Neuanfang

Vilya hatte sich zum Springen entschieden. Sie redete sich ein, dass dies der angenehmere Tod wäre und selbst wenn sie die Orks hätte besiegen können, so hätte sie sich immer noch durch den halben Berg durchschlagen müssen.

Die kalte Luft zog an ihr vorbei und grub sich wie kleine Krallen in die empfindliche Haut ihres Gesichts. Sie war so eingenommen von Angst vor dem, was sie erwartete, dass der Sprung ihr unheimlich kurz vorkam.
Die Wasseroberfläche war hart wie Stein, als sie aufprallte, die Arme um ihren Körper geschlungen. Zuerst spürte sie einen unfassbar starken stechenden Schmerz, dann waren ihre Beine taub und die Kälte des Sees umfing sie. Die Luft wurde ihr aus der Kehle gedrückt. Sie konnte sich nicht bewegen, konnte nicht schwimmen, die Strömung hatte sie erfasst und drückte sie unter Wasser.
Sie hätte es kaum für möglich gehalten, doch je tiefer sie sank, desto kälter wurde es.

Ihre Gedanken reisten zurück zum Grünwald, zu ihrer Familie, ihrer Schwester. Wer sollte sie nun vor ihrem Vater beschützen? Waren Trîwen und Talma vielleicht bereits zurückgereist und hatten erzählt, dass Vilya in den Krieg gezogen war? Würden sie sich die Schuld an ihrem Tod geben?
Und was war mit Legolas, mit ihrer Verbindung zu ihm? Sie konnte jetzt nicht aufgeben, ohne zu wissen, ob da nicht doch etwas daraus geworden wäre!

Sie streckte ihren Körper etwas aus. Ihre Hand stieß an den erdigen Boden des Gewässers. Ihr Orientierungssinn war so durcheinander, dass sie nicht mehr wusste, wo unten und oben war. Als sie ihre Augen aufriss, war es pechschwarz vor ihr. Wie tief war sie gesunken? Gab es überhaupt noch realistische Hoffnung jemals an die Oberfläche zurückzugelangen?

Mit wilden, unkontrollierten Bewegungen löste sie ihren Gürtel und warf ihre Waffen ab. Sofort spürte sie, wie sie etwas leichter wurde, doch der Mangel an Luft stieg ihr zu Kopf. Elben waren widerstandsfähig, doch nicht unsterblich.
Plötzlich spürte sie, wie sich das Wasser um sie herum zu bewegen begann, doch nicht wie eine zufällige Strömung, vielmehr, wie zwei sanfte Hände, die sie zum Ufer trugen.
Vilya hatte Angst, doch gleichzeitig wusste sie, dass sie sich keinesfalls fürchten musste. Sie wurde gerettet und das von einer Macht, die sich lange nicht mehr in so eindeutiger Form gezeigt hatte. Was hatte das zu bedeuten?

Ihre Finger krallten sich in die sandige Erde. Mit ihrer letzten Kraft zog sie sich aus dem Wasser und atmete halb erstickt die kalte Winterluft ein, die ihr die Lunge zusammenzog.
Schwer atmend und hustend rollte sie sich auf die Seite und blieb für einige Minuten regungslos liegen.

Sie konnte nicht denken, konnte sich nicht bewegen. Alles tat weh und war gleichzeitig taub, als würde eine Alarmglocke in ihrem Inneren läuten.
Ihre Beine lagen immer noch in dem eiskalten Wasser, doch sie bemerkte es nicht. Sie fühlten sich an wie zwei Eisklötze, die von ihrem Körper weghingen.
Als sie bemerkte, dass sie kurz vorm Einschlafen war, zog sie sich mühsam auf alle Viere auf. Sie wusste, dass Schlaf den Tod bedeutete, genauso, wie sie wusste, dass die dumpfe Wärme, die sich in ihrem Körper langsam ausbreitete, trügerisch war.
Ihre Kleidung war schwer und kleine Eisblumen bildeten sich langsam in ihren Haaren. Die Lippen waren aufgeplatzt, die Haut fahl und blass.
Doch sie hatte es so weit gebracht, jetzt konnte sie nicht aufgeben.
Wo war Osten?

