Kapitel 4
Am nächsten Morgen entschied ich mich tatsächlich dazu, mit Cody zur Schule zu fahren, obwohl ich ihm klarstellte, dass es lediglich aufgrund meines Knies war. Trotzdem konnte ich deutlich spüren, wie sehr es ihn freute, und ich war dankbar für seine Begleitung. Als wir schließlich am Schulhof ankamen, war die Verwirrung bei meinen Freunden unübersehbar. Schließlich hatte ich bisher kein Wort mit Cody gesprochen und jetzt kam ich mit ihm zur Schule.
Glücklicherweise fragte niemand nach, warum wir gemeinsam gekommen waren, so dass ich mir keine Ausreden ausdenken musste.
Nur Ashley hatte mir leise zugeflüstert, dass wir später sprechen müssten. In dieser Geste lag eine sanfte Umsorgung, die mir ein Gefühl von Geborgenheit gab. Ashley war mit Cody die Einzige, die wusste, wie man mit mir umgehen musste. Sie kannte die Grenzen meiner Persönlichkeit und wusste, welche Themen zu unangenehm waren, um darüber zu sprechen. Ich schätzte ihre Diskretion und ihre Fähigkeit, mir in schwierigen Situationen beizustehen.
Ashley war eine Vertraute, eine Freundin, die tief in meinem Herzen verankert war. Auch wenn ich ihr nicht alles erzählte, wusste sie dennoch von allen anderen am meisten über mich. Ich konnte mich ihr anvertrauen, ihr meine Ängste und Sorgen mitteilen. Mit meinen anderen Freunden hatte ich nur eine oberflächliche Beziehung, die sich auf die Schule und gemeinsame Interessen beschränkte. Ich wusste, dass ich im Zweifelsfall nicht auf sie zählen konnte. Sobald sie mehr Vorteile daraus ziehen könnten, nicht mit mir befreundet zu sein, würden sie die Freundschaft ohne zu zögern beenden. Doch Ashley war anders. Sie stand zu mir, auch in schwierigen Zeiten, und das machte sie zu einer unverzichtbaren Person in meinem Leben.
Während des ganzen Schultags gelang es mir, mein Humpeln unauffällig zu kaschieren, indem ich größtenteils normal ging und den Schmerz einfach ignorierte. Daher war ich umso dankbarer für jede Gelegenheit zum Hinsetzen, die sich mir bot.
Als ich in der Tanzstunde ankam, bemühte ich mich, mein verletztes Knie unauffällig zu schonen und mich auf die Schritte und Bewegungen zu konzentrieren. Doch es dauerte nicht lange, bis ich merkte, dass Blue mich beobachtete. Sie kam auf mich zu und fragte besorgt, ob alles in Ordnung sei.
Verärgert darüber, dass Blue sich in meine Angelegenheiten einmischte, entgegnete ich ihr knapp und ohne sie anzusehen: "Ja, es geht schon." Mein Tonfall war kühl und abweisend, ich wollte keine weiteren Fragen oder Kommentare zu meinem Zustand hören. Meine Verletzung war meine Sache und ich hatte weder Blues Rat noch ihre Besorgnis nötig.
Doch Blue ließ nicht locker und meinte weiter: "Bist du sicher, dass du mitmachen kannst? Verletzungen sollte man durch unnötiges Training nicht verschlimmern." Ich sah sie geschockt an und wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Währenddessen sahen alle anderen verwirrt zu uns, auch der Tanzlehrer kam auf uns zu, da er scheinbar Blues Frage mitbekommen hatte.
Ich spürte, wie sich meine Wangen vor Scham rot färbten. Wir hatten hier eigentlich die strikte Regel bei jeglichen Verletzungen direkt zum Arzt zu gehen, um keine schwerwiegenden Folgen durch Training zu riskieren. Aber ich wollte nicht als schwach dastehen und so tat ich das, was ich immer tat: Ich ignorierte den Schmerz und versuchte, normal weiterzumachen
Als Diamond mich mit einem enttäuschten Blick ansah und sich fragte, warum sie nichts von meiner Verletzung wusste, konnte ich die Schadenfreude in ihrer trällernden Stimme förmlich spüren.
Doch bevor ich überhaupt antworten konnte, mischte sich unser Tanzlehrer Guido ein: "Alice, wenn du verletzt bist, dann kannst und darfst du nicht mitmachen. Das ist dir doch klar, oder?" Sein Tonfall war tadelnd und ich konnte förmlich spüren, wie meine Wut langsam hochkochte.
