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Lieber grosser Bruder,
Wir wissen beide, wie oft uns das Leben schon zu Boden geschlagen hat. Zugetreten - bis wir unter Tränen angefangen haben zu schreien.
Gewimmert und gebetelt haben - oder einfach komplett zugemacht haben und alles in uns drinn zusammenfallen liessen.
Wir haben uns in realitätsferne Welten begeben - da wir die Realität selbst nicht mehr ertragen konnten.
Wir verstanden nichts mehr. Wussten auch gar nicht mehr, ob wir überhaupt vorher etwas verstanden hatten - vielleicht haben wir dies nie getan.
Haben uns in unseren Zimmern versteckt und versucht, zu überleben. Irgendwie - und verzweifelt.
Auch wenn Menschen um uns herum waren und gefragt haben, wie es uns geht - niemand hat uns mal wirklich angeschaut. Oder hat die Kraft aufgebracht, es wirklich zu tun.
Versanken in grenzenloser Einsamkeit.
Wir gaben uns die Schuld, habe ich recht?
Dachten, wir müssten die Welt verändern - es wäre unser Job, das zu tun.
Sachen zum Besseren zu wenden - stark zu bleiben und nie mal zu sagen "es geht mir beschissen".
Die anderen durften nicht sehen, wie sehr wir litten - sie hatten ja schon selbst genug Probleme.
Auch wenn wir uns in den Schlaf geweint haben - blieben wir trotzdem so lange still, bis wir irgendwann explodierten.
Wir beide - auf unsere eigene Weise.
Haben unsere Gefühle so lange in eine Box gesperrt - reingedrückt und verzweifelt zugeklebt.
Das drückende Gefühl stets gespürt - zu jeder Tageszeit. Wissend, dass es bald explodieren würde.
Irgendwann - aber nicht jetzt, dachten wir immer. Noch nicht jetzt. Bitte, um Himmelswillen noch nicht jetzt.
Aber es ist passiert - irgendwann wurde die Box zu klein.
Und wenn wir für einen Moment gedacht hatten, nun wäre es vorbei - hat am nächsten Tag schon wieder die nächste Misere an die Tür geklopft.
Als hätten wir ein Abonnement dafür gelöst, nicht wahr?
Haben alles probiert, damit wir es kündigen können - aber es hat nie funktioniert.
Wie oft wir alles einfach... verschwinden lassen wollten. Beenden wollten - einen Ausweg finden wollten. Fliehen. Endlich all dem Schmerz entfliehen.
Wie oft wir zur Flasche gegriffen haben, Rauch in unsere Lungen gezogen und uns selbst weh getan haben - in der Hoffnung darauf, vergessen zu können.
Für einen Moment - für nur eine Minute. Oder schon nur eine Sekunde. Ein Fingerschnipsen.
Aber funktioniert hat es nie, habe ich recht? Jedenfalls nicht so, wie wir es uns gewünscht hätten.
Aber wir gaben nie auf - und ich bin mir ziemlich sicher, dass auch du mittlerweile gar nicht mehr weisst, wie zur Hölle wir das geschafft haben.
Wie wir nicht einfach irgendwann mal zu tief geschnitten haben - zu nahe an den Abgrund getreten waren, oder einfach mal ein paar Tabletten zu viel eingeworfen haben.
Wir waren stark - du und ich.
Aber so hatten wir uns nie gefühlt, nicht wahr?
Vielleicht hingen wir zu sehr am Leben - nein, nicht vielleicht. Sehr wohl sogar.
Wir liebten unser Leben doch auch - wie wir zusammen Filme geschaut haben, gelacht und uns genervt haben.
Wir liebten die Leute in unserem Leben - liebten unsere Hobbies. Unsere Bücher, Videospiele, Filme und Serien.
Vielleicht hat uns das überleben lassen.
Das Licht.
Dieses kleine, schwache und verzweifelte Licht - welches wir einfach nicht ausgemacht haben. Nie.
Vielleicht hatten wir auch Angst vor der kompletten Dunkelheit gehabt. Haben genau deswegen das Licht nicht ausgemacht. Nicht ausmachen können.
Wir wollten ja doch auch nie sterben - wir wollten einfach nicht mehr leiden.
Und dann wurden wir erwachsen, nicht wahr?
Wir versanken in unrealistischen Vorstellungen darüber, wie das Leben sein muss.
Perfekt muss es sein. Wieso kann es denn verdammt nochmal nicht mal einfach sein?
