Flucht aus dem Palast

Prinz Faenen hatte, wie Legolas auch, ein Arbeitszimmer, dessen Tür meistens weit offenstand. Er mochte es zwar nicht sonderlich gestört zu werden, doch war sich seinen Pflichten bewusst und stand für Fragen und Probleme zur Verfügung.
Vilya wusste, dass er nicht gut auf sie zu sprechen war, doch immerhin war er derjenige, der etwas von ihr wollte und nicht andersherum.

Deswegen zögerte sie nicht länger, als sie vor dem Arbeitszimmer angekommen war und klopfte an die Tür, die sperrangelweit offenstand.
„Prinz Faenen?", machte sie auf sich aufmerksam. Der braunhaarige Elb sah etwas überrascht auf und musterte sie für einen Moment. Er war vertieft über einigen Pergamenten an seinem Tisch gesessen.
„Ich habe keine Zeit. Hast du Legolas überzeugt?", fragte er und wandte sich schon ab.
„Darum geht es", erwiderte Vilya ernst, worauf Faenen zögerte und tief seufzte. Etwas widerwillig deutete er ihr einzutreten und schob die Pergamente auf einen Haufen zusammen.

Ohne zu fragen, schloss sie einfach die Tür hinter sich. Was sie besprechen würden, war nicht für die Ohren von Wachen bestimmt. Der Prinz warf ihr zwar einen etwas misstrauischen Blick zu, doch blieb stumm.
„Ich denke nicht, dass ich ihn überzeugen kann, während wir hier im Palast sind. Wenn ich allerdings nachkommen würde zum Gundabad, ohne, dass er davon weiß, könnte ich am Abend vor der Schlacht auftauchen und mit ihm reden. Er wird sicherstellen wollen, dass ich nicht mitkämpfe und bei mir bleiben", erklärte sie ihren Plan und trat langsam näher.
Faenen sah nicht überzeugt aus. Er verschränkte die Arme und lehnte sich zurück in seinem Stuhl.
„Er wird einfach Wachen mit dir zurücklassen, und alles, was du dort sagen könntest, kannst du auch hier sagen", widersprach er in seiner dunklen, ernsten Stimme.
„Dann werde ich ihn überzeugen, dass ich seinen Wachen entwischen kann", sagte Vilya schulterzuckend. Er lachte kurz.
„Und wie willst du das anstellen?"
Sie zögerte und wandte den Blick ab. Das hatte sie sich noch nicht überlegt.

Stille breitete sich für einige Sekunden zwischen ihnen aus. Faenen sah sie nachdenklich an. Er hatte bereits eine Idee und wog ab, wie realistisch sie war.
„Bring ihn dazu, jetzt schon Wachen abzustellen, die dich hier festhalten sollen. Wenn du es schaffst ihnen zu entwischen, kannst du nachkommen. Damit hast du Legolas vielleicht bewiesen, dass nur er dich davon abbringen kann in diese Schlacht zu ziehen. Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich funktioniert, aber einen Versuch ist es wert", seufzte er schließlich und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
„Und wie soll ich seinen Wachen entkommen?", fragte Vilya ungläubig.
„Das ist dein Problem. Ich werde jemanden abstellen, der dir eine Rüstung, Waffen und genügend Proviant in deine Gemächer bringt", antwortete der Elb anteilslos und hatte damit dieses Gespräch offenbar für beendet erklärt.
„Ich habe noch nicht einmal Gemächer", murmelte die Schülerin, wobei sie sich nicht sicher war, ob er es verstanden hatte.
„Jetzt hast du welche."

Es war eindeutig, dass er seine Ruhe wollte, weshalb Vilya einfach ging. Das war nicht unbedingt so gelaufen, wie sie es geplant hatte. Jetzt musste sie mit Legolas streiten und dann auch noch irgendwie seinen Wachen entkommen, deren Befehl es war rund um die Uhr auf sie aufzupassen, anstatt einfach Faenens Unterstützung bei ihrer Reise zu bekommen.