Sie hatte nicht das Gleichgewicht oder die Kraft aufrechtzustehen und sich umzusehen, also stolperte sie einfach los in irgendeine Richtung, hoffend, dass sie zumindest annähernd die richtige war.

Atmen brannte ihr im Hals, die Teile ihres Körpers, die sie noch spürte, zitterten oder schmerzten. Plötzlich schien es so verlockend sich einfach in den Schnee zu legen und zu schlafen, Kraft zu sammeln.
Sie wusste nicht, wie weit sie gelaufen war, als sie über etwas im Schnee stolperte. Es war Nacht geworden. Die Sterne standen weit oben am Himmel, so weit weg, wie sie selten gewirkt hatten.
Sie fiel auf die Knie und legte den Kopf in den Nacken.
Stimmen riefen aus einiger Entfernung. Sie konnte ihren Blick nicht von den Sternen abwenden. Sie war müde, so müde.

Ohnmächtig kippte sie nach hinten und blieb im Pulverschnee liegen.
Die Stimmen kamen näher und entpuppten sich als einige Elben, die nach Überlebenden Ausschau gehalten hatten.
Einer von ihnen nahm sie auf seine Arme und machte sich auf den Weg zum Lager im Süden. Die anderen fuhren mit ihrer Suche fort.

Im Lager hatte Faenen inzwischen sein Bewusstsein wiedererlangt und Prinzen waren bekanntlich nicht die besten Patienten. Bevor die Heiler überhaupt wussten, dass er wach war, stand er bereits auf den Beinen und sah sich um. Er war in der Mitte einiger provisorischer Betten, über die ein Zelt gespannt war.
„Prinz Faenen! Ihr könnt noch nicht aufstehen!", rief einer der Heiler und kam schnell auf ihn zu.
„Meinen Beinen geht es gut", brummte dieser bloß und wollte schon flüchten, als der junge Elb sich ihm in den Weg stellte.
„Aber Eurer Lunge nicht."
„Ich kann atmen, wie du siehst." Unbeeindruckt schob der Prinz sich an ihm vorbei.
„Aber Ihr braucht Ruhe", protestierte der Heiler wieder, doch war sich offenbar nicht so sicher, ob er ihn physisch aufhalten durfte.
„Später", er blieb stehen und drehte sich um. „Eine Elbin, sehr jung, dunkelbraune Haare, blasse Haut, ist sie hier?"
Der Heiler dachte kurz nach, doch schüttelte dann den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste, mein Herr, doch wir sind nicht das einzige Zelt."
Faenen nickte und seufzte schwer. „Legolas und mein Vater?"
Er zögerte und wandte den Blick ab. Der Prinz trat sofort einen Schritt auf ihn zu. „Was ist passiert?"
„Ihr solltet Euren Vater fragen", sagte er schließlich etwas unsicher.
Faenen runzelte besorgt die Stirn und drehte sich schon um.
„Prinz Faenen", wurde er aufgehalten. „Falls die Schmerzen zurückkehren", fügte er hinzu und holte ein kleines Fläschchen aus seiner Manteltasche hervor. Eine durchsichtige, dicke Flüssigkeit war darin enthalten.
Faenen nahm es an, nickte dankend und verließ dann das Zelt. Natürlich spürte er noch Schmerzen in seinem Oberkörper, doch es gab gerade eben Dinge, die wichtiger waren.

Draußen schlug ihm die Kälte entgegen, doch die Luft war frisch und klar. Der Elb nahm erst einige vorsichtige Atemzüge, dann setzte er seinen Weg zu dem einzigen weiß-goldenen Zelt fort.
Das Lager war nicht groß, kein Vergleich zu dem bei ihrer Hinreise. Die Schlacht hatte große Opfer gekostet und war offenbar auch noch verloren worden. Sonst würden sie sich gerade im Inneren des Berges befinden.
Von dem ausgehend, was Faenen im Dunklen erkannte, waren es nur wenige hundert, die überlebt hatten.

