41. Kapitel
Zack's P.o.V.
Tief graue Wolken hingen schwer am Himmel und untermalten die bedrückende Atmosphäre dieses Tages. Die alte Steinkirche aus dem frühen Achtzehnten Jahrhundert thronte auf dem grasbewachsenen Hügel. Des Öfteren war ich bereits an der Sankt Johannes Kirche vorbeigefahren, doch kein einziges Mal war mir die Trostlosigkeit und Kälte aufgefallen die nun jeder Stein auszustrahlen schien. Wahrscheinlich lag es aber auch nur am Anlass, der mich hierher zog, das der Anblick der Kirche mich so traurig stimmte.
Für mich hatte es außer Frage gestanden, dass ich heute herkommen würde. Ich hatte Maria zwar nur wenige Male getroffen, doch trotzdem war sie mir ans Herz gewachsen, wie könnte sie auch nicht? Sie war so ein liebevoller, freundlicher und aufgeschlossener Mensch gewesen, das es schwer fiel sie nicht zu mögen. Deshalb war ich heute gekommen, um ihr die letzte Ehre zu erweisen und Abschied zu nehmen.
Mein Herzschlag beschleunigte sich und meine Hände begannen zu schwitzen, als ich die kühle Metallklinke herunterdrückte. Die Scharniere der großen, alten Holztür deren Farbe bereits abblätterte quietschten als ich sie öffnete. Die Kirchenbänke waren fast alle besetzt, auf einer der Mittleren erkannte ich meine Freunde, sie hatten mir einen Platz frei gehalten. Meine Schritte hallten durch die Kirche als ich auf sie zuschritt. Ich verbot es mir in die erste Reihe zu sehen, von der ich wusste, dass dort Luke und seine Familie saß. Dieses Verbot hielt ich solange bis ich mich neben Robin gesetzt und meine Freunde mit einem stummen Kopfnicken begrüßt hatte, denn sofort danach schnellte mein Blick nach vorne und meine Augen suchten nach dieser einen bestimmten Person die mein Herz gestohlen hatte. Er stand vorne vorm Altar den Rücken uns zugewandt und unterhielt sich leise mit einer älteren Dame. Einige Meter entfernt von ihnen stand der schlichte Sarg, gelbe Sonnenblumen schmückten ihn, ein Foto von einer lächelnden Maria Carolina daneben.
Die verbissenen Gesichtszüge und der unverhohlene Groll der alten Frau, die dort neben Luke stand, ließen sie ziemlich einschüchternd wirken. Ich konnte nicht hören worüber sie sprachen doch es schien kein freundlicher Plausch zu sein. Ich konnte meinen Blick nicht von ihm nehmen auch wenn er schmerzte. Es schmerzte ihm einerseits so nahe zu sein, andererseits aber zu wissen wie viel uns wirklich voneinander trennte.
Ich war so sauer gewesen an diesem Tag im Krankenhaus, sauer auf mich. Ich war so sauer gewesen, dass ich erst am Tag darauf verstand dass er mich nicht weggeschickt hatte weil ich es den Anderen gesagt hatte, er hatte mich nur ein weiteres Mal von sich gestoßen. Er hatte mich von sich gestoßen, weil er Angst hatte, mich nicht an sich ranlassen wollte, obwohl es dafür doch schon viel zu spät war. Die Wut hatte sich in Enttäuschung verwandelt und in Schmerz. Doch die Enttäuschung war verflogen als Max uns am Dienstag erzählte dass Maria gestorben sei, jedoch war der Schmerz geblieben.
Er wendete sich von der älteren Frau ab. Für einen vergessenen Moment schweifte sein Blick über die Anwesenden und fand uns, fand mich. Es waren nur einige wenige Sekunden in denen wir uns ansahen, bis er seinen Blick abwendete, doch es hatte gereicht um die Traurigkeit, die Verlorenheit und die Hoffnungslosigkeit in seinen Augen zu erkennen.
Ich wollte ihm helfen, doch ich konnte nicht. Ich wollte ihm beistehen, doch ich durfte nicht. Ich wollte ihn beschützen, doch ich tat es nicht.