Den Sohn des Königs zu finden war nicht sonderlich schwer. Er war in den Waffenkammern seine Rüstung und Waffen holen.
Reihen von Elben waren gebildet, um die riesigen Kammern zu leeren, jeder war beschäftigt und etwas gestresst am Arbeiten.
Legolas stand dazwischen, erteilte Befehle und nahm Berichte entgegen. Seine Augen funkelten aufgeregt. Er hatte selten den ganzen Palast auf den Füßen gesehen.

Sein Blick fiel schnell auf Vilya, worauf sein Lächeln noch ein wenig breiter wurde.
„Hey, was tust du hier unten?", fragte er und schob sich zu ihr durch.
„Meine Waffen holen für die Schlacht", erwiderte sie einfach und sah bereits an ihm vorbei. Er legte seinen Kopf ungläubig schief und wartete auf eine andere Antwort, doch die kam nicht.
Also nahm er sie sanft am Arm und zog sie mit sich auf die Seite in eine ruhige Ecke.
„Wenn du gehst, werde ich auch gehen", unterbrach sie ihn schnell und blickte ihm entschlossen in die Augen.
Er zögerte und seufzte leicht. „Was, wenn ich dir befehle hierzubleiben?"
„Ich bezweifle, dass es wirklich Folgen haben wird, wenn ich deinen Befehl ignoriere", sagte sie einfach selbstbewusst. Er hob seine Brauen und lachte.
„Ach, wirklich?" Er tat einen Schritt auf sie zu. Sie blieb, wo sie war und nickte.
„Ich bin nicht nur dein Freund, ich bin auch dein Prinz, Vilya."
„Das hat sich vorhin nicht so angefühlt."
Er zögerte und sah in die Richtung, in der noch immer viele Elben die Rüstungen ausräumten. Sie waren etwas abgeschirmt.

Er legte seine Hand an ihre Wange und kam noch ein kleines Stückchen näher.
„Meine Mutter würde auch meinem Vater gehorchen, wenn er ihr einen eindeutigen Befehl gibt. Er ist nun einmal der König, so wie ich der Prinz bin."
„Würde dein Vater deiner Mutter einen Befehl geben?", fragte Vilya sofort, wobei sie sich sehr sicher war, dass sie die Antwort kannte.
Das lange Zögern ihres Freundes bestätigte sie in ihrem Verdacht.

„Ich will das nicht tun, Vilya, aber wenn du mir nicht gehorchst, habe ich keine andere Wahl."
Vilya spürte, wie sie tatsächlich etwas wütend wurde. Sie mochte es nicht, wenn andere sich über sie stellten, vor allem, wenn diese Personen auch noch in ihrem Alter waren. Für sie war er niemals der Prinz gewesen, sie verstand natürlich, dass er eigentlich die Befehlsgewalt besaß, aber in ihrem Kopf war er immer noch der nette Schüler, der außergewöhnliche Fähigkeiten für sein Alter besaß.
Sie hatte zwar diesen Streit absichtlich provozieren wollen, doch nun wollte sie nicht mehr diskutieren. Er hatte recht und so wütend sie das auch machte, das konnte sie nicht bestreiten.
Also wich sie nun doch endlich einen Schritt zurück.
„Vergiss es", zischte sie und wandte sich ab. Legolas hielt sie nicht auf und sah ihr einige Sekunden still hinterher. Er würde dennoch sicherstellen, dass sie der Armee nicht folgte.

