Chapter One

„Gib es doch einfach zu. Du bist in Stella verliebt!"

Siegessicher lehnte ich mich im Sitz zurück und betrachtete meinen Bruder im Licht der Scheinwerfer. Wir waren gerade auf dem Heimweg und diskutierten schon viel zu lange über das Thema Stella. Doch insgeheim fand ich es lustig, wie er immer wieder konzentriert auf die Straße vor uns blickte und versuchte, mich dabei geflissentlich zu ignorieren. Und in einem anderen Moment wiederum beneidete ich, dass er schon seinen Führerschein hatte und ich noch etwas warten musste.

„Und wenn schon. Sie ist eine gute Freundin. Ich denke nicht, dass es wert ist, das zu riskieren." Seine Stirn legte sich nachdenklich in Falten.

„Sollte sie kein Interesse haben, was gedenkst du dann?", brummte er leise und schaute weiterhin auf die Straße vor uns.

Ich wandte meinen Kopf von ihm ab und beobachtete die Autos, die uns in unregelmäßigen Abständen überholten.
„Ich denke, sie hat Interesse."

Ein Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus. „Ich wünsche dir alles Glück der Welt, dass weißt du. Und ich bin nun einmal der festen, unwiderruflichen Überzeugung, dass Stella dieses Glück ist."

Ein Blick zu meinem Bruder verriet mir, dass er es nicht anders betrachtete. Seine Mundwinkel waren leicht nach oben gerichtet und sein Blick wirkte urplötzlich verträumt.

„Aber bitte, konzentriere dich weiterhin auf die Straße."

Lachend beugte ich mich etwas nach vorn, um die Musik lauter aufzudrehen.

„Okay." Kam es dann wenige Sekunden später leise von ihm.

Ich zog meine Augenbrauen in die Höhe und sah ihn auffordernd an.

„Okay, was?"

Abermals zuckten seine Mundwinkel verdächtig nach oben und schon erschien ein kleines Lächeln auf seinen Lippen, welches ich nur zu gerne sah.

„Morgen werde ich Stella um ein Date bitten."

Zufrieden nickte ich mit meinem Kopf. „Ja, das ist eine super Idee."

Zwischen uns herrschte eine ganze Weile Stille. Wir beide lauschten der Musik und hingen unseren eigenen Gedanken hinterher. Am Himmel verzogen sich allmählich die Wolken und die ersten Sterne funkelten uns entgegen. Es war traumhaft schön mitanzusehen, wie die Lichter in der Dunkelheit im Einklang miteinander zu spielen begannen.

„Ich möchte, dass du nicht vergisst, dass du für mich immer an erster Stelle stehen wirst, okay? Kein Mädchen der Welt wird das jemals ändern können. Du bist und bleibst meine kleine Prinzessin."

Mein Ein und Alles.

Lächelnd schaute ich wieder zu meinem Bruder, welcher mit sanften Gesichtsausdruck weiter auf die Straße blickte. Es waren nur noch wenige Minuten, bis wir von der Autobahn abfahren konnten und weitere Minuten, bis wir zuhause sein würden. Ich spürte die Müdigkeit in jedem meiner Knochen.

„Das weiß ich."

Wie könnte ich es nicht wissen?

Mein Bruder und ich waren unzertrennlich. Es gab keine Geheimnisse, die zwischen uns standen - zumindest nicht länger als 5 Stunden -, es gab keinen Mist, den wir nicht ohne den jeweils anderen fabrizierten. Es gab keine Lola, ohne einen Liam. Genauso andersherum.

Ich konnte und wollte mir kein Leben, ohne meinen großen Bruder vorstellen. Er war mehr als das. Er war mein bester Freund und persönlicher Superman. Er hatte mich immer beschützt. Egal wann, egal wo. Er war da, wenn ich ihn brauchte. 

„Du wirst für imm-", erschrocken blickte ich auf die Straße vor uns. Auf das Auto, was direkt auf uns zu raste, ohne die Anstalt zu bremsen. Ich riss meine Augen weit auf. Sah aus dem Augenwinkel, wie mein Bruder das Lenkrad herum riss und laut zu fluchen begann. Meine Atmung wurde hektischer. Unregelmäßiger. Und plötzlich wurden aus Sekunden eine Ewigkeit.

Ich lag wie in Watte gehüllt. Nahm nichts mehr um mich herum wahr. Eine Schwärze legte sich um meine Schultern.

Es ertönten Schreie und mein Kopf schlug immer wieder gegen einen harten Gegenstand. Glas splitterte. Immer weiter verlor ich mich in einer unbändigen Leere, alles schien unendlich weit weg. Doch die Schreie hallten weiterhin in meinem Kopf wider.

