name. Lowa Tawis Ich duckte mich ein wenig und versuchte von der Seite einen Blick auf das Blatt meiner besten Freundin zu erhaschen.Sie schrieb gerade die Rückseite voll und wollte sich gerade erheben, um noch ein weiteres Blatt zu holen, als sie meinen Blick bemerkte.»Schreib selber, Lo«, meinte Rabea und schüttelte den Kopf so fest, dass ihre braunen Haare nur so hin und her flogen.Dabei wäre beinahe ihre Brille wieder von der Nase gerutscht.»Ich schreibe ja«, murmelte ich so leise wie möglich und widmete mich dann wieder meinem leeren Blatt.Aufsätze schreiben war so gar nicht meine Welt. Während Rabea beinahe in einer Welt voller Wörter lebte.Ich pustete mir eine meiner widerspenstigen Haarsträhnen aus dem Gesicht.»Die Farbe bleibt, egal wie oft du pustest«, sagte Joe. Ein Obermacho mit kurzen braunen Haaren und extra engem Shirt, das seine Muskeln betonte. Notiz an mich: Schenk ihm zu Weihnachten einen Rollkragenpullover.»Ich puste dir gleich deine wenigen Hirnzellen weg«, wisperte ich und drehte mich zu ihm um. Er schenkte mir nur ein leichtes Lächeln, ehe er sich wieder seinem Aufsatz widmete.Meine Haare waren grau. Bestimmt schon dreißigmal gefärbt,damit sie so blieben. Doch ich mochte es, irgendwie war es anders.»Schreib doch über dich und dein Projekt«, meinte Rabea,die inzwischen wieder neben mir saß. Mein Projekt? Ich nannte es weniger Projekt. Eher Überlebenshilfe.»Ich gebe es auf«, murmelte ich und vergrub meinen Kopf zwischen meinen Armen. Der Klang der Schulglocke war in meinen Ohren wahrhaft eine Erlösung. Schnell packte ich meine schwarze Umhängetasche und lief dicht gefolgt von Rabea aus dem Schulzimmer.Das leere Blatt ließ ich auf dem Tisch liegen, immerhin konnte es jetzt irgendwer noch verwenden.»Lowa!«, erklang eine hohe Stimme neben mir. Überrascht drehte ich mich um. Ein zierliches Mädchen mit langen blonden Haaren stand vor mir. Ihre braune Tasche dicht an sich gepresst. Die Augen verquollen. Wahrscheinlich vom vielen Weinen.»Was ist los?«, fragte ich und lehnte mich an einen der Spinde neben uns.»Ich brauche deine Hilfe«, sagte sie, und ihre Augen wurden wieder wässrig.»Komm mit«, sprach ich und nickte Rabea zu, diese erwiderte mein Nicken und lief dann weiter.»Also, wie kann ich helfen?«, hakte ich nach und lief mit ihr durch die breiten Schulgänge Richtung Turnhalle.»Er hat einfach Schluss gemacht!«Und mit einem Mal waren ihre Mauern gebrochen. Neben mir stand ein Mädchen, dessen Tränen jeden reißenden Bach erblassen ließen.»Okay, du willst ihn vergessen?«Sie nickte und suchte dann verzweifelt nach einem Taschentuch in ihrer übergroßen Tasche.»Schritt eins: Hör auf damit!«Seufzend gab ich ihr mein letztes Pack.»Womit?«»Ihm nachzurennen.«Ich reichte ihr einen zusammengefalteten Zettel.»Das ist meine Nummer. Ich helfe dir gerne, über ihn hinwegzukommen.Nur musst du dafür bereit sein. Sobald du das wirklich willst, melde dich.«Sie nickte dankend. Mit schnellen Schritten verschwand ich um die nächste Ecke. Das sah nach einem neuen Auftrag aus.Liebeskummer gibt es nicht. Das sagte meine Mutter immer,und irgendwie hatte sie recht. Es war eine Sache der Einstellung. Wie erwartet vergingen keine zwei Stunden, und ich hatte einige Anrufe von einer unbekannten Nummer auf meinem Handy. Ich war gerade auf dem Nachhauseweg und bog in unsere Straße ein, als ich überrascht aufsah. Meine Mutter war gerade dabei, einen riesigen Karton vom Auto in unser gemütliches kleines Haus zu schaffen.»Mom, lass das!