Vilya machte sich wieder auf den Weg zurück zu den Haupthallen, um ihre Freunde wiederzufinden. Noch bevor sie die ersten Stufen nach oben treten konnte, wurde sie bereits abgefangen. Ein großer Elb mit dunklen Haaren rannte ihr hinterher. Sie blieb sofort stehen als sie ihn erkannte.
„Ihr", rutschte es ihr überrascht heraus. Es war die Wache, die sie an dem Tag, an dem Legolas abgereist war, vor Ilmalca gerettet hatte.
Er lächelte etwas amüsiert. „Ich denke ich bin derjenige, der Euch so ansprechen sollte", sagte er und verneigte sich knapp. Vilyas Mund stand einen Moment etwas überfordert offen. Hatte Legolas es ihm gesagt?
„Ich... ich habe keinen Adelstitel", brachte sie langsam hervor.
„Ihr seid eine Freundin des Prinzen, das genügt", antwortete der Elb, der wieder in seine aufrechte Haltung gefallen war, wie alle Wachen, wenn sich ihr Herr in der Nähe befand. Vilya wusste nicht, was sie davon halten sollte. Er war ganz anders gewesen in ihrem Dorf. Die Warnung, die er als Abschied ausgesprochen hatte, war ihr lange in Gedanken geblieben.
„Ich weiß nicht einmal wie Ihr... du heißt." Sie schluckte schwer. Alles sträubte sich in ihr einen solch alten, erfahrenen Elben so anzusprechen. In ihrem Dorf hatte sie nie jemanden gesehen, der eine derartige Ausstrahlung hatte.
„Mein Name lautet Gwilith, Sohn von Orntalma", stellte er sich vor. Die Schülerin runzelte die Stirn und wandte den Blick ab. Etwas sagte ihr der Name Orntalma, doch sie war sich nicht sicher was.
„Mein Vater war ein Überlebender aus Gondolin", erklärte Gwilith, der ihre Verwirrung bemerkt hatte. Sie sah mit leicht offenstehendem Mund auf. Ein Überlebender aus Gondolin? Wohnten diese Elben nicht in Lindon?
„Wir sollten von den Stiegen hinunter, wenn Ihr erlaubt", wechselte die Wache das Thema. Vilya, immer noch etwas perplex, nickte schnell und drehte sich um, um nach oben zu gehen.

„Darf ich eine Frage stellen?", fragte sie vorsichtig als sie oben waren. Der Elb hatte sich hinter ihr gehalten und holte nun so weit auf, dass er neben ihr ging. Er war immer noch amüsiert darüber, dass sie so schlecht mit einer Leibwache umgehen konnte, doch ließ es darauf beruhen.
„Was Ihr gesagt habt, als wir uns verabschiedet haben in meinem Dorf. Was hat es bedeutet?"
Er zuckte mit den Brauen und versteckte ein Lächeln. Sie hatte ihn schon wieder falsch angesprochen.
„Das kann ich Euch nicht sagen, denn es ist nicht mein Schicksal, das ich sehe. Mehr als das, was ich Euch bereits gesagt habe, weiß ich nicht."
„Ihr habt von einem grünen Tod und Verrat gesprochen." Er blieb stehen und ging etwas auf die Seite. Vilya folgte ihm schnell.
„Ihr werdet es wissen, wenn Ihr es seht. Ich kann Euch nicht weiterhelfen", er machte eine Pause und warf einen Blick über die Schulter. „Wichtiger ist, dass ich nun Eure Leibwache bin und nicht andersherum. Ihr könnt mich nicht mehr so ansprechen."
Vilya biss sich leicht auf die Lippe und sah zu Boden. „Aber Ihr kommt aus Gondolin, Ihr solltet keine Wache sein", sagte sie leise.
„Mein Vater stammte aus Gondolin. Ich wurde an den Sirionmündungen geboren und als mein Vater bei dem Sippenmord erschlagen wurde, hat meine Mutter mich hierhergebracht. Ich war zu der Zeit noch ein kleiner Junge. Ich kenne nichts anderes als das Waldlandreich, und eine königliche Wache sein zu dürfen ist schon Ehre genug."
Vilya nickte leicht. Gwilith nahm einen Schritt Abstand und wartete, bis sie sich wieder in Bewegung setzte. Doch sie zögerte noch kurz. „Ist es möglich, dass du mich ebenso ansprichst? Ich hatte nie Wachen, ich bin mir nicht sicher, wie ich damit umgehen soll", fragte sie leise und spielte unsicher mit den Fingern. Der Elb lächelte und neigte den Kopf.
„Wie du wünscht."
Vilya atmete tief durch und setzte ihren Weg in die Haupthallen fort.

Von der Weiten sah sie Trîwen und Talma mit drei Wachen sprechen, die alle sehr belustigt schienen.
Als Vilya und Gwilith sich näherten, verstummten sie schnell und richteten sich etwas gerader auf. Trîwen drehte sich verwirrt um und sah ihre Freundin mit dem viel größeren, beeindruckenden Elben, der bereits drei Zeitalter miterlebt hatte. Ihre Augen weiteten sich überrascht.
„Ist etwas passiert?", fragte sie und sah von der königlichen Wache zu Vilya und wieder zurück.
„Oh, nein, das ist Gwilith, ich habe mich verlaufen und er hat mich hierhergebracht", erklärte die Schülerin etwas holprig. Sie hatte sich noch keine glaubwürdige Erklärung für ihren Begleiter einfallen lassen.