‚Diesmal liegt es an ihm den ersten Schritt zu tun. Er muss selber einsehen was er verliert, wenn er dich immer wieder von sich stößt, sonst wird er es nie begreifen. ' hallten Vanessas Worte in meinem Kopf umher. Als er Donnerstag wieder in der Schule erschienen war, völlig fertig und mit diesem leeren Blick, hätte ich
ihn am liebsten in die Arme geschlossen um ihn zu trösten, doch die Anderen hatten mich davon abgehalten. Sie waren der Meinung ich sollte ihm Zeit geben.
Die Orgel ertönte schallend von der Empore hinter uns. Alle erhoben sich als der Pfarrer die Kirche betrat. Es war ein schöner Gottesdienst, Carolin trug eine Bibelstelle vor, der Geistliche hielt eine bewegende Predigt und Luke saß die ganze Zeit reglos da, Mia lag in seinen Armen. Gerade als ich dachte der Gottesdienst wäre so gut wie zu ende, verkündete der Pfarrer, das Luke noch eine Rede vorbereitet hätte. Ich war gespannt auf seine Worte, doch auch unheimlich nervös, wusste ich doch, dass ihm das alles andere als leicht fallen würde.
Er erhob sich und trat mit festen Schritten hinter den Ambo (das Lesepult). Seine Finger zitterten leicht, als er auf seiner Sakkotasche einige gefaltete Zettel hervorholte und vor sich legte. Er räusperte sich kurz, blickte mit seinen wunderschönen, kummervollen, grauen Augen auf und begann mit seiner Rede.
„Vor einiger Zeit, sagte meine Mutter folgende Worte zu mir: ‚Wenn ich eines Tages sterbe, meine Junge, dann möchte ich als Sonnenblume wieder geboren werde. ' Ich fragte sie daraufhin, warum unbedingt als Sonnenblume. ‚Weil Sonnenblumen ihren Kopf immer Richtung Sonne drehen und niemals die Schattenseite des Lebens sehen müssen. ' hatte sie darauf geantwortet." Ein leichtes lächeln tanzte um seine Mundwinkel, sein Blick starr nach vorne gerichtet, als würde er dort etwas sehen das sonst niemand sah.
„Meine Mutter liebte das Leben, doch das Leben liebte meine Mutter nicht. Viel zu früh wurde sie von uns gerissen und das Loch das sie dabei in unser aller Leben hinterließ, wird wohl niemals komplett verschwinden. Aber trotz allem, bin ich froh diese atemberaubende Frau meine Mutter nennen zu dürfen. Sie war nicht nur der positivste, liebenswerteste und selbstloseste Mensch, den ich kannte, sondern auch der stärkste. Nur ein einziges Mal, habe ich sie weinen sehen, das war an dem Tag an dem man ihr sagte, das sie sterben würde. Doch sie weinte nicht um sich selber oder um ihr eigenes Leben, sie weinte um das Leben ihrer Kinder. Sie weinte, weil sie dachte, sie würde uns im Stich lassen. Sie weinte, weil sie wusste wie sehr uns ihr Tod treffen würde und wie viel es uns abverlangen würde, ohne sie weiter zu machen.
Sie fühlte sich schuldig, dass sie uns alleine lassen musste. Sie fühlte sich schuldig für etwas worauf sie gar keinen Einfluss hatte. Doch so war sie nun mal.
Ich erinnere mich noch, dass meine Großmutter, als ich kleiner war, einmal zu ihr gesagt hatte: 'Mein Kind, wahrlich, du hast ein Herz so groß das die ganze Menschheit darin Platz fände, doch wenn du nicht aufpasst, wen du hinein lässt, dann wirst du von innen heraus kaputt gehen.'