Es waren meine eigenen.

„Liam...", war das letzte Wort, was ich benommen krächzte, bevor die Dunkelheit mich endgültig mit sich riss.

Und schließlich wachte ich im Krankenhaus wieder auf. Ein schriller Piepton drang zu mir hindurch, ließ mich zusammenzucken und die Augen geschlossen halten. Dann vernahm ich das Weinen von Personen, das Pochen in meinem Kopf.

Langsam öffnete ich meine Augen und schloss sie sofort, als mein Kopf zu dröhnen begann. Eine warme Hand legte sich auf meine. Mein Herz raste. Ich verspürte einen unbeschreiblichen Schmerz im gesamten Körper. Dieser schrie, wieder schlafen zu wollen. All dem hier zu entfliehen. Doch ich öffnete ein weiteres Mal meine Augen und versuchte mich zu orientieren. Ich musterte den Tropf, der neben mir stand und blickte schließlich in die Ecke, in der meine Eltern eng beieinandersaßen.

„Mom?" Ich kämpfte um meine Stimme und spürte bei jedem Atemzug das Brennen meiner Lungen. Meine Kehle schien ausgetrocknet zu sein.

„W-Wasser", stotterte ich vor mich hin und sah meinen Eltern erschöpft dabei zu, wie sie mit einem Mal aufsprangen und zu mir kamen.

Die Gesichter meiner Eltern waren tränenüberströmt und angeschwollen. Doch ich wusste nicht, wieso sie weinten. Wieso sie überhaupt hier waren. Sie hätten doch noch auf der Arbeit sein müssen.

„Alles ist gut, Maus." Mein Vater half mir mit dem Glas Wasser. Er hielt es langsam an meinen Lippen und kippte es etwas schräg. Gierig trank ich es, spürte, wie das Wasser meinen Hals entlang lief und eine feuchte Spur hinterließ.

Meine Mutter strich mir immer wieder leicht über das Haar, doch jedes Mal überkam mich ein ungeheurer Schmerz, sodass ich zusammenzuckte.

Sie schaute mit Tränen in den Augen auf mich hinab und lächelte erleichtert. Ihr sonst so welliges, glänzendes Haar, war nun zu einem unordentlichen Dutt im Nacken zusammengebunden. Tiefe Augenringe zierten ihr Gesicht.

Ich versuchte, mich aufzusetzen, fiel jedoch gleich zurück auf das Kissen und sah mich erneut in dem Raum um. „Was ist passiert?"

Die Erinnerungen waren wie ausgelöscht. Ich wusste weder, weshalb ich in einem Krankenbett lag, noch wieso mein Körper in Flammen stand. Eine Panik machte sich in mir breit, als ich mich weiter umsah und Liam nicht fand. 

„U-und wo ist Liam?"

Meine Mutter begann erneut, laut zu schluchzen, und warf sich in die Arme meines Vaters. Immer mehr Tränen rannen ihr das Gesicht entlang und auch mein Vater brach in Tränen aus. Ich hatte ihn noch kein einziges Mal weinen sehen.

„Du und Liam hattet einen Unfall auf dem Heimweg."

Ich wurde unruhig und wiederholte meine Frage. Immer und immer wieder.

Sie schüttelten beide ihre Köpfe und rangen mit sich, bis mein Vater zu sprechen begann. Und mir mit vier kleinen Wörtern, den Boden mit einem Mal unter den Füßen wegzog.

„Liam..." Ein Räuspern seinerseits und ein weiterer Schluchzer seitens meiner Mutter.

„L-Liam hat es... nicht geschafft, Lola."

Es vergingen Sekunden, bis ich die Worte meines Vaters verinnerlichte. Mein Herz hörte auf zu schlagen, um im nächsten Moment komplett zu zerbrechen.

All der Schmerz verebbte, bahnte sich durch meine Knochen, bis hin zu meinem Herzen.

„Liam ist tot?" Tränen brannten in meinen Augen und schließlich fing ich, hemmungslos zu weinen an. Meine Eltern nickten erschöpft. Und ich begann, seinen Namen immer und immer zu wiederholen. Denn sein Name, waren meine letzten Worte an Liam, bevor es dunkel wurde. Ich begann, meinen Eltern vorzuwerfen, dass sie logen. Denn sie waren nicht dabei. Liam war in meinen letzten Sekunden noch am Leben. Er hatte geatmet und gelächelt und schließlich das Lenkrad rumgerissen. An diesem Tag schrie ich mir die Seele aus dem Leib. Versuchte, all den Schmerz und all die Worte von mir zu weisen.