Gwilith sah bloß zu den drei Wachen, die sich zurückhielten und ihren Blick abwandten. Sie wussten zweifellos, dass jemand wie er nicht einfach irgendwelchen verlorenen Schülern half.
„Du wirst nicht glauben, was wir gerade herausgefunden haben", fuhr Talma dazwischen. Seine braunen Augen leuchteten aufgeregt.
„Wir haben anscheinend Gemächer erhalten", erklärte Trîwen amüsiert und sah kurz zu ihrem Freund.
Gwilith streckte sofort seine Hand erwartungsvoll den drei Wachen entgegen. Etwas zögerlich händigten sie ihm die Papiere aus.
„Anscheinend hat Legolas doch mehr Einfluss als wir dachten", lachte Trîwen und zuckte mit den Schultern. Die vier Wachen sahen etwas überrascht auf.
„Oh, nicht der Legolas", erklärte die Elbin schnell und winkte ab. Vilya räusperte sich leise und nickte leicht. Sie sollte es ihnen wirklich erzählen, aber sie wusste nicht, wie sie anfangen sollte.
Gwilith zuckte mit den Brauen als er die Zeilen auf den Papieren überflog, doch hielt sich zurück.
„Aber da...", fing eine der drei Palastwachen an, doch Gwilith unterbrach sie schnell: „Ihr könnt sie mir überlassen. Ich werde sie hinbringen." Seine Stimme war so absolut, dass die drei sich schnell verbeugten und verschwanden.
„Du bist doch auch nur eine Palastwache? Oder ist es wegen dem Alter?", fragte Vilya etwas überrascht, während sie ihnen hinterher sah.
„In erster Linie bin ich eine königliche Wache. Es ist zwar nicht offiziell aber ein gewisser Respekt herrscht schon zwischen uns", erwiderte er und ließ die Papiere in seiner Manteltasche verschwinden.
„Warum führst dann du uns zu unseren Gemächern und nicht die anderen?", fragte Trîwen verwirrt.
Gwilith zögerte und sah kurz zu Vilya, der keine Ausrede einfiel.
„Ich war sowieso auf dem Weg in die Richtung", sagte er schließlich und setzte sich in Bewegung. Vilya folgte schneller als notwendig.
„Aber er wusste doch gar nicht, wo wir hingehen, bevor er nachgeschaut hat", hörte sie Trîwen hinter sich zischen.

„Was hast du gedacht als du die Papiere gelesen hast?", fragte sie, solange sie sich noch einige Schritte vor Trîwen und Talma befanden.
Er lächelte und warf ihr einen Blick zu. „Es ist nicht an mir diese Dinge zu sagen", wehrte er ab.
„Und wenn ich es dir befehle?", fragte Vilya, der es plötzlich Spaß machte ihn zu zwingen zu reden. Er würde sie nicht anlügen, das wusste sie.
Er seufzte und sah schnell, wie weit Vilyas Freunde noch entfernt waren.
„Ich hatte nur nicht gewusst, dass du beide Prinzen um deinen Finger gewickelt hast", sagte er leise. Sie lachte und schüttelte den Kopf. Er hätte es nicht gesagt, wenn er sich nicht sicher gewesen wäre, dass sie es nicht ernstnehmen würde.
„Das kann man bei Faenen wohl kaum sagen. Er hilft mir aus eigennützigen Gründen. Und das mit Legolas... ist etwas anderes", erklärte sie nachdenklich. Gwilith lächelte geheimnisvoll und nickte. „Warte, was weißt du?", fragte Vilya überrascht nach und blieb stehen.
Er sah bloß nach hinten, wo Trîwen und Talma nun aufgeholt hatten.