Warum glaubten alle Blue, ohne überhaupt meine Seite der Geschichte zu hören? Ich hatte noch nicht einmal die Gelegenheit dazu gehabt, mich zu meiner Verletzung und meinem aktuellen Zustand zu äußern. Doch anscheinend hatte Blue es geschafft, alle um den Finger zu wickeln und sie dazu zu bringen, ihr zu glauben.
Ich blickte entschlossen zu Guido und erwiderte: "Ich bin nicht verletzt. Ich weiß nicht, wovon Blue hier redet, aber mir geht es gut und ich bin in der Lage zu tanzen." Meine Stimme klang selbstsicher, doch innerlich brodelte die Wut.
Guido lächelte freundlich. Ich gab mein bestes Fake-Lächeln und wandte mich auch an Diamond, die es erwiderte.
Als sich die Aufmerksamkeit der anderen wieder auf den Tanzlehrer und die Schritte konzentrierte, drehte ich mich zu Blue um und sagte leise: "Ich weiß nicht, was Manuel dir genau erzählt hat, aber es ist nicht wahr. Und selbst wenn, hast du nicht das Recht, mir vorzuschreiben, ob ich Sport machen darf oder nicht."
Blue sah mich verwirrt an und fragte: "Manuel? Was hat er mit dir zu tun und warum weiß er von deiner Verletzung?" Ihr Blick wechselte schnell von Verwirrung zu Verärgerung.
"Das ist wirklich traurig und unter deinem Niveau, dass du jetzt versuchst, dich an mir zu rächen, indem du dich an meinem Bruder heranmachst", spottete Blue mit einem unverhohlenen Hohn in ihrer Stimme.
Ich konnte nicht fassen, wie schnell sich ihre Stimmung gewandelt hatte. Kaum war ihr Bruder ins Spiel gekommen, hatte sie ihr wahres Gesicht gezeigt.
Ich wandte mich lachend und überlegend von Blue ab und sagte: "Oh Blue, wenn du nur wüsstest." Es war amüsant zu sehen, wie sie sich in ihrer eigenen Fantasiewelt verrückt machte, weil sie dachte, ich hätte etwas mit ihrem Bruder zu tun.
Ich freute mich über diesen Gedanken, denn ich konnte ihn auch gegenüber Cody nutzen. Falls er wieder versuchte, mich dazu zu bringen, seine Beziehung mit Blue zu akzeptieren, würde ich einfach einwenden, dass Blue selbst nicht wollte, dass ich etwas mit ihrem Bruder machte.
Ich hatte gehofft, dass mein kleiner Stich gegen Blue ihr Tanzen beeinträchtigen würde, aber zu meiner Enttäuschung zeigte sie eine noch bessere Performance als sonst. Währenddessen tanzte ich schlechter als je zuvor. Jeder Schritt schmerzte, sodass ich nicht in der Lage war, die Schritte vollständig auszuführen. Ich musste mir mehr als nur einmal Guidos tadelndes Geschimpfe anhören, weil ich die Schritte falsch oder nicht im Takt ausführte.
Am Ende der Stunde war ich am Ende meiner Nerven. Ich hatte keine Lust mehr, auch nur einen weiteren Schritt zu gehen.
Allerdings stand noch Pilates auf meinem Trainingsplan für den Tag und ich war entschlossen, auch an meiner Ausdauer zu arbeiten. Schließlich hatte ich gestern schmerzhaft erfahren müssen, wie schlecht es um meine Kondition bestellt war. Zwar hatte ich darüber nachgedacht, joggen zu gehen, doch wollte ich diesmal auf das Fitnessstudio verzichten und stattdessen im Park laufen. Mit etwas Tape um mein Knie hoffte ich, den Schmerz beim Laufen einigermaßen erträglich zu machen.
In der Schule hatte ich bewusst darauf verzichtet, mein Knie zu tapen, um sicherzustellen, dass niemand davon erfuhr. Um sicherzugehen, dass mich auch im Park niemand aus der Schule sah, plante ich, in einen abgelegeneren Park zu fahren. Vielleicht würde ich in ein benachteiligtes Viertel fahren, wo ich sicherlich nicht erkannt werden würde.
Ich wählte einen heruntergekommenen Park aus, der in einem verarmten Stadtviertel lag und von vielen Junkies frequentiert wurde. Schon beim Einparken fiel mir auf, dass die Bäume kahl und ungepflegt aussahen und der Boden von herumliegendem Müll bedeckt war. Einige Gestalten hingen herum, einige rauchten Zigaretten, andere schienen betrunken oder unter Drogeneinfluss zu stehen. Ich hatte ein mulmiges Gefühl, als ich ausstieg und mein Auto abschloss, aber ich versuchte, mir selbst Mut zuzusprechen und mich auf das bevorstehende Training zu konzentrieren.