Ich war noch so klein, dass ich nicht verstand, was sie damit meinte, doch als ich größer wurde verstand ich allmählich den Sinn hinter ihren Worten. Mit dem ersteren hatte meine Großmutter Recht, doch was das zweit anbelangte lag sie daneben. Meine Mutter war keines Wegs perfekt und auch sie hat falsche Entscheidungen getroffen und falsche Menschen in ihr Leben gelassen, dennoch schaffte es niemand sie zu brechen. Den Grund dafür erfuhr ich erst einige Zeit später. Als unser Vater ging, brach er nicht nur mir und Carolin das Herz, sondern auch meiner Mutter, das wusste ich, weil mir klar war, das sie ihn geliebt hatte. Doch keine Sekunde ließ sie es sich anmerken, wie sehr es sie verletzte was er getan hatte und das er die Sucht seiner Familie vorzog. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus, ich sprach sie darauf an, warum sie den ganzen Tag mit einem Lächeln im Gesicht herumlief, obwohl das doch alles so gar nicht zum Lächeln war. Sie hatte mich gefragt, warum sie den nicht lächeln sollte. Wir drei, Caro, Mia und ich wären alles was sie bräuchte um glücklich zu sein. Viel eher sollte unser Vater traurig sein, weil er sich für den falschen Weg entschieden hatte und jetzt nicht das Glück hatte jeden Tag mit uns verbringen zu dürfen, so wie sie es durfte." Eine kleine Träne lief ihm die Wange hinunter, zitternd holte er Luft. Es brach mir das Herz zu sehen wie er dort oben stand, nach Worten rang, darum kämpfte das seine Fassade nicht brach, stark zu sein. Es tat mir weh zu sehen, wie sehr es ihn schmerzte, wie nah er dem Abgrund war. Und die Erkenntnis, dass ich nichts tun konnte um ihm zu helfen schmerzte am meisten.
„Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass ich sie nicht jede einzelne Minute an jedem quälend langen Tag vermissen würde. All die unzähligen Erinnerungen brennen mir auf der Seele, wenn ich an sie denke. Und ich habe Angst; große Angst sogar. Davor das ich mich irgendwann nicht mehr an ihr Lächeln erinnern kann, oder wie es sich anfühlte, wenn sie mich umarmte. Was ist wenn ich den Klang ihrer Stimme vergesse? Oder die beruhigende Wirkung, die ihre Worte jedes Mal auf mich hatten?" Seine Stimme brach, eine weitere Träne rollte sein schönes Gesicht hinunter. Er räusperte sich, schluckte schwer, versuchte den Klos im Hals loszuwerden. Wie gern würde ich ihn jetzt ihn meinen Armen halten und ihm solange versichern das alles wieder gut werden würde bis es das tatsächlich wäre. Mit belegter, kratziger Stimme sprach er weiter. „Ich kann nichts tun um das Vergessen zu verhindern. Vielleicht ist es aber auch gar nicht so schlimm, wenn ihr Bild ein wenig verblasst, denn ich weiß sicher, dass niemand, nicht einmal die Zeit, es schaffen wird sie ganz aus meinem Gedächtnis zu streichen. Denn sie war die beste Mutter die man sich vorstellen konnte und für nichts auf der Welt würde ich die Zeit mit ihr eintauschen wollen. Sie hat uns geprägt und auch wenn meins Mutter nicht mehr unter uns ist, wird sie uns trotzdem weiter begleiten. Ich kann nur hoffen irgendwann nur annähernd so ein selbstloser Mensch zu werden, wie sie es war. "
Er hatte es geschafft, dass eine stumme Träne meine Wange herunter lief. Eine einzelne Träne die ganz alleine ihm galt. Eine Träne gefüllt mit all meiner Liebe für ihn. Eine Träne des Schmerzes, des Leides und des Kummers.
Schweigend nahm er seine Zettel, auf die er während seiner Rede nur wenige Male zur Hilfe hatte schauen musste, und ging wieder auf seinen Platz.
Kurz bevor der Pfarrer den Gottesdienst beendete, verkündete er das im Anschluss an den Gottesdienst die Beisetzung erfolge, bei der die Familie, aber gerne unter sich wäre.