Als er sich dem königlichen Zelt näherte, vernahm er bereits von Weitem aufgebrachte Stimmen.
„Sie haben uns ins offene Messer laufenlassen!"
„Sie wurden selbst angegriffen, Thranduil. Die Orks kannten unseren Plan, sie waren uns haushoch überlegen, das hatten wir nicht kommen sehen, daran hat das Blaue Volk keine Schuld!"
„Die Schlacht war einfach viel zu kurzfristig angesetzt. Ich hätte dem niemals zustimmen dürfen. Diese Allianz kann keine Zukunft haben!"
„Das Opfer ist gebracht, Bruder, die Frage ist nur, was du jetzt daraus machst. Gehst du zurück in Palast und tust, als wäre nie etwas gewesen, lässt die Toten für Nichts sterben? Oder festigst du jetzt diese Verbindung und profitierst vom Wissen, Reichtum und der Handwerkskunst unserer Verbündeten?"

Faenen blieb stehen und wartete auf die Antwort, die sich Zeit ließ.
„Scheint, als würde unser beider Schicksal dort drinnen entschieden werden", hörte er plötzlich hinter sich. Er zuckte leicht zusammen und warf einen Blick über die Schulter. Legolas stellte sich neben ihn. Er hatte die Arme verschränkt und starrte kühl geradeaus auf das golden umrahmte Zelt.
„Ich wurde zwar weggeschickt, aber ich kann mir denken, was mit die Allianz festigen gemeint ist. Ich bin der einzige Prinz und werde es auch bleiben, zumindest für eine sehr lange Zeit. Es ist meine Aufgabe diese Bündnisse zu sichern. Welches Opfer ich auch immer dafür erbringen muss."
Legolas senkte den Blick. Faenen biss sich auf die Lippe und nickte.
„Und mich werden sie nicht im Reich dulden, in keinem der beiden", führte er seinen Gedanken zu Ende.
„Warum hast du eigentlich spioniert? Nur aus Loyalität zu deinem Vater?", fragte Legolas und richtete sich etwas auf.
Sein Cousin zögerte lange. Er durfte nichts sagen, doch er wollte ihn auch nicht verärgern.

„Nein, nicht aus Loyalität zu meinem Vater", murmelte er schließlich und wandte sich ab.
„Meine Mutter ist gestorben", sagte Legolas einfach und starrte weiterhin auf das Zelt vor ihm.
Faenen blieb sofort stehen und sah schockiert zu dem Prinzen.
„Niemand kann vorhersehen, welche Entscheidungen mein Vater nun treffen wird. Du solltest aufpassen", fuhr er fort. Faenen war immer noch so schockiert, dass er nicht antworten konnte.
Legolas' Blick wurde von einem Neuankömmling in der Dunkelheit abgelenkt.
„Vilya", hauchte er leise und setzte sich sofort in Bewegung.
Auch Faenen drehte sich um und erkannte die kleine, zierliche Elbin in den Armen eines Spähers.

