Aufgeben
Maurice zieht sich seine Jacke an und steckt seine Hände in die Taschen, bevor er mich anschaut.
"Vielleicht kannst du ja heute früher gehen", meint er und versteckt seine Haare unter seiner Kapuze. "In den letzten Tagen war er nicht hier."
Mein bester Freund muss nicht einmal seinen Namen nennen, ich weiß von wem er spricht. Manuel. Nach seinem Sturz war er nicht mehr hier. Vielleicht hat er sich doch stärker verletzt als erwartet.
"Ich warte noch eine Viertelstunde, dann räume ich auf und schließe ab", beschließe ich und mustere die Eisfläche, welche vollkommen leer ist.
"In Ordnung, wir sehen uns morgen beim Mittagessen. Wenn du vor mir da bist, bestell mir schon einen Kaffee", verabschiedet sich Maurice und verlässt die Halle, nachdem er mich noch einmal umarmt hat.
Während ich die verschiedenen Schlittschuhe desinfiziere und zurück in die großen Regale stelle, singe ich leise den Text des Liedes, welches gerade läuft, sodass ich nicht höre, dass sich die Tür öffnet und jemand die Halle betritt.
Erst als die schweren und schnellen Schritte immer lauter werden, schaue ich auf und sehe einen Jungen, der mir einen bösen Blick zuwirft, aber sich mir trotzdem nähert.
Nur die Spitzen seiner blonden Haare schauen unter seiner Kapuze hervor und trotz seiner dicken Jacke kann ich erkennen, dass er ziemlich kräftig ist. Und obwohl die Kapuze einen Schatten über sein Gesicht wirft, scheinen seine blauen Augen zu leuchten, als sei er ein Monster, das im Dunkeln lauert.
"Kann ich helfen?", frage ich und schiebe ein weiteres Paar hellblauer Schuhe in das Regal, während der Mann bei mir ankommt und mich mustert.
"Ich suche jemanden", antwortet der Mann und als er seine Hände aus den Taschen seiner Jacke holt, erkenne ich, dass diese ganz weiß sind. Er muss sie ziemlich lange zu Fäusten geballt haben, denn seine Fingernagel haben kleine Abdrücke in der Handfläche hinterlassen.
Fragend ziehe ich meine Augenbrauen in die Höhe und greife wieder nach dem Desinfektionsmittel, um das nächste und letzte Paar Schuhe zu reinigen.
"So groß ungefähr", beschreibt er die Person und hält seine Hand ein wenig in die Höhe, um die Größe zu verdeutlichen. Seine Stimme ist tief und ich kann spüren, dass die Wut in ihm brodelt. "Er hat langes, braunes Haar. Er trägt immer diese schwarze Mütze mit einem blauen Symbol. In letzter Zeit ist er ziemlich oft hier gewesen."
In mir steigt ein ungutes Gefühl auf, denn der Mann beschreibt Manuel. Und sein wütender Gesichtsausdruck bereitet mir ein wenig Sorgen.
"Er ist nicht hier. Offensichtlich. Sonst wäre er vermutlich auf dem Eis."
Ein wenig perplex schaut sich der Mann um und als er realisiert, dass tatsächlich niemand hier ist, spannt sich sein Kiefer an und er versteckt seine Hände wieder in seine Taschen.
"Diese Schlampe!", flucht er leise und sofort läuft sein Gesicht vor Wut rot an. Erstaunt schaue ich den Mann vor mir an, der in seiner Brusttasche nach etwas sucht.
Er zieht sich die Kapuze von seinem Kopf und hält sich sein Telefon an das Ohr. Als jedoch niemand seinen Anruf annimmt, flucht er erneut und beleidigt Manuel ein weiteres Mal.
"Ich weiß nicht, was bei euch vorgefallen ist, aber er gibt keinen Grund, dass du denjenigen, den du suchst, auf diese Art und Weise beleidigst", sage ich und gestikuliere dabei, wobei die Sprühflasche in meiner Hand ein wenig schwingt und mir beinahe auf den Boden fällt.
"Misch dich nicht ein", zischt der Mann bloß und scheint erneut jemanden anrufen zu wollen, jedoch ertönt wieder nur das eintönige Geräusch aus dem Lautsprecher. Wütend verstärkt der Mann seinen Griff um das Gerät in seiner Hand, sodass seine Knöchel weiß werden. Und ehe ich noch etwas sagen kann, holt er aus und das Telefon knallt mit einem lauten Geräusch gegen die nächste Wand und zerspringt in seine Einzelteile, noch bevor er auf den Boden aufkommt. Wir beide mustern das kaputte Gerät.
"War das wirklich nötig?"
Der Blick, den mir der Mann zuwirft, lässt einen kurzen Schauer über meinen Rücken laufen. Wie ein ängstliches Tier gehe ich einen Schritt zurück, jedoch folgt mir der Mann sofort. Als der Mann mich bloß mustert, gehe ich auch einen kleinen Schritt auf ihn zu, weshalb er mich überrascht anschaut.
"Vielleicht wäre eine Therapie gegen deine Aggressionsprobleme hilfreich. Du kannst nicht einfach hereinkommen, irgendwelche Leute beleidigen und dein Telefon an die Wand schmeißen. Und du solltest diesen Jungen nicht so nennen. Egal, für wen du dich hälst."
Sofort sehe ich die Anspannung in dem Gesicht meines Gegenübers und bereite mich schon darauf vor, gleich einen schmerzhaften Schlag zu spüren.
"Für wen... Ich?", fragt er schon beinahe erschrocken. "Wer ich bin?"
Er kommt einen weiteren Schritt auf mich zu, muss seinen Kopf nun etwas neigen, um mich ansehen zu können. Meine Finger krallen sich weiter um die Flasche in meiner Hand. "Ich bin sein Freund. Nicht irgendein Freund, nein. Derjenige, der ihn fickt und dessen Namen er stöhnt. Also halt dich von ihm fern."
Bevor ich reagieren kann, hat er sich bereits umgedreht und verlässt die Halle. Als hinter ihm die Tür ins Schloss fällt, atme ich erleichtert aus und spüre meinen schnellen Herzschlag.
Der Mann soll Manuels Freund sein?
Es ist nicht die Tatsache, dass er einen Freund hat, die mich überrascht. Vielmehr ist es die Tatsache, dass dieses Arschloch seine Liebe spüren darf. Jemand, der Manuels Aufmerksamkeit und Zuneigung ganz sicher nicht verdient hat.
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