Haben uns immer die Schuld gegeben - wie damals schon.
Wir dachten, wir machen zu wenig. Seien zu schwach - probierten einfach nicht stark genug.
Wir litten beide weiter - nachdem wir beide gedacht hatten, dass es nun besser werden würde.
Irgendwie hatten wir beide das Gefühl gehabt, dass wir den Berg nun bestiegen hätten.
Einen Weg gefunden hatten, dass wir endlich LEBEN konnten.
Aber wir wurden schon wieder enttäuscht - wir beide. Auf unsere eigene Weise.
Durchlebten schon wieder grenzenlose Schmerzen und lagen schon wieder verzweifelt und leblos keuchend am Boden.
Und schon wieder kam alles hoch. Die Box formte sich schon wieder - hielt willkommend ihre Türen auf, um unsere Gefühle reinstopfen zu können.
Lächelte uns wissend an. Wissend, dass wir es sowieso wieder tun würden - denn sie kannte uns beide schon.
Und doch taten wir es weniger - du und ich.
Wir versteckten zwar immer noch unsere Gefühle in der Box - aber versuchten immer wieder, in die andere Richtung zu gehen.
Uns zu öffnen - zu anderen Menschen zu gehen.
In der leisen Hoffnung darauf, dass sie uns verstehen mochten. Ähnliches erlebt hatten.
In der Hoffnung darauf, unseren Seelenverwandten zu finden.
Dieses wunderbare beschriebene Gefühl von Liebe zu fühlen. Auch wenn dies uns panische Angst machte.
Wurden wir enttäuscht? Oh ja, viele Male.
Oft wurden wir belogen - betrogen. Zerrissen und abgeschoben. Nicht verstanden - und einfach ausgetauscht.
Bekamen viele Worte zu hören, nicht wahr? Unschöne Worte. Verletzende Worte. Vernichtende Worte. Schläge. Risse.
Waren so oft am Ende - schon wieder.
Aber... doch gaben wir nicht auf.
Irgendwie - wir beide wissen wohl immer noch nicht wie.
Und auch jetzt läuft unser Leben noch nicht gerade wunderbar, oder?
An manchen Tagen möchten wir nur schreien und weinen - alles um uns herum wegschieben und in uns zusammensacken. Denken an solchen Tagen, dass alles was wir erreicht haben - gar nicht real wäre.
Aber das ist es. Trotzdem.
Ich bin zum schüchternen Entschluss gekommen, dass vielleicht das Leben nie gut ist.
Weisst du, wie ich meine?
Ich glaube wir dürfen nicht erwarten, dass uns das Leben irgendwann einfach eine perfekte Lösung zeigt - durch welche wir "normal und glücklich" wie die anderen sein können.
Wir sind gebrochen - du und ich.
Aber deswegen müssen wir nicht denken, wir müssten wieder perfekt zusammengeflickt werden.
Manche Sachen sind gebrochen - und das für immer.
Und das ist okay.
Wir sind okay.
Viele Leute verstehen uns nicht - aber viele tun das auch.
Ich bin immer wieder überrascht, wie man schockiert wird - wenn man nur mal hinter die Fassade einer Person schauen kann.
Dass dahinter etwas komplett anderes stecken kann, als man es für lange Zeit gedacht hatte.
Dass diese Person uns vielleicht viel mehr versteht, als wir dachten.
Wir müssen uns nur öffnen. Oder lernen, uns zu öffnen.
Ich weiss, wir haben es nie gelernt - du und ich. Oder hatten bessergesagt bisher viel zu viel Tragisches um uns herum, dass wir sowas überhaupt hätten lernen können.
Aber wir schaffen das, habe ich recht?
Wir gehen durch dieses verdammte Chaos - und auch wenn wir einige Male vom Weg abkommen, ist das ebenso okay.
Wir leiden. Tag für Tag.
Und wir verzweifeln und versinken in der Melancholie des unfairen Lebens.
Aber wir haben immer noch das Licht.
Das Licht, welches uns daran erinnert, dass wir bisher nie aufgegeben haben - und es auch weiterhin nicht tun werden.
Das Licht, welches uns das Schöne des Lebens zeigt - auch wenn alles beschissen scheint im Moment.
Das Licht ist da - immer.
Wir schaffen das.
Wir leben - obwohl wir beide zerbrochen sind.
Du und ich.
In Liebe
deine kleine Schwester
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