„Also, wann willst du uns erzählen, was du letzte Nacht getrieben hast?", fragte Trîwen, die ihren Arm locker um ihre Freundin legte.
„Ja, und mit wem", fügte Talma leise hinzu, worauf die andren lachten. Auch Gwilith lächelte, doch gab keinen Ton von sich. Er hielt sich zwei Schritte vor den drei Freunden, um sie nicht zu stören.
„Ich habe Legolas gesucht", gab Vilya schließlich zu, was immerhin nicht gelogen war.
„Warum hast du ihn nicht mitgenommen? Ich hätte ihn gerne nochmal gesehen. Er hat uns immerhin eingeladen", fragte Trîwen und schüttelte den Kopf.
„Er hatte viel zu tun. Ich weiß auch nicht, wo er gerade ist", erwiderte ihre Freundin und hoffte, dass sie es dabei belassen würde. Doch dafür war Trîwen zu neugierig.
„Hey, Gwilith, war es doch? Weißt du, wo Legolas ist? Also nicht der Prinz Legolas, sondern einfach ein Schüler mit demselben Namen."
„Ich kenne die Schüler des Palastes nicht", antwortete dieser mit starrem Blick nach vorne.
„Er hat blonde Haare und blaue Augen und ist etwa einen Kopf größer als ich", zählte sie einfach auf. Gwilith sah zu Vilya, die peinlich berührt mit den Fingern spielte.
„Tut mir leid, ich weiß nicht, wen du meinst." Damit wandte er sich wieder ab. Sie waren inzwischen im östlichen Teil des Palastes angekommen und Gwilith blieb bei einer der Türen stehen.
Er öffnete sie und ließ die drei eintreten. Trîwen und Talma fingen sofort an sich begeistert umzusehen. Es war offensichtlich, dass niemand Geringeres als ein Prinz ihnen diese Gemächer besorgt hatte.

Vilya drehte sich zu Gwilith herum, der ebenfalls eintrat und die Tür hinter sich schloss. „In mein Schlafzimmer wirst du aber nicht mitkommen, oder?", fragte sie und kniff die Augen zusammen. Sie hatte nicht vergessen, dass es ihre Aufgabe war ihm zu entwischen.
Der Elb lachte. „Nein", er machte eine Pause und seufzte, „es ist nicht nur meine Aufgabe sicherzustellen, dass du nicht den Palast verlässt, ich bin genauso für dein Leben verantwortlich."
„Warum habe ich das Gefühl, dass du nicht in die Gemächer von Legolas mitkommst, wenn du für sein Leben verantwortlich bist", brummte Vilya und verschränkte die Arme.
„Beim Prinzen muss ich auch nicht Angst haben, dass er jede Sekunde abhaut."
Sie verdrehte die Augen und wollte etwas antworten, doch Trîwen sah bereits um die Ecke.
„Vilya, du musst dir das ansehen!", rief sie aufgeregt und verschwand schon wieder.
Die Schülerin warf ihrer Leibwache noch einen Blick zu, dann folgte sie ihrer Freundin.

Die Zeit bis Sonnenuntergang verbrachten die drei hauptsächlich in ihren Gemächern. Sie wollten die Vorbereitungen nicht stören. Eine Erklärung für Gwiliths ständige Anwesenheit war Vilya noch nicht eingefallen, doch bis sie schlafen gingen, hatte sie noch einige Stunden, um sich das zu überlegen, denn dann würde er vor ihrer Tür wachestehen.
Es gab drei einzelne Schlafzimmer und in einem von ihnen stand ein Kasten mit Rüstung und Waffen passend für Vilyas Größe. Sie war die Einzige, die sie gesehen hatte und schwieg darüber. Ihre Freunde würden sie nicht gehen lassen und Gwilith erst recht nicht.

Mit jeder Stunde, die verstrich, wurde sie nervöser. Sie wusste nicht, ob es eine gute Idee war diese Nacht schon zu flüchten, doch in der nächsten konnte es bereits zu spät sein.
Zu ihrem Glück beschlossen Trîwen und Talma spontan noch eine Runde durch den Palast zu drehen, solange er noch so belebt war. Sie luden Vilya ein, doch diese wehrte ab mit der Ausrede, dass sie von der vergangenen Nacht noch so müde war.
Damit verschwand sie in ihr Zimmer und machte sich sofort daran so leise wie irgend möglich ihre Rüstung anzulegen. Sie hatte erst ein Mal eine getragen und das nur, um das Gefühl kennenzulernen. Das Metall war kalt und steif. Bei dem Gedanken daran, wie schwer und kantig die Rüstung der Menschen war, wurde ihr übel. Sie war dankbar eine Elbische zu bekommen.