Mein Bruder, mein bester Freund, Superman und Beschützer, war nicht mehr hier. Bei mir. Er war tot. Und würde nicht zurückkommen. Mich kein einziges Mal mehr in den Arm nehmen, auf das Haar küssen oder mir mein Essen klauen.

Ich brach zusammen, schloss meine Augen, in der Hoffnung, wenn ich sie wieder öffnen würde, zuhause in meinem Bett zu liegen und zu wissen, dass es ein schlimmer Alptraum war. Liam wäre bei mir. Er würde mich in seine Arme schließen und mir irgendetwas Lustiges erzählen, um mich zu beruhigen.

Doch die Erkenntnis überkam mich. Es würde nie mehr solche Momente geben.

So war es nicht mehr. Und so würde es nie mehr sein.

Eine Krankenschwester strich mir über meinen Rücken. Ich fühlte mich unwohl. Mit Tränen in den Augen blickte ich meine Eltern an und bat sie, mit der Lüge aufzuhören. Sie saßen jedoch weiterhin in der Ecke des Raumes und lagen sich weinend in den Armen.

„Es wird alles wieder in Ordnung." Die Worte der Krankenschwester, die mich beruhigen sollten, prallten an mir ab.

Es würde nie wieder etwas gut werden. Denn von nun an fehlte ein Teil meines Lebens. Und jeder Tag, jede Sekunde, die vergehen würde und in der die Erkenntnis, dass Liam nicht mehr bei mir war, wachsen würde, würde mich nicht mehr loslassen.

Ein paar Tage später wurde ich dann aus dem Krankenhaus entlassen. Eine tiefe Schramme zierte meine Stirn. Starke Blutergüsse hatten meinen gesamten Körper in ein Farbenspiel aus Blau, Gelb und Lila geworfen.

Die Schmerzen verschwanden und mit ihnen auch meine Stimme. Ich hörte auf zu reden. Kein einziges Wort verließ meine Lippen.

Die Ärzte sagten, es sei eine Phase. Ich hätte einen Schock.

Doch keiner wusste, wie es sich in Wahrheit anfühlte. Es war kein Schock.

Es war ein wuchtiger Schlag. Ein Schlag ins Gesicht. Und damit verschwand schließlich auch mein Lächeln.

Es gab für mich keinen Grund mehr, nur ansatzweise zu lächeln. Freude zu verspüren. Kein von Herzen stammendes Lachen.

Die Bilder des Abends kamen wieder. Sekunde für Sekunde. Ich erlebte immer und immer wieder diesen Abend. Immer wieder hörte ich seine Stimme und meine letzten Worte. Meine Schreie und das Klirren von Glas. Ich sah die hellen Lichter, die ins Schwarze verliefen.

Mein Körper und Verstand waren betäubt. Und mein Herz für immer zersplittert.

Und schließlich war der Tag, an dem ich mich von Liam verabschieden musste gekommen. Am Morgen öffnete ich meine Augen, als die Sonne kurz vor dem aufgehen war. Die ganze Nacht, die ganzen letzten Nächte, hatte ich kein Auge zu bekommen. Sobald ich zur Ruhe kam, beschleunigte sich mein Herzschlag und eine Panik hüllte mich ein.

Mechanisch begab ich mich in unser gemeinsames Badezimmer und schloss meine Augen, als ich vor dem großen Wandspiegel stand. In jeder kleinen Ecke fand ich Dinge, die mich an Liam erinnerten. Sein T-Shirt, welches über der Duschkabine hing, seine Zahnbürste auf dem Rand des Waschbeckens oder sein Deo, was auf dem Boden lag.

Ich stellte mich in die Dusche und drehte das Wasser kalt, bevor ich an dem Glas hinunterrutschte und zu weinen begann. Sein Shirt fiel in die Duschkabine. Der Stoff durchnässte und wurde dunkler. Ich riss es an mich, als könne es Liam zurückbringen. Sein Geruch stieg mir in die Nase und verflog wenige Sekunden später.

Ich raffte mich auf, föhnte mein Haar, tuschte mir die Wimpern und zog mir ein schwarzes Kleid über. Ich strich über den Stoff, den ich bisher nur einmal an meinem Körper getragen hatte. Und das, als meine Großmutter starb. Es war erst ein Jahr her und doch hatte ich mir vorgenommen, es höchstens in hundert Jahren ein weiteres Mal zu tragen. Der Tod war eine Trennung von dem Leben und deinen Liebsten. Damit konnte ich einfach nicht umgehen. Noch wollte ich es in irgendeiner Weise.

