Chapter Sixteen
Die gesamte Nacht über lag ich wach und starrte an die Zimmerdecke. Kyle war relativ schnell eingeschlafen, auch wenn er sich anfangs gewehrt hatte und wach bleiben wollte, bis ich einschlafen würde.
Kurz betrachtete ich sein Seitenprofil, sein markantes Kinn und die porenfreie, gebräunte Haut, bevor ich lächelnd den Kopf in meinem Nacken legte und an den Abend zurück achte.
Jacob hatte Kyle keinen Moment aus den Augen gelassen und beinahe tat es mir leid. Aber mir war bewusst, dass er sich verpflichtet fühlte und zum großen Teil aus reinem Spaß Kyle mit seinen Blicken durchbohrte.
Als ich immer noch nicht das geringste Anzeichen von Müdigkeit verspürte, schlug ich vorsichtig die Decke beiseite und tapste leise in die Küche. Dort füllte ich mir ein Glas mit Wasser und öffnete den Kühlschrank, um zu schauen, ob noch etwas von dem Abendessen übrig war.
Jacobs Mutter war eine unglaubliche Köchin. Sie stand manchmal stundenlang in der Küche und jedes Mal, wenn Liam bei Jacob gewesen war – egal, ob für einige Minuten oder Stunden - packte sie für mich eine Tupperdose mit Essen ein.
„Kannst du nicht schlafen?" Ich wandte mich ertappt zu Jacob, der im Türrahmen stand und zu mir blickte. Das Licht aus dem Kühlschrank erhellte sein Gesicht, auf welchem ein leichtes, müdes Lächeln lag. Ich schüttelte den Kopf und wandte mich wieder dem Kühlschrank zu, als Jacob über mich hinweg hineingriff und zwei Tupperdosen hinauszog.
Stumm sah ich dabei zu, wie er eine kleine Lampe an der Wand anknipste und zwei Gabeln aus der Schublade entnahm.
„Na komm, setz dich."
Ich schloss den Kühlschrank und setzte mich Jacob gegenüber an dem Tresen. Er öffnete vorsichtig die Deckel und schob das Essen dann zwischen uns, bevor er grinste.
„Es hat eine lange Zeit gedauert, bis meine Mom begriff, dass ich nachts immer die Reste aufesse." Ich grinste und konnte mir nur allzu gut vorstellen, wie sie von Zeit zu Zeit verdutzt vor leeren Dosen stand.
Schweigend stocherte ich mit meiner Gabel in dem Essen und stöhnte leise und genüsslich auf, als ich ein Stück von dem Auflauf in den Mund schob.
„Ich wünschte, deine Mom wäre unsere Mom."
Mein Blick sank und ich seufzte. Ich wusste nicht einmal, wo meine Eltern sich gerade genau befanden. Kanada. Toronto. Mehr nicht.
„Sie lieben dich trotzdem. Auch wenn du es jetzt gerade nicht glauben magst."
Ich nahm mir ein weiteres Stück auf die Gabel und betrachtete es.
„Mag sein, aber sie sind dieses Mal zu weit gegangen."
Dann stopfte ich es mir in den Mund und konzentrierte mich bloß auf das kauen und schlucken. Meine Eltern waren das letzte Thema, über welches ich sprechen wollte.
„Was läuft da zwischen dir und Kyle?" Nun grinste Jacob wieder und steckte sich gleich darauf ebenfalls eine Gabel voller Auflauf in den Mund.
Ich stockte und senkte meine Gabel. Was lief zwischen mir und Kyle?
Selbstverständlich hatte ich vorhin seine Hand am Flughafen genommen und wir schliefen auch gemeinsam in dem Bett im Gästezimmer. Aber wir waren nicht zusammen. Und ausgegangen waren wir auch noch nicht. Mir wurde bewusst, dass ich nicht einmal wusste, wann und wohin Kyle mit mir ausgehen wollte.
„Ich weiß es nicht", gab ich also ehrlich zu und zuckte frustriert mit meinen Schultern. „Anfangs konnte ich ihn absolut nicht leiden. Er ist fordernd und duldet keinen Widerspruch. Und dann dieses Grinsen. Er grinst andauernd."
Ich legte die Gabel beiseite und begann zu lächeln. „Aber er gibt mir auch Halt und hört mir zu. Und manchmal ist dieses Grinsen einfach nur schön." Dann sah ich zu Jacob, der ebenfalls die Gabel auf den Tisch gelegt hatte. Er schien nachdenklich und antwortete mir nicht, sodass ich einfach weiter in meinen Gedanken blieb.
„Es ist eine so kurze Zeit vergangen. Kann man da überhaupt Gefühle für jemanden entwickeln?"
Ich runzelte meine Stirn und spielte mit einer Lasche am Deckel.
Jacob hatte sich verschlossen. Er lächelte nicht, noch wirkte er verärgert oder müde.
