37. Kapitel
Luke's P.o.V.
Es kam mir vor wie ein grausames Déjà-vu. Als würde mir das Schicksal seinen riesigen Mittelfinger ins Gesicht stecken und rufen: „Ätschi-Bätsch! Und schon wieder hockst du im ewig gleichen Wartezimmer, sitz dir den Hintern platt und wartest darauf das einer der Deppen im Kittel dir endlich sagt wie es deiner Mutter geht."
Das Wartezimmer war Rand voll mit Menschen. So voll, das wir nur zwei Sitzplätze ergattern konnte, weshalb Mia auf Caros Schoß vor sich hin döste und Zack mich auf seinem platziert hatte. Mal wieder hatte ich jedwedes Zeitgefühl verloren. Es war als würde die Zeit ihre Bedeutung verlieren sobald sich die Türen des Krankenhauses hinter einem geschlossen hatten. Marco war mit den Ätzten und meiner Mutter durch die weiße Schwingtür Richtung Intensivstation verschwunden, wir durften nicht mit. Sie war wie eine unsichtbare Mauer die nur für ausgewählte Menschen durchdringbar schien. Diese Mauer trennte uns Unwissende von der Erkenntnis, uns Narren von dem Schrecklichen, uns Hoffenden von der grausamen Wahrheit. Sie trennte uns Kinder von unsere Mutter.
Wäre diese Situation nicht so verdammt ernst hätte ich es genossen das Zacks Finger immer wieder beruhigend über meine Hand strich, aber so nahm ich es kaum war. Ebenso wenig vernahm ich das leise Schnarchen aus Mias Mund, das penetrant, kratzige Husten des Mannes mir schräg gegenüber oder die hysterisch quietschende Stimme der Frau neben uns, mit der sie aufgeregt ins Handy schrie.
Wie paralysiert starrte ich die hässliche Plastikblume in der linken Ecke des Raumes an. Mein Kopf schwirrte nur so vor Fragen, aber ich konnte keine greifen. Noch dazu blieb dieses Gefühl in meinem Bauch bestehen, mein Magen fühlte sich schwer wie Blei an und ich hätte mich am liebsten direkt auf die Kunststoff-Topfpflanze erbrochen. Ihrer nicht vorhandenen Schönheit würde es auf keinen Fall einen Abbruch tun.
Marco betrat das Wartezimmer. Er sah aus als wäre er in den letzten Stunden um Jahre gealtert. Er trug nun einen weißen Kittel über seine normalen Straßenklamotten, mit den Händen umklammerte er ein Klemmbrett. Ich fragte mich ob Ärzte einfach aus Prinzip immer eines mit sich herum trugen.
Er nickte uns zu sich. Ich stand auf, auch Caro erhob sich. Sie legte die schlafende Gestalt Mias behutsam auf Zacks Schoß, auf welchem ich bis vor kurzem noch gesessen hatte. Meine Beine fühlten sich merkwürdig taub an, als ich hinter Caro her, aus dem Raum schritt. Sie griff im Gehen nach meine Hand, als könnte ich ihr durch diese simple Berührung genügend Kraft schicken damit alles Unheil an ihr abprallte. Wir traten in den Flur. Ich wusste es als ich in Marcos Augen sah, er hatte keine guten Nachrichten für uns. „Wollen wir vielleicht in mein Büro gehen, da lässt es sich besser reden als hier auf dem Flur."
„Sag es einfach." Meine Stimme war rau und kratzig wie Schmirgelpapier. Er räusperte sich, musterte das Blatt auf seinem Klemmbrett dann atmete tief durch. Es waren bloß Sekunden die vergingen, dennoch wurde ich halb verrückt auf Grund seines gekünstelten heraus Zögerns.
„Sie lebt." Ein kleiner Kieselstein fiel von dem riesigen Felsbrocken der auf mein Herz drückte ab. Diese Zwei Worte erleichterten mich, doch ich spürte dass noch etwas folgen würde. „Aber, sie ist immer noch nicht bei bewusst sein. Es ist noch nicht klar ob sie wieder aufwachen wird." Wusste ich es doch.
„Ich verstehe nicht ganz. Die Ärzte haben gesagt, sie hätte noch zwei Monate! Es sind doch gerade mal drei verdammte Wochen vergangen!" Caro war sichtlich aufgebracht. Sie spielte so oft die starke Erwachsene, dass ich manchmal vergaß, dass sie selbst noch ein halbes Kind war. Ich hatte ihr in letzter Zeit eindeutig zu viel aufgelastet. Sie hatte so viel getan während ich mich mit Zack vergnügt hatte. Ich war ein miserabler Bruder.