Ich schweifte mit meinen Gedanken ab, während ich mir durch mein Haar fuhr und mich im Badezimmer ein letztes Mal umsah. Ich konnte immer noch nicht glauben, dass mir mein Bruder genommen wurde. Von einen auf den anderen Moment.

Schließlich begann die Beerdigung. Eine Stille hatte sich über uns gelegt, eine Dunkelheit umgab uns. Mein Vater legte seine Hand auf meinem Rücken und führte mich zwischen allen Leuten, die anwesend waren, in die vorderste Reihe. Ich stolperte leicht zurück, als ich auf den Sarg von Liam schaute. Ein großer Blumenstrauß zierte den schwarzen Sarg und auf einer Gedenktafel war ein Bild von ihm aufgestellt. Ich ballte meine Hände zu Fäusten, lockerte sie und wiederholte diese Geste. Meine Atmung beschleunigte sich und ich blendete meine Umgebung aus. Ich wollte nicht hier sein. Nicht dabei zusehen, wie sein Sarg in die Erde gelassen wurde.

„Möchte jemand etwas beitragen?" Der Bestatter sah uns der Reihe nach an und erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich in Gedanken verloren gewesen war.

Mein Herz fing, zu pochen an. Ich wollte etwas beitragen. Jeder sollte wissen, wer Liam gewesen war. Wer er für mich gewesen war. Es war das Mindeste, was ich tun konnte.

„Ja." Meine Stimme versagte, doch ich raffte mich auf und straffte meine Schultern.

„Ich würde gerne etwas sagen." Die überraschten Blicke aller Anwesenden ignorierend, lief ich auf den Sarg zu. Meine Fingerspitzen berührten das kühle Holz und sofort zuckte ich zurück.

Ich räusperte mich und mied den Blick meiner Eltern. Sie weinten. Still. Wie auch Liams Freunde, Stella und meine Familie.

„Liam war nicht nur mein Bruder." Ich atmete tief durch und versuchte meine Gedanken zu sortieren. „Er war mein bester Freund und Beschützer. Er war bei mir, egal wann, egal wo. Wenn ich ihn brauchte, war er bei mir. Manchmal-", ich lachte bitter und doch in schönen Erinnerungen schwelgend. Ich dachte zurück, an all die Momente, die ich mit Liam teilen durfte. An die unzähligen Football-Spiele und an die gemeinsamen Nachmittage. Es gab kaum eine Erinnerung, in der Liam nicht vorkam.

„Manchmal konnte Liam einen wirklich nerven. Doch erst jetzt wird mir bewusst, dass ich hätte jeden Moment mit Liam genießen müssen. In unserem letzten Gespräch, sagte er mir, dass ich für ihn immer an erster Stelle stehen würde. Dass dies kein anderes Mädchen der Welt ändern könnte."

Ich holte tief Luft und sah zum ersten Mal zu Stella, die schluchzend in den Armen von Jacob, Liams besten Freund, stand.

„Unser letztes Gespräch ging um dich, Stella. Er war in dich verliebt..."

Ich hielt mir die Hand vor dem Mund und unterdrückte meine Schluchzer. Erinnerungen schlugen auf mich ein. Unser letztes Gespräch, seine letzten Worte und die schrillen Schreie, bevor es stumm wurde.

„Er wollte dich um ein Date bitten."

Ich schüttelte meinen Kopf und versuchte weiterzusprechen, doch ich bekam kein Wort über meine Lippen.

Ich sah schließlich dabei zu, wie sie Liams Sarg ganz langsam in das tiefe Loch hinab sinken ließen. Meine Knie zitterten, hielten mich nicht mehr aufrecht und ich fiel zu Boden.

Ich griff in die Seitentasche des Kleides und zerrte einen schmalen Brief hervor. Noch einmal strich ich über Liams Namen, bevor ich ihn schnell zwischen die Blumen steckte und dabei zusah, wie frische Erde seinen Sarg endgültig bedeckte.

Den weiteren Tag über verschanzte ich mich in meinem Zimmer, blockte jegliche Gespräche und Beileidsbekundungen ab und weinte stumm in mein Kissen. Die letzten Tage waren ein einziger Rausch. Wie benebelt war alles auf mich hinab geprasselt.

Ich nahm mir ein T-Shirt aus seiner Kommode und fiel eng umschlungen mit diesem und vor Erschöpfung in einen traumlosen Schlaf. Es war das erste Mal, dass ich mir wünschte, dass er nicht enden würde.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top