Als sie das Fenster öffnete, atmete sie tief die kalte winterliche Nachtluft ein. Eine Gänsehaut schlich unter den drei Schichten von Stoff über ihre Haut. Über die Rüstung hatte sie noch einen unauffälligen Mantel gezogen, mit dem sie hergereist war.
Sie umfasste die schwarze Tasche in ihrer Hand ein wenig fester. Darin war genug Proviant für den Hin- und Rückweg, außerdem zwei Messer und ihre Zwillingsdolche, die sie, solange sie nicht kämpfen musste, lieber nicht am Rücken trug. Neben einigen Kräutern und zwei großen Beuteln mit Wasser, war das alles, was sie mithatte.
Etwas unsicher sah sie nach unten. Der Mond schien blass durch die dünne Wolkendecke. Es lag Schnee, doch wie hoch konnte Vilya nicht sagen. Es waren gut fünfzig Meter zwischen ihr und dem Boden. Das war selbst für einen Elben nicht wenig. Sie musste sich darauf verlassen, dass der Schnee sie etwas abfangen würde. Faenen hatte sich sicher etwas dabei gedacht, ihr ein Zimmer auf dieser Höhe zu geben. Tief genug, um zu springen, und hoch genug, damit keine Wache vor dem Fenster stehen musste.
Sie schloss kurz die Augen und hockte sich auf das Fensterbrett. Einige kleine Flocken flogen ihr um die Nase und schmolzen auf den Wangen. Was tat sie hier bloß?
Bevor sie länger darüber nachdenken konnte, zog sie das Fenster hinter sich zu und sprang.
Die Nacht wehte eisig kalt an ihr vorbei. Sie flog länger als sie es erwartet hatte.

Sobald sie unten aufkam, ging sie sofort in die Knie und war auf stechende Schmerzen vorbereitet. Ob sie tatsächlich vom Schnee abgefangen wurde, oder ob es die Kälte war, die ihre Schmerzen betäubte, konnte sie nicht sagen, nur dass sie sofort bereit war aufzuspringen und davon in den Wald zu rennen.

Die Nacht über saß Vilya zusammengekauert hoch oben in einem Baum. Die Arme um die Beine geschlungen und den Kopf auf ihren Knien abgelegt. Es hatte noch etwas geschneit und wenngleich ihre Kleidung sehr warm war, waren ihre Hände und Nase doch etwas kalt geworden.
Nun, da die Sonne bereits einige Stunden aufgegangen war, streckte sie sich und putzte den Schnee von sich.
Sie würde sich einige Wegstunden hinter der Armee halten, um nicht entdeckt zu werden.

Mit einem Gähnen ließ sie sich auf den Waldboden fallen und stapfte die ersten Schritte durch den kniehohen Schnee. Wenn sie sich von den Wegen fernhielt, würde das eine ziemlich anstrengende Reise werden.
„Du bist Vilya?", fragte plötzlich eine Stimme hinter ihr. Sie blieb sofort stehen und verdrehte die Augen. Sie konnte doch nicht ernsthaft so schnell erwischt worden sein.
Langsam drehte sie sich um. Es war eine Elbin, einige Jahre älter als sie, mit feuerroten Haaren und einem breiten Lächeln.
„Keine Sorge, ich will dich nicht zurückbringen. Vielmehr bin ich auch auf dem Weg zum Gundabad. Jemand hat mir gesagt, dass ich mich dir anschließen soll", sagte sie und trat näher. Unter ihrem grünen Mantel blitzte eine silberne Rüstung hervor. Faenen musste sie geschickt haben.
„Ich bin Laica", stellte sie sich vor, als Vilya immer noch nicht antwortete.
Endlich fasste die Schülerin sich und entspannte ihre Muskeln.
„Vilya, aber das weißt du ja anscheinend schon", erwiderte sie und lächelte ebenfalls leicht.
„Na, dann, lass uns gehen."

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