„Es hieß, wenn es gut läuft hat sie noch zwei Monate. Wir haben nicht damit gerechnet, dass es so schnell voranschreiten wird. Ich möchte ehrlich zu euch sein, es sieht nicht gut aus. Es ist nur noch eine Frage der Zeit bis ihr Körper kapituliert." Er sprach so sachlich und neutral, dass niemand auf die Idee gekommen wäre er würde über die Frau reden von der er behauptete sie zu lieben.
Der Psychologin Elisabeth Kübler-Ross nach, durchleben wir fünf Phasen der Trauerbewältigung, wenn wir einen geliebten Menschen verlieren.
Die erste Phase: Verleugnung
„Nein. Ich glaube dir nicht! Sie wird nicht sterben! Sie wird wieder aufwachen!" Caro begann zu zittern, ihre Stimme bebte. „Los Luke! Sag es ihm! Sag ihm das sie nicht sterben wird." Sie sah mich an. In ihren Augen stand deutlich die stumme Bitte ich sollte ihr versichern, dass alles wieder gut würde. Doch wir wussten beide, dass es das nicht würde. Mit einer mechanischen Bewegung schloss ich sie in meine Arme und strich ihr sanft über ihren Haaransatz, wie ich es immer tat um sie zu trösten. Ich wusste nicht was ich fühlen sollte, was ich tun sollte, wie ich reagieren sollte. „Es ist soweit Caro. Wir wusste doch beide das der Tag kommen würde an dem wir Abschied nehmen müssen."
Zweite Phase: Wut
„NEIN!" rief sie und löste sich aus meiner Umarmung. In ihren Augen flackerte die pure Wut. Ich wusste sie war nicht wütend auf mich oder Marco, sie war auch nicht wütend auf sich selber. Sie war wütend, weil sie nichts tun konnte. Ich kannte dieses Gefühl, hatte ich es doch schließlich selber erlebt, als wir die niederschmetternde Prognose bekamen. „Ihr solltet euch schämen! Schämen, dass ihr sie aufgebt! Sie ist stark, sie schafft das! Sie hat es immer geschafft." Vor Wut und Verzweiflung begannen das salzige Liquid ihre Wangen herunter zu rinnen.
„Dürfen wir sie sehen?" fragte ich Marco, ohne auf Caros Wutanfall einzugehen. Er nickte und ging voraus. „Momentan liegt sie noch auf der Intensivstation, aber wenn ihr Zustand stabil bleibt wird sie morgen auf ein normales Zimmer verlegt." Erklärte er uns ohne sich zu uns umzudrehen.
„Hier ist es." Er deutete auf eine weiße Tür die sich kaum von der weißen Wand abhob. Ich trat vor und klopfte aus Gewohnheit an, auch wenn ich keine Antwort erwartete. Ich öffnete die Tür, dahinter kam ein steriler Raum zum Vorschein. Die Wände waren strahlend weiß, der Boden in grau blauen Linoleum gehalten, überall standen moderne Geräte herum. Auf dem weißen Bettlaken erkannte man die blasse, kränkliche und gebrechliche Gestalt meiner Mutter. Die weiße Bettdecke deren dünne blaue Streifen das einzig farbige in diesem Raum waren, bedeckte sie bis zu ihrem Bauch.
„Ich hab schon geklärt, dass einer von euch über Nacht da bleiben darf." Auf einmal klang Marcos Stimme gar nicht mehr so sachlich. Ich wusste, dass der Anblick meiner Mutter auch ihn schmerzte.
„Danke." Erwiderte ich. Er nickte und ging.
Caro flossen wieder Tränen aus den Augen. Wir setzten uns zu meiner Mutter ans Bett. Caro auf den Stuhl links, ich rechts. Ich starrte wie betäubt auf das vom Leben gezeichnete Gesicht meiner Mutter. Ihr schwerer Kampf ums Überleben stand ihr praktisch ins Gesicht geschrieben. Ebenso wie ihre Niederlage dieses Kampfes.
Meine Schwester zog ihr Bein an und schlang ihr Arme um sich, als wöllte sie sich auf dieses Art selber zusammen halten. Wie ein stetig wiederholendes Mantra murmelte sie leise: „Sie schafft das. Sie wird es schaffen. Sie muss es einfach schaffen."
Dritte Phase: Verhandlung
„Warum gerade sie? Warum nicht irgendjemand anderes? Warum nimmt Gott uns immer die guten Menschen weg?"
„Wer weiß das schon..."
„Ich würde alles dafür tun sie noch einmal Lachen zu sehen, nur noch einmal mit ihr auf dem Sofa kuscheln zu können und mit ihr dämliche Sitcoms anzuschauen. Nur noch einen einzigen Tag mit meiner Mutter, das ist alles was ich will!"