Dann jedoch sah ich ein Funken Unsicherheit in seinem Gesicht aufblitzen und ein sanftes Lächeln legte sich auf seine Lippen.
„Du kannst Liebe nicht an Zeit bemessen." Er atmete tief durch. „Und auch nicht entscheiden, in wen du dich verliebst, wenn du dich verliebst."
Dann stand er auf und stellte die leeren Dosen in die Spüle. „Wenn dein Herz wem anders gehört, kannst du trotzdem nicht aufhören zu lieben. Es ist in Ordnung, mehr als nur eine Person zu lieben."
Er ging aus der Küche und blieb im Türrahmen stehen, um mich anzugrinsen.
„Natürlich nur unter besonderen Umständen. Fang bloß keine Affäre mit wem an."
Einen Moment blieb ich noch sitzen und dachte über seine Worte nach. Dann stand ich auf, knipste das kleine Lämpchen aus und legte mich zurück ins Bett.
„Darf ich in deinen Armen schlafen?", flüsterte ich in die Dunkelheit und war mir nicht einmal sicher, ob Kyle es realisieren würde. Doch keine Sekunde später zog er mich an meiner Hüfte zu sich und legte seine Arme um mich herum.
Und endlich konnte ich einschlafen. Mit einem Lächeln auf den Lippen.
Am Morgen hatte ich das Gefühl, mich nicht auf den Beinen halten zu können. Krampfhaft hatte ich meine Hände um den Stängel der Rosen gelegt und hielt den Atem an. Mit jedem weiteren Schritt, jedem weiteren Meter, den wir liefen, fühlte ich mich schwächer, schutzloser.
Wir liefen durch das große Eisentor. Die Bilder, wie sie Liams Sarg durch die Wege getragen hatten, der große Blumenstrauß auf dem glänzenden Holz und die leise Musik, brachten mich zum Straucheln. Ich stolperte einige Schritte zurück und versuchte, mich zu sammeln. Eine große Hand legte sich auf meinen Rücken und ohne nachzuschauen, wer es genau war, lief ich weiter in die Richtung von Liam. Die Freude, in Miami zu sein, verflog gänzlich, als ich auf das kleine Kreuz in der Erde blickte.
Augenblicklich ließ ich mich auf die Knie fallen und schloss meine Augen für einen kurzen Moment.
Liam Cane
Ein geliebter Sohn, Bruder und Freund.
Mit zittrigen Fingern strich ich über die eingravierten Zahlen im Holz. Meine Gedanken rasten und immer wieder ertönten Schreie, als ich an diesen Tag zurückdachte. Ich sah Liam vor sich her grinsend und die wunderschönen Lichter auf der Autobahn. Sein verwuscheltes Haar und seine Augen, die immerzu strahlten.
Stumm floss eine Träne meine Wange hinab und ich legte den Strauß Rosen auf die feuchte Erde. Eine kleine Kerze war angezündet und es lagen viele frische Blumen und Gedenkbriefe um das Kreuz.
„Happy Birthday, Liam." Meine Stimme brach wie der Versuch eines Lächelns. „Schau mal, ich habe das Kleid an, dass du mir zu deinem Geburtstag gekauft hast."
Ich strich über den hellen Stoff, welcher mir bis zu den Knien reichte und lächelte leicht. So war Liam. Es war sein Geburtstag und er beschenkte mich.
„Ich hoffe sehr, dass, wo immer du auch bist, du ausgiebig gefeiert wirst. Dass du nicht alleine bist."
Der Gedanke, dass Liam niemanden um sich hatte und irgendwo im nirgendwo herumwanderte, ließ mich aufschluchzen, sodass ich meine Hand gegen die Lippen presste. Dann griff ich in die Seitentasche meines Kleides und nahm die blaue Schachtel heraus.
„Ich habe ein kleines Geschenk für dich." Ich öffnete die Schachtel und betrachtete die silberne Kette. „Ich weiß, dass du keinen Schmuck trägst. Aber ich dachte, dass diese Kette dir gefallen könnte." Ich strich über das kleine Plättchen, auf welches ein kleines Dankeschön eingraviert war. Dahinter war ein - L.
„Ich will, dass du niemals vergisst, wie dankbar ich dir bin. Ich bin dankbar, dass ich dich meinen großen Bruder nennen darf, und so unfassbar dankbar, dass du mich beschützt und mich niemals allein gelassen hast."
Behutsam schloss ich die Box und legte sie unter die Rosen.
Ich wischte mir über die Wange. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie mir immer weiter die Tränen das Gesicht entlanggeronnen waren.
„Ich brauche dich, Liam. Du weißt nicht, wie schwer es mir fällt abends allein einzuschlafen und morgens ohne dich in den Tag zu starten."
Schweratmend rutschte ich auf meinen Knien. Die kleinen Steine des Asphalts bohrten sich dabei unangenehm in meine nackte Haut.