«, rief ich und konnte mir schon bildlich vorstellen, wie die Schachtel mit viel Lärm auf den asphaltierten Boden fiel.Zu meiner Mutter gab es nicht viel zu sagen. Sie hatte lange schwarze Haare, denselben spöttischen Blick wie ich und die gleiche Körperhaltung. Das Einzige, was ich von meinem Vater hatte, war meine Nase.Meine Mutter musste ständig umdekorieren. Jeden einzelnen Winkel. Unser ganzes Haus war voll mit ihren Dekorationsartikeln.In einer Woche wachte man auf und spazierte in ein grasgrünes Bad, während man in der nächsten in einen pinken Albtraum aus Federn und Glitzer hinein lief.»Lowa, hilf mir kurz«, murmelte meine Mutter unter dem bergähnlichen Karton hervor. Seufzend und mit schnellen Schritten lief ich zu ihr. Gemeinsam brachten wir den Karton hinein.Ich liebte unser kleines Haus. Durch den Vorgarten führte ein schmaler Weg zur Haustür. Es hatte zwei Stockwerke und einen großen Dachboden. Es war rot und schwarz, und an Halloween war es ein beliebtes Ziel für alle kleinen Kinder.Vielleicht lag das daran, dass meine Mutter natürlich auch an Halloween anfing, alles zu dekorieren, so unheimlich wie möglich. Manchmal hing dann auch an meinem Fenster eine männliche Schaufensterpuppe mit Blut vor dem Mund. Zum Glück verschwand die Deko dann gleich wieder und wurde durch bunte Weihnachtsdekoration ersetzt.Meine Mutter war nicht verrückt, im Gegenteil. Die Mehrheit der Nachbarschaft liebte sie. Jedoch wusste ich, dass nicht nur Kreativität schuld an dem ständigen Wandel unseres Hauses war. Mein Vater hatte uns vor wenigen Jahren verlassen,und seitdem hatte es angefangen. Sie versuchte einfach,so gut es ging, sich abzulenken. Von ihr kannte ich auch all diese Tipps gegen Liebeskummer. Von heißer Schokolade bis hin zu guten Horrorfilmen.»Danke«, meinte meine Mutter, als wir den Karton im Haus hatten.»Ich habe noch was zu erledigen«, sagte ich und deutete aufmein Handy. Doch sie bemerkte das gar nicht mehr. Sie hatte ihren Kopf schon in dem Karton versenkt und wühlte darin herum. Ich wählte schnell die Anruftaste und beeilte mich dann, in mein Zimmer zu kommen.»Hallo?«, meldete sich eine Stimme am anderen Ende.»Hi, hier ist Lowa.«»Ach gut, ich dachte, du hättest nicht gesehen, dass ich angerufen habe.«Wie sollte man die zwanzig verpassten Anrufe übersehen?»Am besten kommst du kurz zu mir, wenn du Zeit hast.«Innerhalb weniger Minuten stand das blonde Mädchen vom Vormittag vor mir, dessen Namen ich noch immer nicht kannte. Sie trug einen kurzen blauen Rock und ein schwarzes Top. Ihre Haare waren nun gelockt, und der traurige Ausdruck war wie weggeblasen.»Hi, ich bin Samira«, stellte sie sich vor und lief an mir vorbei ins Haus. Neugierig musterte sie unsere Einrichtung, und ich war froh, dass wir noch nicht Halloween hatten.»Also, Samira, womit kann ich dir behilflich sein?«, fragte ich zögerlich. Wir gingen hoch in mein Zimmer, wo Sam, so nannte ich sie jetzt einfach, sich auf mein großes Bett fallen ließ.»Es geht um meinen Ex. Wir waren einige Monate zusammen,und gestern hat er einfach aus dem Nichts Schluss gemacht. Er hat unsere Beziehung einfach aufgegeben.«»Du bist doch eine der Cheerleaderinnen?«, sagte ich zögerlich. Erst jetzt kamen mir diese blonden Locken so bekannt vor.»Ja, wieso?«»Nur so.«»Auf alle Fälle will ich, dass er merkt, was er verpasst!«Wütend schlug sie in eines meiner vielen Kissen, die sich wie eine Festung auf meinem Bett auftürmten.
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