„Ich weiß." Es kehrte Stille ein, wir schwiegen beide und betrachteten unsere Mutter, nur ein kontinuierliches Piepen erfüllte den Raum.
Nach einer Weile schickte ich Caro weg, sie sollte Zack bitten, dass er sie und Mia nachhause fuhr damit die Beiden ein wenig Schlaf bekamen, morgen könnten sie wieder kommen. Ich blieb die ganze Nacht, saß still schweigend neben meiner Mutter und hielt ihr Hand in meiner. Hin und wieder tauchen Krankenschwestern auf, sie kontrollierten den Zustand meiner Mutter, schenkten mir einen mitleidigen Blick und verschwanden wieder.
Am nächsten Morgen wurde meine Mutter verlegt, da sie keine stündliche Überwachung mehr brauchte und die Zimmer auf der Intensivstation immer Mangelwahre waren. Ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, meine Augen brannten und die Müdigkeit zerrte an mir, doch ich brachte es nicht über mich jetzt einfach die Augen zu schließen und zu schlafen.
Gegen Vormittag kam Caro wieder.
„Ist sie wach?"
„Nein."
„War sie denn heute schon wach?"
„Nein!"
„Denkst du sie wird noch aufwachen?"
„Gottverdammt, ich hoffe es!"
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Vierte Phase: Verzweiflung
„Es tut so schrecklich weh, Luke. Mein Herz fühlt sich an als hätte jemand mit einem Schlachtmesser darauf eingestochen bis es nicht mehr schlagen kann."
„Der Schmerz ist der Beweis das du am Leben bist."
„Ich habe das Gefühl innerlich zu sterben, so sehr schmerzt es."
„Erst wenn du nichts mehr fühlst bist du Tod."
„Woher willst du das wissen?"
„Weil ich mein Herz nicht mehr spüren kann. Vielleicht hat es ja aufgehört zu schlagen."
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„Ich geh mir einen Kaffee holen, willst du auch einen?"
Ich zuckte mit den Schultern.
„Ich bring dir einen mit."
Sie ging.
„Weißt du noch als ich sieben war? Du musstest mir jeden Abend Bambi vorlesen, weil ich sonst nicht eingeschlafen bin. Und jedes Mal, wenn du zur Stelle kamst als Bambis Mutter erschossen wurde und ich in Tränen ausbrach, hast du mir versichert, das seine Mutter niemals wirklich tot sein würde, weil Mütter ihre Kinder nicht alleine lassen. Du hast immer gesagt, dass sie bei ihm war, er sie aber nur nicht sah. Damit konntest du mich immer trösten, es hatte mich beruhigt zu wissen, dass Bambi nicht alleine war.
Aber auch wenn du immer da sein wirst, fühle ich mich trotzdem so furchtbar einsam."
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„Wusstest du das Oktopus-Weibchen ihre 50.000 bis 100.000 Eier drei Monate lang bewachen und säubern, ohne ihnen von der Seite zu weichen. Und dann wenn die Kleinen schlüpfen, stirbt die Mutter an Entkräftigung und Unterernährung.
Trotzdem bleibst du die beste Mutter auf der Welt."
„Was machst du da, Luki?" Mia stand plötzlich im Raum. Caro hatte erwähnt das unsere Nachbarn sie gegen Mittag herbringen wollten.
„Ich rede mit Mama."
„Warum?"
„Weil ich das Gefühl habe, das sie mich hört und versteht was ich sage."
„Und was erzählst du ihr?" Sie kam auf mich zu und kletterte auf meinen Schoß.
„Einfach irgendwas. Etwas das mir durch den Kopf geht oder eine Erinnerung an früher die mir wieder einfällt."
„Kannst du ihr eine Erinnerung an mich erzählen?"
„Das kannst du auch selber machen, Süße."
„Mir fällt aber nichts ein."
„Na gut...
Weißt du noch, Mama, als du mit Mia aus dem Krankhaus zurück kamst? Sie war so klein, das ich Angst hatte sie kaputt zu machen, wenn ich sie berühre. Ich weiß noch wie du sagtest: 'Luke, diesen kleinen Zwerg musst du hüten wie deinen Augapfel. Genauso wie du es bei Caro tust. Du musst auf sie aufpassen und sie beschützen, denn deine Schwestern sind etwas ganz besonderes, genauso wie du. Eines Tages werden sie selber auf sich aufpassen können, aber bis dahin musst du das für sie tun.' Ich habe es dir damals versprochen und du weißt das ich meine Versprechen niemals breche."
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„Du hast immer gesagt das Liebe niemals stirbt.
Aber du hast nie erwähnt, dass es viel mehr weh tut, wenn sie am Leben bleibt."
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