„Mom und Dad...", begann ich und brach im selben Moment den Satz ab. Konnte Liam mich wirklich hören vielleicht auch sehen oder spüren, dann wusste er, dass Mom und Dad nicht kommen würden.
„Sie denken an dich." Ich kniff die Augen zusammen und verzog das Gesicht.
„Du wirst es mir nicht glauben, das weiß ich." Dann entspannte ich meine Gesichtszüge. „Ich glaube es selbst kaum. Sie haben nicht nur ihren Sohn verloren und vergessen. Sondern auch ihre Tochter." Ich strich noch einmal über seinen Namen und musterte jedes kleine Detail an seinem Grab. Ich schaute hinter mir und sah, dass sowohl Jacob als auch Kyle beiseite gegangen waren. Mit einem traurigen Lächeln blickte ich zurück auf das Kreuz.
„Aber ich glaube, ich habe mich verliebt, Liam." Dann stand ich auf. „Du würdest Kyle mögen. Vielleicht nicht sofort, aber spätestens, wenn du sehen würdest, wie glücklich er mich macht."
Ich blickte über meine Schulter hinweg zu den beiden Jungs und lächelte sie an. Langsam kamen sie auf mich zu und stellten sich neben mich. Kyle schien sich nicht ganz wohlzufühlen, er stand etwas hinter mir. Doch ich nahm seine Hand und zog ihn leicht zu mir. Er hatte mir ermöglicht, mit Liam zu reden.
Ich wusste, dass es nie mehr sein würde, wie früher. Als Liam mir gegenüberstand und mich angrinste. Doch hier zu stehen, nahm und gab mir Kraft. Es nahm mir die Kraft, weil mir bewusst wurde, dass er fort war. Und doch gab es mir die Kraft, weil ich ein Stück näher bei ihm war.
„Happy Birthday, Liam." Jacob hockte sich runter zu dem Kreuz und lächelte traurig. Mir wurde wieder bewusst, dass nicht nur ich Liam verloren hatte. Auch Jacob, Stella und all die anderen, die jemals mit Liam in Kontakt gestanden hatten, hatten ihn verloren.
„Dankeschön", flüsterte ich Kyle zu und blickte hoch. Sein Blick war starr auf das Kreuz gerichtet, als er seinen Kopf dann doch zu mir drehte und leicht nickte.
Ich schaute gen Himmel und kniff leicht die Augen zusammen. Die Sonne schien und erhellte diesen trostlosen Ort auf eine ganz eigene Weise.
Jacob richtete sich auf und nickte. Ein letztes Mal blickte ich zu dem Grab von Liam und lächelte. „Bis zum nächsten Mal, Liam." Versprochen.
Im Auto setzte ich mich auf die Rückbank. Ich hätte es komisch gefunden, Kyle dort allein verweilen zu lassen, während ich neben Jacob gesessen hätte.
Meinen Kopf lehnte ich gegen das kühle Glas und schaute auf die vorbeiziehenden Straßen.
Es war kein leichter Weg gewesen. Jeder Schritt war eine Überwindung. Eine kleine Hürde, über die ich klettern musste, um nur vor der nächsten zu stehen.
Aber Liam allein zurückzulassen, war ein weitaus schwierigerer Weg. Denn ich wusste nicht, wann ich ihn das nächste Mal besuchen könnte. Am gleichen Abend ging unser Flug zurück nach Kalifornien. Es war kräfteraubend. Ich schob den Koffer vor mich her, als wir in der Flughafenhalle ankamen, und wandte mich dann mit schummrigen Blick Jacob zu.
„Es tut mir leid, dass ich einfach gegangen bin."
Er trennte die letzten Zentimeter, die zwischen uns lagen, und nahm mich in den Arm. „Hör auf dich für alles zu entschuldigen."
Dann drückte er mir einen Kuss auf das Haar und zwickte mir in die Wange.
„Versuch - versuch einfach zu überleben. Und zu verzeihen." Dann tippte er mir, wie bei einem kleinen Kind, auf die Nasenspitze.
„Am besten dir selbst."
Noch einmal drückte ich mich fest an seine Brust und nickte, bevor ich mich abwandte. Kyle und Jacob unterhielten sich noch kurz, doch ich lief schon einmal vor. Ich konnte nicht zurückblicken. Das hätte ich nicht geschafft.
Als wir endlich im Flugzeug saßen, schien es surrealer, als bei unserem Hinflug. Dieser war nicht mehr als einen Tag her. Und nun würde ich mich wieder von Miami verabschieden müssen. Ich versuchte, mich abzulenken, und musterte schließlich Kyle.
„Worüber haben du und Jacob gerade gesprochen?"
Kyle verfrachtete den Koffer über uns und setzte sich dann neben mich. „Über dich."
„Und worüber genau?" Neugier stieg in mir auf.
„Dass ich dich nicht gehen lassen soll."
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