Obwohl mein Knie gut getaped war, konnte ich spüren, wie jeder Schritt Schmerzen verursachte. Der Bereich um die Verletzung war mittlerweile nicht mehr nur blau, sondern hatte auch eine grün-violette Färbung angenommen und war leicht angeschwollen. Trotzdem wollte ich unbedingt joggen gehen und mich auf meine Ausdauer konzentrieren. Ich atmete tief ein und aus, um mich zu beruhigen und zu fokussieren, bevor ich langsam anfing zu joggen. Jeder Schritt war ein kleiner Triumph für mich, trotz der Schmerzen weiterzumachen.
Ich joggte eine Weile lang durch den heruntergekommenen Park, vorbei an einigen schäbigen Bänken und alten Spielgeräten. Die Luft roch muffig und unangenehm, und ich konnte den Geruch von Urin und Zigarettenrauch wahrnehmen.
Während des Joggens hatte ich das Gefühl, dass mit mir etwas nicht stimmte. Mein Körper fühlte sich schwer und unkoordiniert an, als hätte ich keine Kontrolle über meine Bewegungen. Zunächst versuchte ich, das Gefühl zu ignorieren und weiterzulaufen, doch je länger ich joggte, desto schlimmer wurde es. Plötzlich wurde mir schwindelig und meine Sicht verschwamm, als hätte ich einen Blackout. Ich blinzelte mehrmals, um meine Augen zu fokussieren, aber es half nichts. Ich blieb stehen und versuchte, mich zu sammeln. Ich wusste, dass ich besser aufhören sollte, aber ich wollte meine Grenzen austesten und versuchen, weiterzulaufen.
Doch die Übelkeit übermannte mich schnell. Ich konnte das Gefühl im Magen spüren, dass etwas hochkam, und bevor ich es kontrollieren konnte, brach ich zusammen. Da ich heute bisher nur zwei Äpfel gegessen hatte, kam dementsprechend nicht viel heraus. Allerdings beruhigte sich mein Körper nicht und ich würgte stattdessen meine gesamte Magensäure hoch.
Ich hielt mich mit einer Hand an einem Baum fest, während ich mich mit der anderen Hand den Magen hielt und würgte. Meine Bauchmuskeln zogen sich schmerzhaft zusammen und ich konnte das saure Gefühl in meiner Kehle spüren. Es fühlte sich an, als würde sich mein Körper gegen das Joggen wehren. Die ganze Zeit über zitterte ich am ganzen Körper und hatte das Gefühl, dass ich jeden Moment umkippen würde.
Schließlich hörte das Würgen auf und ich konnte meine Augen wieder öffnen. Doch mein Körper bebte weiterhin und ich klammerte mich verzweifelt an den Baum. Ich hatte das Gefühl, als ob ich jeden Moment in Ohnmacht fallen würde. Es fühlte sich an, als ob alle Energie aus meinem Körper entwichen wäre und ich völlig ausgelaugt war. Tränen liefen mir über die Wangen, als ich langsam den Baum hinabglitt und auf dem Boden saß. Ich fühlte mich hilflos und konnte nichts tun, außer zu zittern. Jeder Versuch aufzustehen endete in einem kläglichen Scheitern. Ich war einfach zu schwach, um auch nur einen Schritt zu gehen.
Langsam breitete sich auch noch Panik in mir aus. Ich war allein in einer fremden Gegend, unfähig etwas zu tun. Ich fühlte mich hilflos und ausgeliefert, wie das perfekte Opfer. Während ich zitternd und weinend am Boden saß, gingen die Passanten einfach an mir vorbei. Manche von ihnen sahen mich an und schüttelten den Kopf, als ob sie mich verurteilten. Andere wiederum ignorierten mich komplett, als wäre ich unsichtbar. Das Gefühl, von der Gesellschaft verlassen zu sein, machte mir noch mehr Angst. Einige Passanten flüsterten etwas, das ich nicht genau verstehen konnte, aber es klang wie "Junkie". Das traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich war kein Junkie! Ich konnte einfach nicht mehr und mein Körper gab auf. Das Rauschen in meinen Ohren wurde immer lauter und ich nahm immer weniger von meiner Umwelt wahr.
Ich wusste nicht, wie lang ich da am Boden gesessen hatte, in meiner eigenen Welt gefangen. Plötzlich spürte ich eine warme Hand auf meinem Knie, die mich aus meiner Starre riss und ich fuhr erschrocken zusammen.
Überarbeitet: 3. Apr. 23
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