Ich verstand diese Bitte vollkommen und hatte auch vor sie zu respektieren. Vanessa sah das anders. „Du wirst mit zur Beisetzung gehen!" verkündete sie mir kaum dass die Orgel den letzten Ton gespielt hatte.
„Hast du nicht gehört, dass die Familie unter sich bleiben möchte? Da werde ich bestimmt nicht einfach hinterher dackeln."
„Du bist ja nicht irgendwer, sondern quasi Lukes fester Freund." Erklärte sie mir. Ein kleiner Stich zuckte durch mein Herz. Würde ich das jemals sein? Sein ganz offizieller fester Freund? So wie es im Moment aussah wohl eher nicht.
„Außerdem ist das meine gute Möglichkeit noch einmal mit ihm zu rede."
„Ich glaube kaum, dass die Beerdigung seiner Mutter der passende Zeitpunkt ist ihn auf irgendetwas anzusprechen." Hielt ich dagegen. Ich war mir ziemlich sicher das Luke in letzter Zeit keinen einzigen Gedanken an mich vergeudet hatte. Was ich ihm auch wirklich nicht übel nehmen konnte. Meine Eltern waren schrecklich und wir hatten nicht mal annähernd so eine gute Beziehung wie Luke und Maria sie gehabt hatten, trotzdem würde ihr Tod mich ziemlich mitnehmen.
„Na gut. Das war vielleicht keine besonders gute Idee, aber ich glaube trotzdem, dass du mitgehen solltest. Du kannst dich ja im Hintergrund halten. Ich weiß auch nicht aber irgendetwas sagte mir, dass er dich gebrauchen könnte. Sieh ihn dir doch an, er ist mehr als am Ende." Ich nickte. Sie hatte Recht, er sah wirklich so aus als würde er jeden Moment zusammenbrechen und wenn es soweit war wollte ich ihm helfen.
Die Kirche leerte sich immer mehr, vor der ersten Reihe hatte sich eine kleine Schlange gebildet, jeder wollte der Familie sein Beileid aussprechen bevor er ging. Auch wir erhoben uns um nach vorne zu gehen. Es war eine komische Situation als wir dann vor ihm standen, keiner wusste genau was er tun sollte, naja keiner außer Vanessa. Sie tat das einzig Richtige und schlang ihre Arme um ihn. Man sah ihm an das er sichtlich überrascht aber auch erleichtert war. Es war diese Art von herzlicher Umarmung die so viel mehr als bloß Körperwärme spendete.
„Es tut mir leid." Murmelte er in ihre Haare. „Nein, mir tut es leid." Schniefte sie. Als sich die beiden nach einer gefühlten Ewigkeit wieder lösten, war Robin an der Reihe, es folgte Max, Alex und Miriam. Nur noch ich war geblieben, die anderen waren schon weiter gegangen, redeten nun mir Caro und Mia. Wir standen uns gegenüber, wichen beiden den Blicken des jeweils andern aus. Es war merkwürdig und unangenehm, die Befangenheit hatte nicht einmal bei unserer aller ersten Begegnung zwischen uns gestanden. Ich wollte ihn umarmen, doch ich war der Meinung dass es wohl nicht angebracht gewesen wäre. Deshalb streckte ich ihm nach ewig langem Zögern meine Hand entgegen. Es sah hinab auf meine ausgestreckte Hand, dann hoch in mein Gesicht. Er ergriff sie ohne den Blick zu lösen. „Mein Beileid." Murmelte ich und kam mir dabei so unfassbar dumm vor. Er nickte knapp. Wie hatte es nur soweit kommen können? Vor nicht einmal zwei Wochen war doch alles noch so schön gewesen. Es war nicht nur seine Schuld, dass es so weit gekommen war, auch meine. Ich hatte zugelassen dass er mich wieder von sich gestoßen hatte. Obwohl ich Maria versprochen hatte das ich für ihn da sein würde, das ich nicht zulassen würde das er sich zurückzog, von allem und besonders von mir distanzierte. Ich hatte mein Versprochen an eine tote Frau gebrochen und nun würde ich damit leben müssen.
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