Vilya wachte eingewickelt in zwei weiche Decken auf. Ihr war noch kalt bis ins Mark und sie spürte die Nässe auf ihrer Haut, doch wenigstens war etwas Gefühl in ihren Extremitäten zurückgekehrt.
„Vilya", sagte eine leise, sehr sanfte Stimme neben ihr. Ihr Herz pochte sofort etwas schneller. Seine Stimme war unverwechselbar.
Sie hob ihre schweren Lider und versuchte ihre Hand zu bewegen, doch die war fest eingepackt in die Decken.
„Ganz ruhig. Hier, ein Heiler war gerade da und hat mir das gegeben", fuhr Legolas fort und führte zwei braungrüne Pastillen zu ihrem Mund. Die Elbin dachte nicht lange darüber nach und zerkaute sie kurz, bevor sie sie schluckte. Ihr Kopf dröhnte und ihr Gedächtnis war noch etwas verschwommen.
Sofort spürte sie, wie die Wärme sich in ihrem Körper verteilte und ihr neue Energie gab. Damit merkte sie jedoch wiederum die Prellungen, die sie sich durch den Sturz und die Kämpfe zugezogen hatte.
„Legolas", sagte sie leise und versuchte ihre Hand aus der Decke zu holen, doch er schüttelte schnell den Kopf.
„Du solltest dich ausruhen", sagte er ruhig und stand auf.
„Legolas", wiederholte sie, diesmal verzweifelter. Sie wollte nicht, dass er ging. Etwas stimmte nicht, das konnte sie ihm ansehen.
„Ich wollte bloß sicherstellen, dass es dir gut geht." Er begann sich abzuwenden, aber so schnell gab Vilya nicht auf.
„Was soll das heißen?", fragte sie schnell und hätte sich aufgesetzt, wenn sie gekonnt hätte.
Legolas zögerte und seufzte. „Das mit uns hätte niemals funktioniert, Vilya. Ich bin ein Prinz, ich kann mir nicht aussuchen, mit wem ich mein Leben verbringe. Außerdem weißt du doch gar nicht, was es bedeutet Prinzessin zu sein. Du solltest in dein Dorf zurückkehren", erklärte er sanft und strich kurz über die Decke, bevor er sich abermals abwandte und davonging.
Vilya starrte ihm mit offenem Mund hinterher. Er war es gewesen, wegen dem sie diese weite Reise angetreten hatte, wegen dem sie gekämpft hatte, wegen dem sie fast gestorben wäre. Und jetzt warf er sie weg, als wäre sie bloß eine Bekanntschaft gewesen. Es schmerzte, doch genauso wütend machte es sie.

Ein neuer Besucher näherte sich ihrem Bett. Es war Faenen.
Mit den Händen in den weich ausgestopften Manteltaschen blieb er vor ihrem Bett stehen und musterte den Berg von Decken für einen Moment.
„Ich bin wohl zu Dank verpflichtet", sagte er mit einem kleinen Lächeln. Auch Vilya musste schmunzeln. Es fühlte sich gut an, dass er sie endlich mal ohne Missachtung ansah. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl hinter seine kühle Fassade blicken zu dürfen.
„Wir haben uns gegenseitig das Leben gerettet", antwortete sie und hatte inzwischen genug Kraft gesammelt, um ihre Decken etwas hinunterschieben zu können.
„Ja, aber du bist diejenige, die hier immer noch auf dem Heilerbett liegt."
„Du solltest auch noch nicht auf den Beinen sein mit deiner Verletzung", lachte die Elbin und bewegte ihre Hände und Füße, um wieder Gefühl in ihnen zu bekommen.
Faenen lachte leise und nickte.
„Das hier ist eigentlich auch gleichzeitig ein Abschied. Ich weiß nicht, wann ich zum Waldlandreich zurückkehren werde", gab er zu und senkte den Blick. Vilya runzelte die Stirn und wollte nachfragen, als er sie bereits unterbrach: „Politische Gründe."
„Wohin wirst du gehen?"
Er seufzte und zuckte mit den Brauen. „Ich weiß es nicht. Nach Imladris für den Anfang und von dort, wohin es mich auch immer zieht, nehme ich an", sagte er nachdenklich.
„Lass mich mitkommen."
Faenen schnaubte belustigt. „Wirst du mir sonst wieder mit einer alten Feindin von mir folgen?"
„Ich bin Legolas gefolgt und nicht dir", lachte Vilya und wurde wieder etwas ernster. „Er hat mir gerade gesagt, dass wir keine Zukunft haben, dass ich mich vom Palast fernhalten soll. Aber ich kann nicht zurück in mein Dorf, nicht nachdem, was im Gundabad passiert ist, nicht nach all dem."
Der Prinz senkte den Blick und nickte leicht. „Kannst du gehen?"
„Jetzt?", fragte die Elbin überrascht.
„Ich würde noch Medikamente, einen neuen Mantel und Waffen für dich holen, aber ansonsten sollten wir gehen, bevor der König und mein Vater ihre Diskussion beendet haben."
Vilya sah immer nochetwas verwirrt ihren neuen Reisegefährten an, doch nickte einfach alsZustimmung. Faenen lächelte. „Ich werde dir später alles erklären."

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